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E-Book

Dostojewski

AutorJulius Meier-Graefe
VerlagReese Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl459 Seiten
ISBN9783959800167
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis0,99 EUR
Alle Ideen Dostojewskis steigen aus moralischen Anlässen in die Höhen der Dichtung; nicht etwa umgekehrt aus der Dichtung in die Moral. Alle seine Hauptwerke sind Tendenzdichtung. Er hat belehren und bessern wollen. Nur ist die Lehre kein Kodex, sondern ein lebender Organismus, ein in ständiger Bewegung begriffener Instinkt, der die Formulierung fürchtet, weil sie ihn schwächen würde. Ein durchaus russischer Instinkt. Im Anfang steht nicht das von unsichtbaren Mächten geprägte Wort, sondern die Gemeinschaft mit anderen, mit dem ganzen Volke; da dieses Volk groß und von Natur mit besonderen assoziativen Organen versehen ist, mit der ganzen Welt. Die Sorge um die Gemeinschaft läßt ihn reden, ohne ihn hinauszustellen. Er erhöht sich nicht zum Vorredner der Gemeinde, sondern bleibt so tief in ihr drin, daß er nur zu sich selbst zu sprechen braucht, um zu ihr zu reden. Wenn Dostojewski Wir sagt, ist das nicht die dichterische Lizenz des Westlers, der nur sich selbst meint, sondern Bezeichnung einer greifbaren Masse. Das lebt und webt und regt sich. Der Mensch, der sündigt, ist nicht nur Sonderfall, sondern gehört dazu. Wir sündigen alle. Selbst wenn einer ganz heillos sündigt, immer ist eine Bande um ihn herum, die irgendwie mittut, mitsündigt, ihm zuruft. Der größte Sünder ist Dostojewski selbst; wenigstens übernimmt er die Verantwortung dafür. Er begreift alles und steht zu dem Sünder wie ein Älterer, der das alles früher auch einmal gemacht hat und daher gar nicht daran denken kann, es dem Jüngeren vorzuwerfen. Wir müssen Zusammenhalten, sagt er, müssen zusammen überlegen, wie wir aus der Geschichte herauskommen. Ich kann dir nicht sagen, tu es nicht, denn darauf würdest du pfeifen. Ich verstehe sogar, daß du es tun mußt, denn ich habe es auch tun müssen. Wenn du es tust, sollst du wenigstens wissen, daß ich bei dir bleibe. Nachher werden wir weiter sehen. (Julius Meier-Graefe) Fjodor M. Dostojewski, geboren am 11. 10. 1821 in Moskau, gestorben am 9. 02.

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Leseprobe

Zweites Kapitel


 

 

Nun zu der sogenannten Form. Ich theoretisiere nicht, will nur sagen, was jedem auf den ersten Blick einfällt, um eine Basis der Verständigung zu gewinnen. Die Einheit von Inhalt und Form, die wir der Darstellung wegen einen Augenblick aufgehoben haben, geht schon aus dem Umstand hervor, daß wir in unserer soeben angedeuteten Überlegung statt Moral nur Form zu setzen brauchen, um uns über das wesentlichste Moment der künstlerischen Gestaltung Dostojewskis klarzuwerden. Die Form entwickelt sich genauso wie die sittliche Tendenz. Sie richtet sich nicht nach einer bestimmt formulierbaren Doktrin, sondern entsteht spontan aus den Bedürfnissen der Materie. Diese sind vielseitig, folgen aus den ungemein komplizierten Situationen, die alle Mittel darstellender Psychologie beanspruchen, und vor allem aus dem russischen Instinkt der Gemeinschaft, der zu einer durchaus volkstümlichen, gesprochenen Prosa zwingt. Daran muß man sich gewöhnen.1 Lessing und Goethe würden sich über die Nachlässigkeit des Vortrags entsetzen. Die meisten Franzosen entsetzen sich heute noch. Als de Vogüé Ende der achtziger Jahre in einem Buch über den russischen Roman Dostojewski zum erstenmal öffentlich in Frankreich nannte, entschuldigte er sich wegen seiner Zumutung, einen so unklaren, nebelhaften Autor vorzuführen, dessen zweifelhafter Aufstieg mit dem Raskolnikow beendet gewesen sei. Von den Karamasow behauptete er, selbst nur wenige Russen hätten diese endlose Geschichte fertig gelesen. Es gibt kaum etwas, das dem gallischen Instinkt mehr entgegen wäre als Dostojewski, es sei denn der zweite Teil des Faust. In dem schönen Fragment »Njetoschka Neswanowa«, der Geschichte des Waisenmädchens, ist einmal von Erziehungsmethoden die Rede. Die sehr gütige französische Lehrerin hat die bewährte klassische Methode, alles hübsch geordnet und verteilt, nicht zuwenig, nicht zuviel, langsam aufbauend, konsequent. Alexandra Michailowna, die Adoptivmutter, will der Kleinen auf einmal alles zusammen beibringen und überschüttet sie mit Wissen wie mit Liebesgeschenken. Das Kind weiß zunächst gar nichts damit anzufangen und verwirrt sich. Die französische Lehrerin lächelt siegreich, aber man kapituliert nicht. Die neue mütterliche Lehrerin bleibt bei ihrer Ablehnung jeglichen Systems, das den Kopf mit »toten Regeln« vollstopfe, und meint, man würde nach einigen Versuchen schon ganz von selbst den rechten Weg für die Entwicklung der natürlichen Fähigkeiten der Schülerin finden. Und nach ein paar verkehrten Ansätzen wird es auch so. Das Kind und die reife Frau lernen wie zwei Freundinnen zusammen. Oft stellt sich die Ältere so, als würde sie von der Kleinen belehrt. Man nimmt andere Lehrer dazu. Jeder bringt sein ordentliches Pensum, aber das wirkliche Lernen geht erst an, wenn die Herren Magister wieder weg sind und man sich allein über die Dinge hermacht. Bei dem Geographielehrer hätte man sich mit dem ewigen Suchen der Städte und Flüsse auf den Karten fast die Augen verdorben. Nachher aber reiste man durch die märchenhaften Länder und kam um die ganze Welt. Man mußte sich neue Bücher kommen lassen. Bald konnte die Kleine den Geographielehrer belehren. Freilich behielt dieser, wie man ihm gerechterweise lassen mußte, insofern seine Überlegenheit, als er die Lage jedes Städtchens in Längen und Breiten nebst Einwohnern anzugeben wußte.

Die Methode ist, wenn es sich um westliche Bedürfnisse handelt, unpädagogisch bis zum äußersten, und die einzige vernünftige Methode für Rußland und Russen. Hier wird die Zeitverschwendung Gewinn und die Unordnung organisch. Was nützt das Wissen von den Städten und Städtchen, wenn ich nicht die Welt dazu habe? Was hilft der kristallklare Aufbau europäischer Dichtung, wenn die dunkle Vielseitigkeit der Menschheit draußen bleibt? Was die sauberen Maschen des Netzes, das der behagliche Fischer in das Gewässer taucht, wenn man mit dem Netz nicht lohnende Fische fangen kann? Dostojewski sah Lebewesen in den dunklen Fluten, die unbedingt ans Licht gebracht werden mußten, nicht nur weil sie seine Objekte waren, für seine Möglichkeiten geeignet, sondern weil es für jeden Menschen der Gegenwart größten Vorteil bringen mußte, dieses Wild kennenzulernen. Also nicht etwa ein russischer Fisch. Der Fang erschöpft sich so wenig mit einem exotischen Akzent wie das Drama Shakespeares mit dem englischen, und die Entdeckung Dostojewskis unterscheidet sich von der Dichtung, die vor ihm da war, nicht weniger als Shakespeare von der griechischen Tragödie. Die Zwischenglieder, deren sich der Brite bediente oder bedienen konnte, entsprechen ungefähr den Entwicklungsstufen, auf die sich der Russe zu stützen vermochte. Hatte Shakespeare bessere Ordnung? Man erinnere sich an alle Einwände des 18. Jahrhunderts, Vorwürfe, die mit anderem Scharfsinn formuliert, mit tieferen Gründen gestützt wurden, als die meist gedankenlosen Beschwerden unserer Zeitgenossen gegen Dostojewski, und doch im Grunde derselben Fehlerquelle entstammten. Selbst die universelle Anerkennung hindert nicht, daß sich immer wieder neue Einwände gegen den Eroberer erheben. Dostojewski selbst macht es nicht anders. Er, der bescheidenste und dankbarste aller Dichter, hat in einem seiner Aufsätze gewagt, Shakespeare Mangel an Fleiß und Geschmack vorzuwerfen. Nach seiner Meinung hätte der Schöpfer des Hamlet sein Genie noch vollkommener ausbauen können. Diese Kritik klärt uns auf. Wenn Dostojewski, der Russe ohne Form und Ordnung, bei Shakespeare von Flüchtigkeit und dergleichen redet, muß er darunter etwas anderes verstehen als z. B. Voltaire, der den Briten wegen ähnlich bezeichneter Mängel tadelte, ohne sich bekanntlich abhalten zu lassen, ihn zu bewundern und für seine eigenen Tragödien zu benutzen. Auch Dostojewski hat sich nicht abhalten lassen, und dieser Umstand entscheidet. Sein Tadel drückt nur die schöpferischen Möglichkeiten aus, die der Vorgänger dem Nachfolger übrigließ. So hat jeder Nachfolger den Vorgänger getadelt, und so macht es heute eine ganze Welt mit Dostojewski, denn wir alle, nicht nur die Begeisterten im Dachgarten, schaffen ihm nach. Jeder Schöpfer bleibt unter seiner Schöpfung. Das und nichts anderes ist seine Unsterblichkeit. Das Werk geht weiter. Der neue Gedanke steht immer schief zu der Welt; ein rohes Gerüst, das andere lockt, zu seiner Festigung heranzueilen. Je berechtigter der Tadel der mangelhaften Ordnung scheint, desto größer die Anerkennung des Reichtums, den man für eigne Tragödien zu benutzen vermag. Die Unordnung ist ungewohnter Ausdruck einer neuen Ordnung, neue, noch nicht eingeordnete Materie. Der Russe, der die Form einer neuen Menschheit brachte, forderte die ganze alte Welt heraus, daß sie sich wehre und bekehre.

Die Abwehr nimmt die Argumente, wo sie sie findet. Shakespeare galt als leichtfertiger Geselle. Dostojewski war Russe, mehr Russe als alle dichtenden Landsleute unter seinen Zeitgenossen, und wollte es noch viel mehr sein. Biographische Momente bedenklichster Art kommen dazu. Man weiß, daß ihn oft die äußerste Not zur Eile trieb. Er war Schnellschreiber. »Oft befand sich«, gesteht er selbst, »der Anfang eines Romankapitels bereits im Satz in der Druckerei, während das Ende noch in meinem Kopf saß und unbedingt bis morgen geschrieben werden mußte.«2 Es liegt nahe, aus der schnellen Niederschrift auf übereilte Konzeption zu schließen. Man kennt seine epileptischen Anfälle. Gleich wird seine ganze Literatur epileptisch.

Sie ist es möglicherweise, aber muß wohl auch noch etwas anderes sein. Sie ist Schnellschreiberei, aber greift nichtsdestoweniger in unser Inneres und läßt uns nicht los. Sie wirft ungeordnete Vorstellungen hin, streut wahllos Details aus, aber es muß wohl doch irgendeine Ordnung dahinterstecken, sonst wären wir nicht imstande, zu folgen. Wir folgen aber bis in kleinste Einzelheiten und reimen uns Ungereimtes zusammen. Folglich muß doch wohl ein System uns treiben. Ja, vermutlich hat gerade der scheinbare Widerstand gegen Systematik die uns treibende Ordnung ergeben. Es bleibt nur die Annahme übrig, daß nur auf dem Wege, den Dostojewski zu gehen sich genötigt sah, sein Werk zustande kommen konnte. Die Krankheit und viele andere mißliche Umstände, unter denen er sein ganzes Leben lang litt, die Not, die ihn bis wenige Jahre vor seinem Tode nicht verließ, alles das gehörte zu den Momenten, die ihn schöpferisch machten und seine Form bestimmten; eine höchst zeitgenössische Form, die einzige, die geeignet war, seine Geschichten uns mitzuteilen. Man muß darüber im einzelnen reden. Es kann interessant und nützlich sein. Man kann auch untersuchen, wo tatsächlich oder vermutlich Not und Krankheit die Dichtung gehindert haben, aber dies ist immer erst möglich, nachdem festgestellt wurde, wie sie ihn gefördert haben.

Wir müssen uns einen Menschen vorstellen, dem das Dasein in einer chaotischen Welt keine Qual war. Er mag das Chaos zur Kontrolle der Ordnung, die er zu gestalten suchte, immer wieder gebraucht haben. Natürlich hat er die Epilepsie gefürchtet, denn sie unterbrach die Arbeit. Immer wieder drohte der Anfall, der gewöhnlich alle vier oder sechs Wochen, oft auch häufiger kam und ihm jedesmal für mehrere Tage das Gedächtnis raubte, die Ernte zu zerstören. Er hat sich damit abgefunden, mag sogar die Anfälle geliebt haben, denn die sekundenlangen Erleuchtungen, die ihnen voran gingen, reinigten den Genius und stellten immer neue Kontakte mit dem Chaos her, aus dem die Energie das Werk ans Licht riß. Dichtung war Dostojewski keineswegs Reflex einer inneren Harmonie, noch wollte er Harmonie damit geben. Er kämpfte und suchte die Menschen zu Mitkämpfern zu machen. Die Unruhe, der andere...

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