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Drück mich mal ganz fest

Geschichte und Therapie eines wahrnehmungsgestörten Kindes

AutorMechthild R. von Scheurl-Defersdorf
VerlagVerlag Herder GmbH
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl272 Seiten
ISBN9783451810640
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Daniel ist ein ganz normales Kind - und dennoch: Beim Sprechenlernen misslingen ihm Sätze und offenbar kann er Geräusche nicht richtig zuordnen. Er hat eine Wahrnehmungsstörung und dagegen gibt es einfache, wirksame Therapien. Dieses Buch macht Mut, gegen Vorurteile anzugehen. Denn auch in Kindern mit Wahrnehmungs- und Teilleistungsstörung steckt viel. Aus Daniel ist inzwischen ein erfolgreicher junger Mann geworden.

Mechthild R. von Scheurl-Defersdorf weiß, welche Kraft in unserer Sprache enthalten ist. Denn die gebürtige Erlangerin hat das LINGVA ETERNA Sprach- und Kommunikationskonzept begründet und leitet das gleichnamige Institut in Erlangen.

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Leseprobe

Erste Fortschritte und neue Probleme





Daniel konnte die Gefahr nicht abschätzen

Die nächste Therapiestunde bei Herrn Neumeier, auf die wir uns so gefreut hatten, musste ich am Vortag absagen. Etwas Schlimmes war passiert.

Daniel war in seinem Zimmer auf die oberste Stufe der Sprossenwand geklettert und wollte über die quer davorhängende Hängematte springen. Bei uns durfte entweder in der Hängematte geschaukelt oder bei zurückgehängter Hängematte geklettert und gesprungen werden. Dabei legten die Kinder sich normalerweise die bereitstehenden Matratzenteile zurecht, die wir vom Sperrmüll haben. Sie hielten sich an diese Spielregel. Dieses Mal war Daniel allein im Zimmer. Er wollte ausprobieren, ob er über die Hängematte hinwegspringen konnte. Er hatte die Gefahr nicht erkannt und außerdem die Entfernung falsch eingeschätzt. Er blieb mit den Füßen in den Schnüren hängen und schlug zwischen herumliegenden Klötzen mit dem Hinterkopf auf den Teppichboden auf. Er schrie wie noch nie. Ihm wurde schlecht, und er konnte nicht mehr stehen. Wir brachten ihn in die Kopfklinik. Er hatte einen Schädelbruch und eine Gehirnerschütterung. Der Unfall hat sich im April ereignet.

Das bedeutete eine längere Therapiepause, wo gerade die Therapie in der Frühförderung so richtig begonnen hatte. Eine mehrwöchige Pause bedeutet nicht nur Unterbrechung, sondern auch Rückschritt. Das war ein schwerer Schlag. Es war Anfang April, also genau vier Monate nach Beginn unserer Bemühungen um Daniel. Er blieb 24 Stunden im Krankenhaus zur Beobachtung. Ich blieb die ganze Zeit bei ihm.

Danach traute ich mir die Überwachung selber zu. Die notwendigen Kenntnisse hatte ich als Schülerin im Rahmen einer Schwesternhelferausbildung erworben. Während meiner Ausbildung hatte ich in Kliniken zahlreiche Nachtwachen gemacht. So hatte ich Erfahrungen gesammelt. Zu Hause überwachte ich weitere 24 Stunden stündlich Atmung, Puls und Pupillenreaktion, insbesondere während des Schlafs. Bei Unklarheiten konnte ich jederzeit unseren Kinderarzt anrufen, das hatte er mir vor der Entlassung aus der Kopfklinik telefonisch zugesagt, oder in die nahe gelegene Klinik zurückfahren. Von der medizinischen Seite her fühlte ich mich damit sicher.

Er durfte aufstehen, wenn er sich wohl fühlte. Doch sollte ich darauf achten, dass er vor allem ruhige Spiele spielt. Denn er sollte unter keinen Umständen noch einmal auf den Hinterkopf fallen. Da er noch etwas taumelig war, war die Gefahr eines Sturzes größer als sonst. Und er fiel ohnehin häufiger hin als Gleichaltrige. Das sollte ich im Blick behalten.

Die Ärzte und auch ich waren sicher, dass er mit seinen Kopfschmerzen sicher ruhiger sein würde als sonst, wenn er sich wohl fühlt. Doch es kam anders. Daniel konnte keine Ruhe geben, auch jetzt nicht. Er war kaum zu bremsen. Ich sauste die nächsten drei Wochen hinter ihm her wie eine Henne, der ein Küken ins Meer gelaufen ist.

Einmal fuhr ich ein kurzes Stück mit dem Auto, um Daniel unnötige Erschütterungen beim Laufen oder auch beim Sitzen auf meinem Fahrradkindersitz zu ersparen. Alleine konnte ich ihn nicht einmal für fünf Minuten zu Hause lassen, daher hatte ich ihn mitgenommen. Ich holte Julia von der Flötenstunde ab, stieg aus und läutete. Währenddessen drehte Daniel das Fenster herunter und sprang mit einem Satz durch das geöffnete Fenster heraus und rannte taumelnd zu mir. Eine Bekannte, die von dem noch frischen Schädelbruch erfahren und die Szene beobachtet hatte, meinte: »Das ist ja viel zu gefährlich. Kauf ihm Baldrian.« Das wirkte dann eine knappe Stunde, und er fand endlich einmal zum Schlaf.

Mit der Zeit erholte sich Daniel von diesem Sturz. Er litt jedoch noch monatelang bei Aufregung oder stärkeren Erschütterungen unter Kopfschmerzen.

Wir sehen die Veränderungen, die zu dem Unfall führten

Wie war dieser Sturz überhaupt möglich? Erinnern wir uns an den Buben, der sich noch im November nur wenig zutraute und sich seines körperlichen Ungeschicks bewusst war. Sonst hätte er die Turnstunde im Kindergarten nicht gemieden.

Ich beschreibe Daniels Entwicklung von November 88 bis Anfang April 89. Im Dezember fand er Spaß daran, unter Anleitung Reihen von Autos und Klötzen zu legen. Er setzte Puzzles aus 25 Teilen zusammen und konnte Klötze nach Farben und Formen sortieren. Bei diesen Beschäftigungen war es unentbehrlich, dass mein Mann oder ich andauernd bei ihm blieben und ihm Mut machten und halfen, wenn er nicht zurechtkam oder seine Gedanken ihn davontrugen.

Im Dezember machte er erste Versuche, sich alleine an- und auszuziehen. Wenn er nicht zurechtkam, half ich ihm. Ich glaubte ihm jetzt, wenn er sagte: »Ich mein Trumpf nicht lein auskrug.« Ich kriege meinen Strumpf nicht alleine aus. Ich hatte immer gedacht, er wollte das Schlafengehen hinausziehen und mich ärgern, wenn er sich Abend für Abend ausziehen ließ. Manchmal hat er tagsüber seine Strümpfe ausgezogen, wenn er es nicht sollte. Und abends konnte er sie angeblich nicht ausziehen. Das hatte ich ihm nicht abgenommen. Jetzt erwartete ich von meinem viereinhalbjährigen Sohn nicht mehr, dass er sich alleine ausziehen kann, nur weil er viereinhalb war. Der Leistungsdruck schwand, und damit stieg seine Bereitschaft zur Mitarbeit. Das Verhältnis zwischen ihm und uns änderte sich wohltuend, indem wir ihn mit neuen Augen sahen und seine Äußerungen glaubten und sie ernst nahmen.

Daniel bemerkte zunehmend, dass er bei den Gleichaltrigen nicht so recht mitkam, und wurde aggressiv oder zog sich in sich zurück. Er war oft traurig oder schmollte. Er ging Situationen aus dem Weg, in denen andere seine Schwierigkeiten bemerken konnten.

Zum Beispiel war er auf dem Spielplatz erst dann zum Schaukeln zu bewegen, wenn kein Kind mehr zu sehen war. Was war ich über unsere Hängematte zu Hause froh. Ohne sie wäre er weit weniger zum Schaukeln gekommen. Auf dem Spielplatz nahm ich ihn die erste Zeit beim Schaukeln auf den Schoß, weil er sich da sicherer fühlte. So konnte er meine Schaukelbewegungen spüren und mitmachen. Später saß er alleine auf der Schaukel, und ich schubste ihn an. Mit den Beinen kam er noch nicht alleine zurecht. Aber er hatte jetzt keine Angst mehr, vom Schaukelbrett zu fallen, sobald es sich beim Schaukeln schräg neigte, und ließ sich für eine kurze Weile sogar gern schaukeln. Und wenn er keine Lust mehr hatte, stoppte ich ihn ab, oder er hörte von sich aus auf zu schaukeln. Ihm wurde schnell schlecht. Auch im Auto hatte er übrigens mit Übelkeit zu kämpfen. Schon nach wenigen Kilometern musste er sich oft schon erbrechen.

Zu den Schaukelbewegungen sprach ich oft ein einfaches Verschen. Das gleichmäßige Schaukeln und das rhythmische Sprechen ergänzen sich. Die Verbindung von Sprache und Bewegung sollte es Daniel leichter machen, ein Gefühl für den Sprachrhythmus zu entwickeln. Immer wieder sagte ich:

»Zwi zwa zwott, die Schwalben fliegen fort. Sie fliegen bis nach Afrika, im Frühling sind sie wieder da.« Wochenlang antwortete Daniel: »Pfi pfa pfott. Rakete fortfliegt. Asloch.« Manchmal war es für mich kaum auszuhalten, wie schwer ein solches scheinbar einfache Verschen für Daniel war. Andere Male war ich einfach frustriert, und es war eine Herausforderung für mich, meinen Frust für mich zu behalten.

Ich machte dann mein Verschen leichter und gab den Rhythmus auf lalala an. Das mochte Daniel aber nicht. Ihm gefiel das Verschen besser. Er war jedoch nicht in der Lage, es nachzusprechen. Eine Fundgrube an Kinderspielverschen fand ich in Susanne Stöcklin-Meiers hübsch illustriertem Buch »Eins, zwei, drei, Ritsche, Ratsche, Rei«. Auch größere Kinder finden darin noch reizvolle Verschen für das Gummihüpfen, Ballspielen usw. Diesem Büchlein entstammt auch der oben genannte Vers.

Im Verlauf der nächsten Wochen trat eine Veränderung in Daniels Verhalten ein. Bei Enttäuschungen hatte er sich bis vor Kurzem in sein Zimmer zurückgezogen. Dort hatte er sich in seinen Vorhang eingewickelt und blieb dort für ein oder gar zwei Stunden. Es war mir kaum möglich, ihn aus seiner Isolation herauszuholen. Dieses Sich-Zurückziehen war im März auf einmal vorbei. Er fraß seinen Kummer nicht mehr in sich hinein. Das war ein großer Fortschritt. Stattdessen konnte er seine Enttäuschung auch mit Worten ausdrücken. Er kam zu mir und sagte: »Ich tauig bin.« Dazu weinte er. Auch seinen Ärger konnte er auf einmal deutlicher zeigen. Wenn er wütend wurde, dann schrie er auf: »Ich ägelich bin!« Dann konnten wir zu ihm gehen und manchmal das Ärgernis beseitigen. Das gelang uns nicht immer. Heftige Wutausbrüche mit lautem Geschrei und unkontrolliertem Klötze-Werfen waren auf einmal an der Tagesordnung. Das war neu für Daniel und auch für meinen Mann, mich und Julia.

Im März lernte Daniel das Fahrradfahren. Er hatte es auf einmal heraus und war stolz und glücklich. Knöpfe konnte er auf- und zuknöpfen, und den Reißverschluss vom Anorak bekam er nun manchmal alleine zu. Bei den Schuhen gelang es ihm fast immer, den richtigen Schuh dem richtigen Fuß anzuziehen. Und mit dem An- und Ausziehen kam er auch etwas besser zurecht. Nur durfte er nicht unter Zeitdruck kommen. Dann saß er hilflos vor seinen Anziehsachen. Selbst die Aufforderung »Zieh dir bitte den Anorak und die Schuhe an. Wir gehen in einer Stunde fort. Du hast viel Zeit« brachte ihn so sehr unter Druck, dass er sich nicht alleine herrichten konnte. In diesen Wochen konnte Daniel auf einmal bis zehn zählen.

Daniels Aussprache wurde deutlicher. Er ließ immer...

Blick ins Buch

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