Aufklärung…vom Klapperstorch über die Bravo - Rebekka Weber
„Was ist nur mit Frau Theis passiert?“, flüsterten wir Nachbarskinder und sahen uns fragend an.
Wir standen im Garten, der zu den beiden Mietshäusern gehörte, in denen unsere Familien lebten und tauschten unsere Beobachtungen aus. Seit gestern mussten sich nämlich die drei Kinder der Familie Theis allein versorgen, und der Vater war gerade wieder ins Krankenhaus gefahren.
„Der Klapperstorch soll wieder zugebissen haben und jetzt hat sie ein krankes Bein“, meinte einer meiner Spielkameraden zu wissen.
Und wirklich, als die Nachbarin nach ein paar Tagen nach Hause kam, trug sie tatsächlich einen Verband um den Unterschenkel. Gleichzeitig vernahmen wir aus ihrer Wohnung im Dachgeschoss ein lautes Krähen. Ein neues Baby war angekommen!
Als ganz kleines Kind habe ich geglaubt, dass der Storch die Kinder bringt, denn das wurde uns von den Erwachsenen erzählt. Und man müsse Zucker auf die Fensterbank legen, wenn man ein Kind möchte. Damit würde man den Storch anlocken.
Ich habe viele Halbgeschwister, die allerdings schon aus dem Haus waren oder bei ihrem Vater lebten.
Nach mir hat meine Mutter keine Kinder mehr bekommen. So bin ich fast als Einzelkind aufgewachsen und konnte mir bei Geschwistern nichts „abgucken“. Allerdings war ich viel mit Nachbarskindern unterwegs und irgendwann, ganz klar, wollten wir alle wissen, worin sich Jungs und Mädchen unterscheiden.
Wir trafen uns irgendwo, wo uns die Erwachsenen nicht beobachten konnten, draußen im Wäldchen oder in einem Hausflur, ließen die Unterhosen runter und gaben uns imaginäre Spritzen in den Po. Ganz klar, dass wir dabei auch einen Blick auf den kleinen Unterschied warfen. Ich denke, dass diese „Doktorspiele“ auch heute noch verbreitet sind.
Wann fing nun die eigentliche Aufklärung bei mir an?
Ich erinnere mich noch genau an diese Zugfahrt, die uns Anfang der sechziger Jahre aus der Klingenstadt Solingen in unseren Urlaubsort am Bodensee brachte. Mein Opa und meine Mutter hatten ihren Reiseproviant bereits aus den Taschen hervorgeholt und saßen genüsslich schmausend neben mir, während ich ganz versunken in meiner Reiselektüre blätterte.
Damals war ich sechs Jahre alt, ein aufgewecktes Kind mit streichholzkurzen, hellblonden Haaren, das Bücher in kürzester Zeit verschlang. Nun hätten sicherlich „Pippi Langstrumpf“ oder „Die Kinder aus Bullerbü“ besser in meinen Rucksack gepasst, aber aus einem ganz besonderen Grund hatte meine Mutter mir mein allererstes BRAVO-Heft gekauft.
Worin bestand nun mein frühes Interesse, diese Zeitschrift zu lesen?
War ich etwa frühreif und wollte ich in diesem zarten Alter schon alles über Sex wissen? Mitnichten! Der einzige Grund, weshalb ich mich für dieses Magazin begeisterte, war ein darin veröffentlichter illustrierter Bericht über vier Jungs aus Liverpool. Und in einen von ihnen, in den hübschesten mit Namen Paul McCartney, hatte ich mich unsterblich verliebt. Meine Mutter zeigte Verständnis für meine Schwärmereien und hatte keine Einwände, dass ich so zeitig anfing, dieses Jugend-Magazin zu lesen.
Damals schon gab es in jeder Ausgabe die „berühmte“ Aufklärungsrubrik von Dr. Sommer, die mich zu jener Zeit aber überhaupt noch nicht interessierte.
Einige Jahre später – es muss Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre gewesen sein – sorgte dann in diesen Heften ein großer Aufklärungsreport für Furore: geheimnisvolle, zugeheftete lila Seiten aus extra dickem Papier, auf denen alles stand und abgebildet war, was man als junger sexinteressierter Mensch so wissen sollte. Ich erinnere mich, dass ich diese Seiten herausgetrennt und sorgfältig aufbewahrt habe. Als ich dann anfing, mich für Jungs zu interessieren – so ungefähr im Alter von zwölf Jahren – habe ich diese Seiten unter meinem Bett, wo ich sie in einer Kiste verstaut hatte, wieder hervorgeholt und alles haargenau nachgelesen.
Zur gleichen Zeit bekam ich auch das erste Mal meine Periode. Charlotte, meine umsichtige Mutter – Gott hab‘ sie selig – hatte für diesen Fall vorgesorgt und stattete mich mit allem aus, was ich während dieser „Tage“ brauchte.
Sie selbst kam aus einem sehr strengen Elternhaus, war gar nicht aufgeklärt worden und wurde mit 19 Jahren, ohne dass sie realisierte, wie das überhaupt passiert war… schwanger. Gerade zwanzig geworden, musste sie heiraten, bekam während des Krieges drei Kinder und schwor sich, dass es ihre einzige Tochter einmal besser haben sollte.
So konnte ich mit allen Fragen, die die BRAVO nicht beantwortete, zu ihr kommen und meine Mutter gab mir auch im Laufe des Lebens viele Tipps, was Liebesdinge anbetraf. Als ich einmal verkündete, dass ich nur einen größeren Mann heiraten würde, meinte sie: „Blödsinn! Die Größe ist gar nicht so wichtig, denn kleine Männer kann man höher ziehen.“ Ich gebe zu, dass ich diesen Satz damals noch nicht so richtig verstanden habe.
Mit vierzehn Jahren hatte ich auf einmal ein großes Problem: Meine Periode blieb nämlich aus. Schwanger konnte ich nicht sein, da ich weder einen Freund noch mit einem Mann geschlafen hatte. So ging ich zum ersten Mal im Leben zu einem Gynäkologen.
Nach der Untersuchung meinte der Arzt zu mir: „Es könnte daran liegen, dass du in den letzten Jahren so schnell in die Höhe geschossen bist. Deine inneren Organe sind da wohl nicht mitgekommen.“
Er überwies mich an die Uni-Klinik Düsseldorf, wo gerade die ersten Erfahrungsberichte mit der „Pille“ ausgewertet wurden. Und dieses neue Wundermittel zur Schwangerschaftsverhütung sollte ich dann auch schlucken, allerdings aufgrund einer medizinischen Indikation.
So fuhr ich im zarten Teenie-Alter viermal im Jahr mit dem Bus 25 km von Solingen in die Landeshauptstadt und hatte auf dem Rückweg jedes Mal eine kostenlose Drei-Monats-Pillen-Packung im Handgepäck. Und… meine Periode setzte nach einiger Zeit tatsächlich wieder ein. Ich sollte die Pille jedoch weiter einnehmen, damit sich mein Zyklus stabilisierte.
Das kam mir natürlich gerade recht, denn ich hatte – mittlerweile war ich fünfzehn – einen jungen Mann kennengelernt und war mir sicher, dass ich durch ihn in naher Zukunft meine „Jungfräulichkeit“ verlieren würde. Um Verhütung brauchte ich mir also keine Sorgen zu machen, denn durch die regelmäßige Pilleneinnahme war ich ja geschützt.
Inzwischen war ich 1,75 m groß, hatte meine blonden Haare auf Schulterlänge wachsen lassen und befand mich – leider – in einer reinen Mädchenschulklasse. Durch die beiden Kurzschuljahre und weil ich erst kurz vor der Einschulung sechs geworden war, gehörte ich in der Schule eigentlich immer zu den „Küken“. Und in meinem letzten Realschuljahr hatte ich nun Mitschülerinnen, die ein- oder zweimal sitzengeblieben und ein oder sogar zwei Jahre älter als ich waren. Diese prahlten ganz schön mit ihren sexuellen Erfahrungen, erzählten von ihren Erlebnissen auf und nach den Klassenfétén und schauten mitleidig auf mich, die „noch unschuldige Kleine“ herab. Ich gebe zu, dass ich ein wenig neidisch auf sie war.
Bald schon sollte sich jedoch etwas Bedeutendes in meinem Leben ändern…
Da ich mich immer sehr für Musik interessiert hatte, nahm mich mein vier-Jahre-älterer Cousin eines Tages mit ins „Haus der Jugend“, wo jeden Samstag von 17:00 bis 21:00 Disco für Jugendliche stattfand. Meine Mutter erlaubte mir, dorthin zugehen, allerdings unter der Bedingung, dass ich den letzten Bus um 21:15 nach Hause nahm, was ich auch immer brav tat. Anfangs tanzte ich mit meinem Cousin, hatte aber bald Kontakt zu anderen jungen Leuten. So geriet ich mit der Zeit in eine nette Clique, die außer den Discobesuchen auch ab und zu etwas unternahm, z.B. wandern ging oder Musikkonzerte in der näheren Umgebung besuchte.
Unter ihnen war ein sympathischer Kerl, namens Richie, der zufälligerweise im gleichen Stadtteil wie ich wohnte. Er war 22 Jahre jung, schlank, 1,80 m groß, wohnte zwar noch bei seinen Eltern, war aber schon seit einigen Jahren berufstätig und fuhr sein eigenes Auto. Einen roten Opel-Kadett!
Mit der Zeit ergab es sich, dass ich nicht nur in der Disco immer öfters mit Richie tanzte und dabei die ersten Disco-Fox-Schritte erlernte, sondern auch, dass er mich immer häufiger mit seinem Auto abholte oder heimbrachte, wenn wir zusammen mit der Clique etwas unternahmen.
Beim Abschied küsste ich meinen Chauffeur jedes Mal brav auf die Wange und umarmte ihn kurz. Mit der Zeit dauerte es jedoch immer länger, bis ich mich von Richie lösen und aus dem Auto aussteigen konnte.
Ich hatte mich ernsthaft in ihn verliebt! Seine ruhige und männliche Art gefiel mir sehr und Paul McCartneys Bild war längst völlig verblasst.
Eines Tages fragte Richie mich: „Geh‘n wir eigentlich zusammen?“
„Gerne“, antwortete ich überglücklich. „Wenn ich dir nicht zu jung bin?“
„Nee, nee“, grinste Richie, „geht...