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E-Book

Du verreckst schon nicht!

Wie mich meine Mutter in die Kriminalität und Prostitution trieb

AutorJana Koch-Krawczak
Verlagmvg Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl208 Seiten
ISBN9783864153198
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Mit 12 Jahren begeht Jana ihren ersten Selbstmordversuch. Ihre Eltern sind Alkoholiker und haben für ihre Tochter nichts übrig außer Beschimpfungen, Schlägen und Tritten. Oft muss sie nachts vor der Wohnung auf der Fußmatte schlafen wie ein Hund. Jana schließt sich einer kriminellen Jugendgang an und liefert das erbeutete Diebesgut regelmäßig bei der Mutter ab, deren Respekt sie sich so zu erkämpfen versucht. Aus Sehnsucht nach Liebe beginnt Jana mit 15 ein Verhältnis mit einem Mann, der ihr Vertrauen missbraucht und sie an einen befreundeten Bordellbetreiber vermittelt. Weiterhin liefert sie einen Großteil ihrer Einnahmen bei der Mutter ab, die ihr mit der Polizei droht, wenn das Geld ausbleiben sollte. Als sie ihr Leben nur noch im Alkohol- und Drogenrausch ertragen kann und sich immer weiter auf den Abgrund zubewegt, trifft sie eine folgenschwere Entscheidung. Es hat Jahre gedauert, bis Jana die Kraft fand, ihr Trauma zu überwinden und anderen von ihrem Leben zu erzählen. Dieses Buch ist der erschütternde Schicksalsbericht eines Kindes auf der verzweifelten Suche nach Liebe.

Jana Koch-Krawczak wurde im Jahr 1978 in Nordpolen geboren und flüchtete nach Jahren der Misshandlung als 16-Jährige nach Deutschland. Heute ist sie glücklich verheiratet, sozial engagiert und teilt mit ihrer 16-jährigen Tochter die große Leidenschaft zum Volleyball. Sie lebt mit ihrer Familie in Süddeutschland.

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Leseprobe

2. Kapitel

Behütet – Unter den Fittichen meines Schutzengels


»Schlaf schön, Januschka«, sagte meine Oma sanft, löschte das Licht und schloss die Schlafzimmertür. Ich kuschelte mich noch ein wenig tiefer in die frisch duftende Bettwäsche und stellte mir vor, wie Oma es sich jetzt im Wohnzimmer in ihrem gemütlichen Lieblingssessel mit den Armlehnen bequem machen und noch ein Weilchen lesen würde. Am Ende eines langen Tages lehnte sie gern ihren Kopf mit dem stets adretten Haarknoten in den Sessel zurück, schlug ein Buch auf und ließ sich von der Geschichte darin in eine andere Welt entführen. Das war in Ordnung für mich, solange sie nur nicht wirklich wegging, sondern in meiner Nähe blieb. Daher mochte ich es auch am liebsten, wenn sie mit mir zusammen schlafen ging und sich – dicht neben mir liegend – in ihre Bettlektüre vertiefte. Denn eines stand für mich fest: Wenn Oma bei mir war, konnte mir nichts passieren! Bei ihr fühlte ich mich sicher und beschützt wie ein Vögelchen in seinem Nest.

Nach den angsterfüllten Jahren bei meinen Eltern konnte ich von Großmutters liebevoller Fürsorge gar nicht genug bekommen. Es war einfach himmlisch, wenn sie mich in ihre Arme nahm und an sich drückte, mir zärtlich übers Haar strich oder mir einen Gutenachtkuss auf die Stirn gab. Und wenn ich morgens aufwachte, begrüßte sie mich mit einem freundlichen Lächeln. Welch ein schöner Start in den Tag! Ihre sanfte Stimme passte wunderbar zu ihrem warmherzigen Charakter. Nicht ein einziges Mal habe ich meine Großmutter schreien hören. Sie war ein durch und durch friedfertiger Mensch, der jegliche Art von Gewalt verabscheute. Nie im Leben wäre es ihr in den Sinn gekommen, mich zu schlagen. Als ehemalige Polnischlehrerin liebte sie nicht nur die Literatur, sie glaubte auch an die Kraft des Wortes. Ihr offener, verständnisvoller Blick aus den aufmerksamen blauen Augen weckte in mir stets das wärmende Gefühl des Vertrauens. Meine Oma zeigte mir, was eine richtige Familie ausmacht: füreinander da zu sein, miteinander Zeit zu verbringen und sich für die Gedanken und Empfindungen des anderen zu interessieren. Im Gegensatz zu meinen Eltern wollte Großmutter mich um sich haben. Ja, es machte ihr ganz offensichtlich Freude, dass ich bei ihr lebte. Das war eine völlig neue Erfahrung für mich! Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich nicht wie das fünfte Rad am Wagen. Ich fühlte mich vielmehr wie ein sorgsam gehüteter Talisman, den man immer bei sich trägt. Großmutter nahm mich überallhin mit, zum Einkaufen, zur Post, in die Apotheke. Bis auf die Zeit in der Schule waren wir zwei von morgens bis abends zusammen. Und ihr braver Schäferhund Aro war stets mit von der Partie. Er hatte nichts von einem scharfen Wachhund, sondern war sehr lieb und anhänglich. Aro muss instinktiv gespürt haben, dass ich Tiere mochte, denn er suchte immer meine Nähe, ließ sich von mir den Rücken kraulen oder machte es sich zu meinen Füßen bequem. Wenn er draußen warten musste, während Oma und ich die Einkäufe erledigten, wedelte er bei unserer Rückkehr so freudig mit dem Schwanz, als hätte er uns tagelang nicht gesehen. Schon bald waren wir drei einfach unzertrennlich.

Wie sehr ich doch unsere ausgedehnten Waldspaziergänge mit Aro liebte. Jetzt waren Spaziergänge nichts Furchteinflößendes mehr, stattdessen unterhielten Oma und ich uns stundenlang. Was auch immer mir gerade auf dem Herzen lag – Angst vor einer Schulprüfung oder Streit mit einer Freundin –, ihr konnte ich mich anvertrauen. Sie hatte jederzeit ein offenes Ohr für mich, hörte mir aufmerksam zu und wusste stets einen Rat. War ich bedrückt, gab sie mir so manches Mal eine ihrer Lebensweisheiten mit auf den Weg, auf die sie selbst vertraute: »Man darf niemals aufgeben. Auf Regen folgt Sonnenschein« oder »Die Familie und gute Freunde sind der größte Schatz im Leben«. Erzählte ich von einer guten Leistung in der Schule, bekam ich von ihr sogleich ein dickes Lob. Wie gut mir diese Anerkennung tat, nachdem ich von meinen Eltern nur beschimpft worden war! Allmählich gewann ich mehr und mehr Selbstvertrauen. Schließlich war ich mir sogar sicher, gar nicht so dumm zu sein, wie meine Mutter mir immer einzureden versucht hatte. Ich konnte zum Beispiel nicht nur gute Geschichten schreiben, sondern hatte auch eine schöne Stimme, sodass ich in den Schulchor aufgenommen wurde. Und was ich noch nicht wusste oder konnte, würde ich mit der Zeit schon noch lernen. Mit Großmutter an meiner Seite schien mir kein Weg zu weit. Mit ihr wäre ich bis ans Ende der Welt gegangen. Sie gab mir Kraft und Zuversicht. Sie war einfach alles für mich: meine Oma, meine Mutter und meine beste Freundin. Ich liebte sie mit jeder Faser meines Herzens und wünschte mir nichts sehnlicher, als dass wir beide immer zusammenbleiben würden.

Großmutter wiederum tat alles in ihrer Macht Stehende, damit es mir an nichts fehlte. Bei Wind und Wetter stand sie morgens um fünf Uhr auf, um mir frische Milch fürs Frühstück zu besorgen. »Ohne ein gutes Frühstück kannst du nicht richtig lernen!«, sagte sie mit Nachdruck. Vorbei waren die tristen Tage, an denen ich mir morgens mutterseelenallein in der Küche ein Butterbrot schmieren musste, weil meine Eltern nebenan noch ihren Rausch ausschliefen. Oma hätte mich nie und nimmer mit leerem Magen zur Schule gehen lassen. Auch saubere, frisch gebügelte Sachen lagen stets für mich bereit, sodass ich nach dem Waschen nur noch hineinzuschlüpfen brauchte. Da Großmutter Mitglied der Kommunistischen Partei war, bekam sie sehr viele Zuschüsse, sodass es uns weder an Essen noch an Kleidung mangelte. Fleisch, Wurst, Obst, sogar Schokolade – bei ihr war es fast wie im Schlaraffenland. Es ging uns so gut, dass selbst Aro ein paar Pfund zu viel auf den Rippen hatte. Einmal bekam ich sogar Schuhe aus Deutschland, was damals einer kleinen Sensation glich. In der Schule erntete ich für meine schicken Schuhe viele bewundernde Blicke – auch von den Klassenkameraden, die mich früher wegen meiner zerrissenen Schulhefte immer gehänselt hatten.

Wenn ich aus der Schule kam, duftete es in der Wohnung nach frisch gekochtem Essen. Oma war eine ausgezeichnete Köchin. Nicht nur ihr zartes Gulasch mit Kartoffelklößen schmeckte einfach köstlich! Sie war zudem eine leidenschaftliche Beeren- und Pilzsammlerin, und hin und wieder unternahmen wir mit der gesamten Hausgemeinschaft einen Ausflug in ein nahegelegenes Waldstück, um dort Heidelbeeren oder Pfifferlinge zu suchen. Schon auf der Heimfahrt freute ich mich jedes Mal auf Omas wunderbare selbst gebackene Heidelbeerplunder, deren fruchtig-süßen Duft ich so sehr liebte. Wie ein unsichtbares Band schlängelte sich das verführerische Aroma durch sämtliche Räume und verwandelte die ganze Wohnung in eine Backstube. Ungeduldig auf den Zehen wippend, konnte ich es kaum erwarten, dass Großmutter die kleinen Köstlichkeiten endlich aus dem Backofen nahm, um sie mir weich und warm auf der Zunge zergehen zu lassen.

Auch Großmutter selbst war nicht gerade eine Kostverächterin, was man ihr auf den ersten Blick ansah. Ich liebte ­meine rundliche Oma, denn genau so hatte meiner Vorstellung nach eine richtige Oma zu sein, damit man sich gemütlich an sie kuscheln konnte. Doch die größte Freude bereitete es ihr, wenn es anderen schmeckte und sie damit Gutes tun konnte. Aus Furcht, dass möglicherweise nicht alle satt werden könnten, fielen die Portionen bei ihr immer riesig aus, und so war auch für eine gebrechliche Nachbarin gesorgt, die Tag für Tag zu den Mahlzeiten zu uns kam. Da die alte Dame sich nicht mehr selbst versorgen konnte, hatte Großmutter sich ihrer angenommen und kümmerte sich bis zu ihrem Tod rührend um sie. Ihr gütiges Herz gestattete ihr einfach nicht wegzuschauen, wenn ein Mensch Hilfe brauchte. Auch andere alleinstehende ältere Damen aus der Nachbarschaft lud sie regelmäßig zu einem gemütlichen Nachmittag bei Kaffee und Kuchen ein. »Deine Oma ist ein wahres Vorbild!«, sagte eine dieser Damen einmal zu mir. »Von früh bis spät auf den Beinen und immer für andere da. Wirklich bewundernswert!«

Trotz ihres sanften Wesens war meine Oma eine richtige Power­frau. Sie gönnte sich keine Ruhe, ehe alle Aufgaben des Tages erledigt waren. Schon in jungen Jahren hatte sie viel gearbeitet und als berufstätige Frau zwei Töchter großgezogen und den Haushalt erledigt. An meinen Großvater, einen Mathematiklehrer, habe ich zwar kaum Erinnerungen – er starb, als ich drei Jahre alt war –, doch wie die meisten Männer seiner Generation war wahrscheinlich auch er seiner Frau im Haushalt keine Hilfe gewesen, sodass meine Großmutter die Doppelbelastung von Familie und Beruf wohl allein tragen musste. Und dennoch ließen ihr Fleiß und ihr Tatendrang im Alter nicht nach. Wenn ich meine Oma von morgens bis abends werkeln sah, konnte ich es noch weniger fassen, dass meine Mutter den lieben langen Tag zu Hause auf der faulen Haut lag. Im Gegensatz zu dem Drunter und Drüber bei meinen Eltern war Omas Wohnung immer tadellos aufgeräumt. Am besten gefiel mir jedoch die liebevolle, gemütliche Einrichtung. An den Wänden hingen Familienfotos, die jede Woche sorgfältig abgestaubt wurden. Und die eigens von einem Schreiner angefertigten Wohnzimmermöbel sorgten für eine behagliche Atmosphäre. Großmutter besaß außerdem mehrere schöne alte Uhren, die Tag und Nacht leise vor sich hin tickten. Ihr gleichmäßiger Rhythmus hatte eine wunderbar beruhigende Wirkung auf mich. Und er passte herrlich zu der friedlichen Stimmung, die von meiner Oma ausging und sich wie von Zauberhand auf die ganze Wohnung zu übertragen schien. Noch heute schlafe ich...

Blick ins Buch

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