Die Linie 152 – Busfahrt mit einem Gespenst
» Du fährst nach La Boca?«, fragt meine Freundin am Telefon. Es klingt, als wäre das ein Kriegsgebiet und kein Stadtteil von Buenos Aires.
Es ist Dienstagnachmittag und ich stehe an einer Bushaltestelle in Olivos, einem Vorstadtviertel im Norden der argentinischen Hauptstadt. Zur Stadt Buenos Aires gehört es nicht direkt, sondern zu Vicente López, einem Distrikt im Ballungsraum der Metropole. Doch die Übergänge sind fließend, Vicente López wirkt wie ein Vorort der argentinischen Hauptstadt. Autos rollen durch einspurige Straßen, vorbei an Vorgärten mit Blumenbeeten und Rasen, der nur so kurz bleibt, wenn man ihn zweimal die Woche schneidet. Familienwagen parken neben dem Gehsteig, darüber blühen die ersten kleinen Blüten der Zedrachbäume. Auf Spanisch heißen sie árboles de paraíso, Paradiesbäume. Jedes Jahr gibt es eine Woche, in der sich ihr Duft über die Hauptstadt und ihre Umgebung legt, als habe ganz Buenos Aires in Parfüm gebadet. Es riecht nach Sommeranfang, nach Ferien und frischer Liebe, aber dann kommen Wind oder Regen, die Blüten werden weggeweht oder weggewaschen, und Buenos Aires riecht wieder so wie immer: nach Abgasen, Stau und Millionen von Menschen.
Buenos Aires heißt übersetzt so viel wie Gute Lüfte, was aber leider nicht bedeutet, dass man in dem Millionenmoloch besonders befreit atmen kann. Als die Spanier 1536 die erste Siedlung am Ufer des Río de la Plata gründeten, gaben sie ihr den Namen Puerto de Nuestra Señora del Buen Ayre: Hafen Unserer Jungfrau der Guten Luft. Es ist heute nicht ganz klar, ob sie das aus Dank dafür taten, dass gute Winde sie bis an die argentinische Küste geweht hatten, oder in der Hoffnung darauf, dass die Schutzheilige der Guten Lüfte die neu gegründete Stadt vor Krankheiten schützen würde. Damals glaubte man, diese würden durch schlechte Lüfte übertragen. Sicher ist: Die Luft in Buenos Aires ist weit entfernt davon, gut zu sein. Dafür gibt es zu viele Autos, Fabriken und Müllhalden. Die Straßen riechen nach Abgasen und Abfall, und im Sommer dampfen auf den Gehsteigen die Hundehaufen wie Buletten in der Pfanne. Manchmal schafft es eine Brise vom Fluss durch die Hochhausfront bis in die Stadt, doch dann müffelt es meistens auch nur faulig und nach Brackwasser.
Neben mir an der Bushaltestelle steht eine alte Dame. Sie trägt eine kleine Brille, ihr Körper sieht aus wie der einer alten Henne: breite Brust und dünne Beine. Ein paar Meter weiter tippen zwei Mädchen gelangweilt auf ihren Smartphones herum. Ihre langen Haare glänzen wie in der Werbung für teures Shampoo, beide tragen Segelschuhe, Schottenröcke und grüne Polohemden mit dem Wappen einer Privatschule. Potenzielle Bedrohungen sehen anders aus, zumindest in Buenos Aires.
Auf Satellitenbildern wirkt Buenos Aires wie ein grauer Fleck aus Zement und Beton. Im Norden und Osten schmiegt er sich eng an die Ufer des Río de la Plata, im Süden und Westen franst er aus in die grüne Monotonie der Pampa. Von Ausnahmen abgesehen, findet man die wohlhabenden Viertel und reichen Vororte vor allem im Norden der Hauptstadt. Hier liegt auch Olivos mit seinen schicken Villen und gepflegten Einfamilienhäusern, Tennis- und Yachtclubs, noblen Restaurants und Privatschulen. In der südlichen Hälfte von Buenos Aires liegen dagegen die Arbeiter- und Armenviertel, unter ihnen auch La Boca.
Das Viertel gehört zu Buenos Aires wie die Bronx zu New York, früher wohnten hier die Hafenarbeiter in Mietskasernen und selbst gezimmerten Häuschen. Wenn in den Schiffswerften etwas Farbe übrig blieb, strichen sie mit ihr die Bretter und das Wellblech an: gelb, grün, blau, rot, wie bunte Holzklötzchen, weil das Leben schon farblos genug war. Die letzten Überreste dieser Tradition kann man in El Caminito sehen, einer kleinen Gasse, durch die jeden Tag Tausende Touristen geschleust werden. Sie machen Fotos von den bunten Häusern, essen Steaks und sehen den Tangotänzern zu, die sich gegenseitig über das Kopfsteinpflaster schieben, in der Hoffnung, dass ihnen jemand ein bisschen Kleingeld in den Hut wirft. Daneben ist La Boca berühmt für La Bombonera, das Stadion der Boca Juniors, Argentiniens bekanntestem Fußballverein, und für los choros, die Diebe, die immer wieder verirrte Touristen rund um El Caminito und La Bombonera ausrauben.
Jeder Reiseführer warnt ausländische Besucher davor, die nähere Umgebung der beiden Sehenswürdigkeiten zu verlassen. »Unsicheres Gebiet«, steht in den Stadtplänen für Touristen. Hic sunt dragones: Vorsicht, Drachen.
So schlimm ist es in La Boca natürlich nicht. Ich habe Freunde, die in dem Viertel wohnen, und es gibt bei Weitem unsicherere Zonen in der Stadt. Trotzdem: La Boca hat nicht gerade den besten Ruf, auch nicht bei den Einwohnern von Buenos Aires. Und dieser Ansicht ist auch meine Freundin.
Lucia und ich haben uns am Ende meines Auslandssemesters kennengelernt, in einem Bus in den Anden im Norden von Argentinien. Nach drei Stunden Fahrt und dreihundert Kurven waren wir ineinander verknallt und nach ein paar Tagen ein Paar, doch dann musste ich weiter nach Lima und sie zurück nach Buenos Aires. Lucia ist dort in einem Mittelklasseviertel aufgewachsen, sie ist porteña, wie die Einwohner von Buenos Aires sich nennen, und das in mindestens dritter Generation. Im Moment allerdings ist das ziemlich egal, denn gerade ist Lucia vor allem eins: besorgt. Um mich.
La inseguridad, die Unsicherheit, ist neben der desolaten wirtschaftlichen Lage Argentiniens das Thema, das die porteños am meisten beschäftigt. Egal ob auf Partys, beim Friseur oder im Wartezimmer beim Arzt: Ständig erzählt einem irgendjemand von Überfällen oder Einbrüchen. Die großen Zeitungen haben neben dem Politik-, Wirtschafts- und Sportteil auch ein paar Seiten, auf denen es nur um Diebstähle und Polizeiberichte geht. Am schlimmsten aber sind die Nachrichtensender, die in den meisten Cafés und Restaurants im Dauerbetrieb laufen: Sie berichten rund um die Uhr über Mord und Totschlag, am besten live vor Ort und am liebsten schon dann, wenn das Blut noch nicht getrocknet ist. All das gibt einem das Gefühl, ständig in Gefahr zu schweben und verfolgt zu werden. Irgendjemand lauert hinter einem, doch wenn man sich umdreht, dann ist da niemand – und man fühlt sich unsicherer als zuvor.
Wie schlimm die Situation wirklich ist, lässt sich schwer sagen. Auf der einen Seite ist die Mordrate in Argentinien eine der niedrigsten von ganz Lateinamerika, auf der anderen Seite soll es auf dem Kontinent nirgendwo so viele Überfälle geben wie hier. Die Eltern meiner Freundin ersetzen längst nicht mehr das Radio in ihrem Auto, weil es ja ohnehin nach ein paar Wochen wieder geklaut würde. Unter den Tischen der Cafés in Buenos Aires gibt es Haken, um die Handtasche anzuketten, und die meisten meiner Freunde wurden schon überfallen und ausgeraubt, genauso wie ich selbst auch.
Damals war ich auf dem Weg zurück vom Zentrum nach Hause. Um kurz nach zwölf Uhr mittags durchquerte ich einen Park vor dem Hauptbahnhof, als plötzlich ein Mann mit Baseballkappe neben mir stand. Er sprach zwar undeutlich, aber irgendwie war klar, was er wollte, schließlich hatte er ja ein Jagdmesser in der Hand. Alles ging ganz schnell, völlig unspektakulär, ohne Schreie, ohne Hektik. Am Ende hatte ich etwa vierzig Euro verloren, meinen Ausweis und mein Urvertrauen, dass schon immer alles gut gehen würde. In den nächsten Monaten wechselte ich die Straßenseite, wenn mir jemand entgegenkam, der irgendwie nach choro aussah, nach Dieb und potenzieller Gefahr. Ich machte Umwege und ich begann, mich umzudrehen, ungewollt und unbewusst, als ob da ein Gespenst in meinem Rücken lauern würde: la inseguridad. Die Unsicherheit.
»Sei bitte vorsichtig, ja?«, sagt meine Freundin am Telefon. »Bei deinem Gringo-Gesicht erkennen die choros doch sofort, dass du ein Ausländer bist. Und überhaupt: Was willst du eigentlich in La Boca?«
»Schwer zu erklären«, sage ich. »Eigentlich nur aussteigen.«
Buenos Aires hat so viele Buslinien, dass es einen taschenbuchdicken Fahrplan braucht, um sie alle aufzulisten. Die porteños nennen die Busse colectivos, wahrscheinlich gibt es in der Stadt mehrere Tausend von ihnen, sie röhren vierundzwanzig Stunden pro Tag und sieben Tage die Woche durch die Straßen, auf über dreihundert verschiedenen Linien und Unterlinien. Wenn Paris die Stadt der Métro ist und London die Stadt der roten Doppeldecker, dann ist Buenos Aires die der colectivos. Die Busse sind das meistgenutzte, aber auch meistgehasste Verkehrsmittel der Stadt. Sie sind laut, unbequem und haben zwar theoretisch einen Fahrplan, an den sie sich jedoch nicht halten. Aber sie fahren an jeder Ecke und haben hochsubventionierte Billigpreise. Ein Großteil der Einwohner von Buenos Aires verbringt mehr Zeit in colectivos als am eigenen Esstisch. Hier lästern sie mit der besten Freundin oder telefonieren mit den Eltern, hier lernen sie für die Uni, sie schlafen, streiten oder flirten. Colectivos sind wie ein Ausflug in die Wohnzimmer der porteños, und will man dabei die Anwälte genauso sehen wie die Arbeiter, nimmt man am besten die Linie 152: Sie fährt einmal quer durch die Stadt bis ins nahe Umland, fünfundzwanzig Kilometer, vom Norden bis in den Süden, von reich bis arm, von Olivos bis nach La Boca.
Der Terminal der Linie 152 in Olivos ist ein blau-weiß gestrichener Hinterhof mit integrierter Tankstelle. Auf einer Bank sitzen...