Gegen fünf Uhr nachmittags erreichte ich die Playa de Laida. Der Parkplatz oberhalb des Strandes war voller Autos und Stimmen. Am Geländer standen Grüppchen von Leuten, die in die Ría de Guernica hinunterschauten, diese fjordähnliche Mischung aus Flussmündung und Meeresbucht. Der Strand war eine große Sandbank, die schön geschwungen im Wasser lag und beinahe bis zur anderen Seite der Ría reichte. Auf der Treppe zum Strand herrschte Betrieb, ebenso auf dem Strand. Klar, es war Sonntag, die Sonne schien, und es war warm a las cinco de la tarde, am Nachmittag um fünf Uhr.
Ich ging zur Bar am Parkplatz und prallte gegen eine Schallwand. Mir schlug ein Lärm entgegen, der mir die Sprache nahm. Die aufgekratzten Stimmen, das Zischen und Heulen der Kaffeemaschine und die abgehackte Musik vermischten sich zu einer amorphen Klangmasse und hoben mich auf eine Wolke, auf der ich über dem Abfall am Boden hinüber zum Tresen schwebte. Meine Stimmbänder weigerten sich, der spanischen Gepflogenheit zu folgen, umso mehr zu schreien, je lauter die anderen waren. Lautlos, doch mit deutlichen Lippenbewegungen bestellte ich einen Kaffee. Als ich ihn bekommen und bezahlt hatte, suchte ich das Weite. Draußen auf dem Bürgersteig zwischen dem parkenden Blech und dem Geländer zur Ría wurde gerade ein Tisch frei. Ich lehnte mich im Stuhl zurück und blickte über das Wasser auf das Ufer gegenüber, die dunkelgrünen Wälder, die hellgrünen Wiesen, auf die alten, robusten baskischen Steinhäuser und die weniger schönen Neubauten und auf die Leute unten am gelben Strand von Laida. Einige drehten eine Runde am Rand der Sandbank entlang, andere spielten Strandtennis, die meisten gingen ganz im Glück der horizontalen Untätigkeit auf. Was man so macht am Strand. Der Blick von meinem ›Balkon‹ über der Ría entspannte, und die Brise verwehte die Worte und das Rauschen der Motoren und Reifen. Doch dann fuhr ein Möchtegernsportwagen vor und blieb auf dem Fahrstreifen des Parkplatzes stehen, der Fahrer, ein chulo-Typ mit fettglattem schwarzen Haar und tätowiertem Arm, ließ Motor und Anlage laufen und verschwand in der Bar. Breiter, großmäuliger spanischer chulo-Rock strömte über den Platz und schwappte in die Ría, und niemand protestierte.
Wieder suchte ich das Weite. Eigentlich suchte ich Ruhe, Stille, Einsamkeit, pure Natur. Das gab es sonntags wohl nicht. Zumindest nicht bei schönem Wetter an der Küste. Ich ging zu dem Bootsverleih, der ganz in der Nähe an einer Seitenbucht der Ría lag. Er nannte sich wie der Naturpark, der die Ría umschloss: Urdaibai. Es handelte sich um eine Abenteuersportfirma, die nicht nur Kajakkurse und Gruppenfahrten in der Ría veranstaltete, sondern auch Kanutouren vor den spanischen Küsten sowie Wildwasserfahrten auf Flüssen der Pyrenäen, der Alpen, des Atlas, des Himalaya und Patagoniens organisierte. Ich wollte wissen, ob sie ein Boot samt Ausrüstung auch Einzelgängern wie mir überließen, um die Ría, die Küste vor der Mündung und die Insel Ízaro auf eigene Faust zu erkunden. Der Chef war nicht da, erst morgen würde er wieder auftauchen, seine junge Helferin konnte sich aber vorstellen, dass ich mit meinem Anliegen auf offene Ohren stieße. Ich bat sie um einen Tipp zum Übernachten, ihr fiel ein Hotel ein, ganz in der Nähe, oben auf dem Berg, und sie suchte die Telefonnummer heraus und rief an, um sich zu vergewissern, dass es auch geöffnet war. Und sie beschrieb mir den Weg.
Das Hotel war nicht klein, aber auch nicht zu groß, neu, aber im alten baskischen Stil gehalten, Alpenhäusern nicht unähnlich. Autos standen nicht davor, Gäste sah ich nicht. Die Küche sei leider geschlossen, sagte die Rezeptionistin, sie sei allein, doch könne sie mir Pizza oder Lasagne in der Mikrowelle warm machen. Es schmeckte scheußlich. Ich ging hinaus in den Garten, schlenderte über die Wege, blieb am Hang zur Ría stehen und blickte auf die Mündung und aufs Meer und die Insel Ízaro, die wie eine längs halbierte Reuse auf dem ruhigen Wasser lag. Im Westen leuchtete der Himmel noch stahlblau an diesem langen Juniabend, die Sonne stand noch auf ein paar Wolken über den Bergen und färbte sie rosa, Bermeo hatte die Lichter seines Hafens angedreht, hinter dem Städtchen lag die Küstenlinie bereits im Dunkeln und dachte an morgen, und Ízaro schlief schon fest und träumte von Fischen.
ARKAITZ
Der frische Morgen eines schönen Schöpfungstages. Die Welt war neu und unbewohnt, nichts bewegte sich, kein Laut ließ sich vernehmen. Die Zeit war gerade erst erfunden. Der Schöpfer hatte Nachtschicht geschoben und der Sandbank Kinder gemacht. Sie sah verändert aus, vielleicht lag sie nur anders in der Mündung. In ihrem Schutz räkelten sich die Kleinen im Wasser. Eine gelbe Bärin mit ihren Jungen, ein sandgelbes Gewusel vor der grünen Höhle der Ría. Der Río Oca, baskisch Oka, schlängelte sich an ihnen vorbei. Die Ría war jetzt ein Flusstal, nicht länger Meeresbucht. Es herrschte Ebbe. Und dann ging der erste Mensch über den Sand und ließ seinen Hund von der Leine.
Ich fuhr zu Urdaibai. Arkaitz, der Bootsverleiher, war ein sympathischer Zeitgenosse. Er sprach leise und ohne seine Worte mit schmucken Gesten auszumalen oder mit protziger Körperlichkeit zu untermauern. Seine unaufdringliche Erscheinung und zurückhaltende Art legten nicht unbedingt die Vermutung nahe, er sei großer sportlicher Leistungen fähig und willens. Doch der Baske hatte im Seekajak die Iberische Halbinsel umrundet, zusammen mit ein paar anderen Paddelprofis für die Sendereihe »Am Rande des Unmöglichen« (»Al filo de lo imposible«) des spanischen Fernsehens (TVE). Fünfundneunzig Tage waren sie unterwegs gewesen, von April bis Juli, von Katalonien bis zum Baskenland. Man könne den Minikontinent auch in der entgegengesetzten Richtung umrunden, meinte Arkaitz, weil die Winde wechselten, in der Straße von Gibraltar unter Umständen täglich. Man solle es jedoch vor August hinter sich bringen, da an der nordspanischen Küste sich bereits im Hochsommer Unwetter bilden könnten, mit Sturm und hohem Wellengang, besonders vor Galicien. Mal hatten Arkaitz und Genossen nur vier Seemeilen am Tag geschafft, mal achtunddreißig gemacht, je nach Wetterverhältnissen. Und ihr Gepäck hatten sie selbst im Boot befördert, nicht vom Begleitfahrzeug des Fernsehens transportieren lassen.
Ich wurde ganz kleinlaut und bescheiden, sagte, dass ich bloß ein wenig in der Ría planschen und eine kurze Kaffeefahrt nach Ízaro machen wolle. »Kein Problem«, meinte Arkaitz und klickte im Internet die Wettervorhersage an. Das Wetter sollte in den nächsten Tagen stabil bleiben. Bis Mittwoch waren Sonnenschein und ab Mittag etwas Wind angesagt, für Donnerstag Bewölkung und weniger Wind, wohl wegen der geringeren Lufterwärmung. Arkaitz riet, am Donnerstag bei flauerem Wind und niedrigerem Wellengang in den Golf von Vizcaya (baskisch: Bizkaia) hinauszufahren und am Dienstag oder Mittwoch mit der Flut die Ría hinaufzupaddeln und mit ablaufendem Wasser wieder herunter. Wir vereinbarten Dienstag und Donnerstag.
Ich holte mein Fahrrad aus dem Wagen und fuhr über die Straße am östlichen Rand der Ría entlang landeinwärts. Hier und da gaben die Laubbäume den Blick auf Sandbänke, Wasserrinnen, Marschen und Mäander des Río Oca frei. Über die Ría flogen hin und wieder ein paar Vögel, mal ein Schwarm, sonst tat sich nichts. Ich schaute in eine abgetrennte, eigenständige Welt hinunter, die offenbar den Vögeln gehörte. Sie flogen wie durch die Vorzeit, in der es nur Pflanzen und Tiere gab und der Mensch noch nicht geboren war. Diese Leere, dieses Gelassen-Sein war nicht von dieser Welt. Ich begann zu verstehen, warum die Ría de Guernica als bedeutendstes Feuchtgebiet des Baskenlandes und zusammen mit dem umliegenden Naturpark als eines der ursprünglichsten baskischen Küstengebiete gilt. So manche wilde skandinavische Gans legt auf ihrem Weg gen Süden in der Ría Rast ein. Und so manch mitteleuropäischer Reiher und Kormoran macht hier Pause. Gegen Ende Herbst und zu Beginn des Winters fallen die Zugvögel aus dem eisigen Norden über Guernica her. Die Ría ist ihre erste Station im gelobten Land des milden Klimas. Ornithologisch gesehen hatte Théophile Gautier wohl recht mit seiner Behauptung, dass Afrika hinter den Pyrenäen beginne, »Tra los montes«, wie der orthografisch nicht ganz korrekte Originaltitel seines großen Spanienbuches lautete.
Der...