EINE JACKE FÜR JASMIN
Nachmittag. Das Rauschen brechender Wellen treibt mich aus dem Verschlag, der sich Hotelzimmer nennt. Kahl wie eine Einzelzelle ist das Loch. Eine Neonröhre flackert in den letzten Zügen. Ein winziges Fenster, mehr eine Schießscharte, vergittert und verriegelt, soll wohl vor Ein- und Ausbrechern schützen. An der Decke ein Ventilator, der sich längst totgedreht hat. Und eine Menge Krabbeltiere, die beim Eintreten in Ritzen huschen. Aber der Name der Herberge gefällt mir sehr: Tropicana. Und die Lage ist fantastisch: kaum einen Kilometer nordwestlich vom Flughafen, direkt an Strand und Atlantik gelegen, von Kokospalmen umrahmt.
Am liebsten reise ich ›low budget‹, halte es wie Gandhi, der gefragt wurde: »Warum fahren Sie stets dritter Klasse?« – »Weil es keine vierte gibt!« Es ist schon so, der Alte wusste, wo die besten Storys schlummern.
Ich habe mein Paradies gefunden. Ein Pelikan schwebt über die See, wie eine große weiße Feder, ohne Flügelschlag. Es ist Juni. Der Äquator verläuft fünfzig Kilometer südlich. Mich wundert die Kühle, die Stärke der Brise. Ich steige über Baumstämme, die das Meer hierhergetrieben hat. Wate durch weichen, weißen Sand. Überall Treibgut. Ein Containerschiff stampft gen Norden. Die geschwungene Küstenlinie verliert sich im Dunst. Links Häuser hinter hohen Mauern, mit Glasscherben gespickt; rechts Gestühl im Sand. Afrikaner palavern beim Bier. Frauen wiegen Hüften zu Klängen aus Gettoblastern. Alles abwerfen, sich in die Brandung stürzen, von Wogen tragen lassen – ist eins. Herrlich und erfrischend ist das Meer am Cap Santa Clara.
Ja, ich bin angekommen – in Afrika! Es ist kaum eine Stunde her. Eine lange Reise durch den Schwarzen Erdteil liegt vor mir, und ich will das Tropicana genießen, möchte die Erinnerung an das ›Paradies‹ mitnehmen. Als Wegzehrung für Ungemach oder weniger heitere Stunden. Schaumgekrönte Wellen brechen in dumpfem Donner. Um unversehrt durch die Brandung zu schwimmen, muss man die hohen Brecher durchtauchen. Jenseits ist es ruhig, schön, man fühlt sich frei, wie die drei Möwen, die sich gerade schreiend gegen eine Bö werfen. Fern am Ufer rollen die Wellen mit einem letzten zischenden Kuss auf dem Sand aus. Hier draußen bin ich allein. Die wenigen badenden Afrikaner planschen in Ufernähe. Hat das etwas zu bedeuten? Grundseen sind tückisch, bisweilen unheimlich stark. Ein Tor, der glaubt, Freiheit berge keine Gefahr!
Abgekämpft und erschöpft wie selten, lasse ich mich im Vorgarten des Tropicana nieder. Der Atlantik rauscht wie eh und je. Wellen rollen heran, mit gleichförmigem Getöse, unschuldig, hinterhältig. Nein, mahnend, man muss nur hinhören. Als der Kellner erscheint, bestelle ich ein Régab, eine Flasche lokales Bier. Ein feister, bleicher Weißer schleppt sich heran. Bleibt schnaufend stehen. Seine Augen suchen einen geeigneten Platz. Trotz der Kühle stehen Schweißperlen auf seiner Stirn, die er mit einem handtuchgroßen Lappen abwischt. Nun steuert er auf meinen Tisch zu. Der ist blau, rund und groß. Ausgelegt für eine afrikanische Familie mit vierzehn Personen und stabil, in Beton gegossen.
Ohne zu fragen lässt sich der Fettsack neben mir fallen. Wieder wischt er Schweiß. Wir beobachten uns aus den Augenwinkeln.
»Ces noires, die haben nur Musik im Kopf!«, stößt er vorwurfsvoll aus. Jetzt erst nehme ich die Raver am Strand, mit den Füßen im Wasser, wahr. Sie dröhnen sich mit einem Technosound zu, der es in sich hat. Aus der Buschkneipe tänzeln Frauen und Mädchen heraus. Brüste und Hüften zucken, als erhielten sie fortwährend Stromstöße.
»Pardon, Jacques Boulet, aus Lyon«, stellt sich der Wanst vor. Wir blinzeln in die untergehende Sonne und schweigen. Bis der Franzose meint: »A la bonheur!« Ich kapiere und grinse verlegen. »Nicht alle kommen zurück, die hinter die Brandung schwimmen. Ich habe Sie beobachtet.«
»Sie sind lustig, hätten mich einfach absaufen lassen?«
»Wir sollten uns nicht so wichtig nehmen. Im Golf von Guinea sind Tausende abgesoffen.« Einigermaßen pikiert trinke ich mein Bier. Jacques Boulet merkt, dass mir seine burschikose Art nicht gerade gefällt.
»Excusez-moi! Ich kann nicht schwimmen, aber Barmann Lumban hatte Sie im Auge. Gewiss hätte er was unternommen.«
Ich drehe mich um und winke dem Schwarzen zu.
»Was um Gottes willen machen Sie in Gabun?«, fragt Monsieur Boulet. »Der Tourismus steckt doch in den Kinderschuhen!«
»Sagen Sie das nicht, die Nationalparks Loango, Moukalaba, Wonga Wongué werden gern besucht.«
»Keine Ahnung. Ich kenne nur die Hotels und den Wald um Kango – bin Holzhändler.«
»Sie lassen den Urwald roden. Tausend Jahre alte Baumriesen für Klopapier fällen?«
Um ihn nicht gleich zu verärgern, lächle ich dabei versöhnlich.
»Nun mal langsam. Ich verkaufe ’n paar ausgesuchte Stämme an Furnierholzfabriken, unsere Kahlschläge sind minimal und werden aufgeforstet. Und eins will ich Ihnen sagen: Den Raubbau treiben die Chinesen – mit Tropenholz, Erdöl, Mangan, Eisenerz, Uran, Gold …«
Der Franzose hat recht, zurzeit geht das Gros von Gabuns Edelholzexport zwar noch nach Europa, doch die Chinesen rollen die Rohstoffressourcen auf, und das mit beängstigender Radikalität. Ich will nicht alles auf die Chinesen schieben, schließlich verschlingt der australische Holzkonzern Gunn Limited für eine einzige Papierfabrik um die vier Millionen Tonnen Holz pro Jahr. Wenn daraus Bücher entstehen, muss man den E-Book-Markt favorisieren.
»Wenn Sie kein Tourist sind, was treibt Sie dann in unsere einstige Kolonie?«
Ich schaue mich um. Auf der großen überdachten Terrasse stehen Reihen gedeckter Tische, sauber mit weißen Tischtüchern, Besteck und Gläsern versehen. Die ersten Gäste treffen ein, werden von Kellnern in schwarzen Anzügen an reservierte Plätze begleitet. An der mahagonigetäfelten Seitenwand, gleich neben dem Ali-Ben-Bongo-Ondimba-Konterfei, hängt der Panzer einer Karettschildkröte. Darauf gut erkennbar ist ein markanter Kopf mit Schnauzbartgesicht und wildem Haarschopf auf das Schildpatt geritzt worden. Ich deute in die Richtung. Monsieur Boulet runzelt die Stirn, versteht: Den Präsidenten werde ich sicher nicht gemeint haben.
»So, zum Hospital wollen Sie?«
»Richtig. Wie lange braucht man bis Lambaréné?«
»Die Straße ist schlecht, schätze, mit dem taxibrusse (Buschtaxi) sieben Stunden.«
»Sieben Stunden für dreihundert Kilometer?«
»Wenn Sie ’ne Panne haben oder der Sprit ausgeht: länger.«
Der Franzose steckt sich eine Gauloises zwischen die dicken Lippen – an ihm ist übrigens alles dick. Er schüttet sich das Bier in den Schlund.
»Mein Gott, Afrika, was ist aus dir geworden?«, stöhnt er. »Ich hab schon lange die Schnauze voll von dem Erdteil. Aber … Was woll’n Sie tun, wenn Sie bald dreißig Jahre mit den Schwarzen Geschäfte machen? Erst mit Erdölequipment, dann mit Baumaschinen – ging alles den Bach runter. Der Holzhandel wird auch bald vorbei sein. Was die Chinesen an Regenwald nicht bekommen, kaufen WCS und WWF auf.«
»Der Tourismus soll prosperieren«, gebe ich zu bedenken.
»Soweit kommt’s noch, soll ich mich in einen Land Rover klemmen und Touristen durch die Parks bugsieren?«
Beat und Palaver aus der Buschkneipe werden aggressiver. Dort, wo Himmel und Ozean zusammenstoßen, verfärben sich die Wolken violett und lassen den Sonnenball in die Unterwelt fallen.
»Ich hab Hunger«, sagt der Dicke, »wollen wir uns ins Restaurant begeben?«
»Werde noch etwas am Ufer entlanglaufen. Später vielleicht.«
»Aufgepasst! Da lauern Gangs, die haben sich aufs Ausnehmen von Weißen spezialisiert.«
Barfuß marschiere ich den Strand zwei, drei Kilometer Richtung Nordosten entlang. Bis auf die Schaumköpfe der Brandungswellen, die im Mondlicht chromfarben glitzern, ist es gespenstisch dunkel. Aber ich bin nicht allein. An Palmen gelehnt, tuscheln Liebespaare. An schwach glimmenden Lagerfeuern machen Familien Picknick. Nun folgt ein einsamer Abschnitt. Raschen Schrittes nähern sich drei Schatten. Ich knipse meine Taschenlampe an. Aha, drei Halbstarke, die jetzt auch Licht setzen.
»Bonsoir, Monsieur, comment ça va?«
»Ça va bien!« Wir grinsen uns an, stapfen aneinander vorbei.
Irgendwann lasse ich mir meine Afrikareise durch den Kopf gehen. Diesmal habe ich mir viel vorgenommen: Das Hospital in Lambaréné ist nur die Ouvertüre, die Verwirklichung eines alten Planes, die Wirkungsstätte eines Mannes zu erleben, der mir als Kind Angst und Bewunderung abverlangte. Neben meinem Großvater ist er für meine immerwährende Neugierde und Liebe für Afrika verantwortlich. Weiter nördlich soll es dann nach Douala und rüber in den Wald der Pygmäen, Gorillas und Waldelefanten gehen. Und durch Kameruns Grasland ins Königreich Foumban, schließlich hinauf in den Tschad, mit seinen kaum erforschten Wüsten und deren gefürchteten Tubu-Clans … Auf einmal beschleicht mich, allein am nächtlichen Strand, ich muss es gestehen, so etwas wie Angst vor der eigenen Courage.
Wieder im Tropicana angekommen, stelle ich fest, dass der Dicke nicht mehr da, die Restaurantterrasse aber rappelvoll ist. Eine illustre Truppe hat mehrere Tische zusammenstellen lassen und speist feudal bei mehreren Flaschen Schampus. Mein Blick schweift erfolglos über besetztes Gestühl. Da wird mir zugerufen:
»Holá, Sie mit der geilen Jacke, gesellen Sie sich doch zu uns.« Die Aufforderung kommt von einem Franzosen, aus der Mitte...