Wir befinden uns hier in einer wundervollen,
vollkommen unbekannten Welt, und ich fürchte,
dass ich sie gar nicht beschreiben kann.
Über allem liegt eine grenzenlose Einsamkeit.
ERNEST SHACKLETON,
THE HEART OF THE ANTARCITC1
Herbst über Antarktika: Sonnenauf- und Sonnenuntergänge verschmelzen in lodernden Lichtstürmen, Vorboten, scheint es, die vor der kommenden Finsternis warnen. Auf dem 75. Breitengrad Süd währt die winterliche Polarnacht dreieinhalb Monate. Dann bricht sich und reflektiert das Licht zwischen Himmel und Eis wie in einem Spiegelsaal; sobald die Herbsttage kälter werden, badet der Kontinent in flammenden Farben. Das Schelfeis vom vergangenen Jahr ist durch die Sommerstürme vollständig aufgebrochen worden. Jetzt ist es April, kurz nach dem herbstlichen Äquinoktium, der Tagundnachtgleiche. Die Vereisung des Meeres ist schon beträchtlich vorangeschritten. Kaiserpinguine kehren feist und glänzend vom Sommerfischzug zurück, um sich auf dem neuen Meereis nahe der Uferlinie des Kontinents zu paaren. Sie sind die einzige von der Evolution hervorgebrachte Tierart, die den Winter an diesen Küsten überleben kann. Dass sie in dieser Zeit ununterbrochen brüten, dabei die Eier selbst beim Watscheln durch die Dunkelheit auf ihren Füßen mit sich tragen, zählt zu den größten Wundern der Natur.
Von der Halley-Forschungsstation bis zur nächsten Kolonie sind es zwanzig Kilometer. Der Brutplatz ist einer der ausgedehntesten der Welt – jeden Herbst versammeln sich hier an die sechzigtausend Kaiserpinguine. Die Halley-Küste jenseits der mahlenden Strudel um die Packeisfelder des Weddell-Meeres, dieses Friedhofs der Schiffe, ist nur zwei Monate im Jahr erreichbar. Es heißt, sie sei so entlegen, dass es leichter wäre, einen medizinischen Notfall von der Internationalen Raumstation ISS zu evakuieren als im Winter jemanden aus Halley herauszubringen. Einige Bewohner nennen sie liebevoll ›Sternenbasis Halley‹. Ich bin hierher gekommen, um ein Jahr lang in der leeren Eiswüste zu leben, und heute werde ich zum neu entstandenen Schelfeis hinuntergehen und mir das Stelldichein der Kaiserpinguine ansehen.
Unsere Schneemobile sind vollständig mit Planen bedeckt, um sie vor den herbstlichen Schneestürmen zu schützen. Es ist eigentlich zu kalt für die Jahreszeit, fast minus 40 °C. Russ, einer der Wissenschaftler auf der Halley-Station, willigte ein, mich zu begleiten; allein loszuziehen, gilt als zu gefährlich. Obwohl wir unter der wasserdichten Hülle eine Stunde lang die Kerosinlampen haben brennen lassen, braucht es eine weitere geschlagene Stunde, bis wir die Schneemobile – unsere ›Ski-Doos‹ – starten können. Abwechselnd ziehen wir immer wieder die Anlasserschnur durch, bis der Arm schmerzt, und endlich kommt stotternd Leben in die Maschinen.
Das Eis ist vom Wind aufgeraut und zu frostigen Wellen modelliert, ein todesstarrer Ozean. Eine sanfte Hebung im eisbedeckten Küstenstreifen, die Ernest Shackleton nach einem der Sponsoren der Endurance-Expedition Caird-Küste getauft hatte, zieht zu unserer Linken in Richtung Südpol. Trotz der beheizten Griffe müssen wir wiederholt Pausen einlegen und die Arme wie Windmühlenflügel kreisen lassen, damit das Gefühl in die Daumen zurückkehrt. Stoppe ich, hält Russ auch an und wartet auf mich. Wenn er stehen bleibt, tue ich dasselbe. Beim Fahren bahnen wir uns krachend unsere eigene geräuschvolle Schneise, doch sobald die Maschinen pausieren, kann man hören, wie der Schnee durch die Stille jagt; ein gedämpftes Geräusch wie ferner Applaus.
In höheren Breitengraden scheint die Sonne nur widerstrebend untergehen zu wollen, sie trödelt noch ein wenig herum, bevor sie mit der gefrorenen Erde verschmilzt und verschwindet. So sanft gleitet sie, dass ihre ersterbenden Farben noch Stunden, nachdem sie längst hinter dem Horizont versunken ist, den Himmel in Rot tauchen. Mir wird bewusst, dass ich die Sonne noch nie so dahinschweben sah, abgeflacht und ausgefranst wie ein Himmelstuch. Edward Wilson, der Doktor, Naturforscher und Visionär, der Kapitän Scott zum Pol begleitete, sagte über die antarktischen Sonnenuntergänge: »Es scheint vielleicht etwas weit hergeholt, zur Beschreibung eines Himmels chemische Begriffe zu Hilfe zu nehmen ..., aber das Licht glühenden Kaliums trifft es genau.«3 Die Rottöne stellte sich Wilson als brennendes, in der Polarnacht loderndes Strontium vor. Nie zuvor habe ich so weit weg von jeder Pflanze gelebt, doch in diesem Herbst kommen mir ständig botanische Vergleiche in den Sinn – das komplette Regenbogenspektrum des Chlorophylls. Die Rottöne sind Anthocyane, das ölhaltige Blutrot herbstlicher Ahornblätter. Der Halbschatten der Sonne gleicht dem Karotin der Möhren, dem gebürsteten Gold herabgefallener Kirschblätter.
Wir erreichen oberhalb der Pinguin-Brutstätte auf den Eisklippen eine Hütte. Sie ist von Eis bedeckt, das der Wind ausgefällt hat. Ich strecke den Arm aus, um die Ski-Doos zu entladen und halte plötzlich inne. Mir ist, als hätte mich jemand gerufen, und dann bemerke ich die zarten Eisnadeln, die in Wirbeln um mich herumschwirren. Es handelt sich um sogenannten Diamantstaub – winzige, nahezu schwerelose Eiskristalle, die nicht niedersinken, sondern in der Luft schweben. Glitzernden Spiegeln gleich, fangen sie das Licht ein und erfüllen die Luft mit Leben.
Ich entzünde den Brennspiritus im Kocher. Petroleum gefriert bei etwa minus 40°C, daher muss man es mit Spiritus vorheizen, bevor es von selbst brennt. Mit tauben Fingern reiße ich sieben oder acht Streichhölzer an, bis sich endlich eines entzündet. Draußen geht im Osten der Mond auf, ein rötlich orangener Mond, der eine Kreisform annimmt, sobald er sich aus den verzerrenden Luftspiegelungen des Horizonts gelöst hat. Hoch über uns reflektieren leuchtende Polarwolken am Nachthimmel die letzten Strahlen der untergehenden Sonne bis weit in den Westen der antarktischen Halbinsel. Als wir alles aufgebaut haben, ist es schon zu dunkel, um die Pinguine zu besuchen; sie müssen bis morgen warten.
In der Hütte blasen Petroleumlampen Licht und Wärme in den Raum. Der Wind weht mit nur fünfzehn Knoten, nimmt aber zu und fährt keuchend und schnaubend das Ofenrohr herab. Der Raum zwischen Innenschicht und Außenhülle der Hütte hat sich mit Schnee gefüllt, der über kleine Ritzen in der Dachversiegelung eingedrungen ist. Vom Sturm verwehter Schnee dringt hier in jeden Schlupfwinkel, so dicht gepackt, als hätten winzige Hände ihn zurechtmodelliert. Wenn der Schneepanzer schmilzt, tropft es in drei Kübel, die wir sorgfältig in der Hütte verteilt haben. Russ ist ein angenehmer Gefährte, und die einzig hörbaren Geräusche sind das Zischen im Ofen, die Seufzer des Windes und das gleichmäßige Tropfen des schmelzenden Schnees.
Kaiserpinguine besitzen außergewöhnliche Fähigkeiten. Sie sind die einzigen Vögel, die auf Meereis brüten, und die einzigen Pinguine, die unter Umständen ihr Leben lang kein (Fest-)Land berühren. Sie sind die größte lebende Pinguinart, und an Körpergewicht übertreffen sie ihre nächsten Rivalen, die Königspinguine der subantarktischen Inseln, um das Doppelte. Die männlichen Kaiserpinguine bebrüten ihre Eier ununterbrochen und unter allen Vögeln oder Reptilien über den längsten Zeitraum. Zwei Monate lang balancieren sie beim Watscheln fortwährend das Ei auf den Füßen (Albatrosse brüten länger, wechseln sich aber am Nest ab). Als Meister des Durchhaltevermögens überleben sie im kältesten und windigsten Lebensraum der Erde. Sie sind die einzigen Pinguine, die kein territoriales Aggressionsverhalten an den Tag legen und offenbar ›eingesehen‹ haben, dass sie, wenn sie überleben wollen, sich den Luxus eines Privatbereichs nicht erlauben können. Sie ertragen Stürme von Hurrikanstärke und Temperaturen von minus 70°C, was den britischen Polarforscher Apsley Cherry-Garrard zu der Bemerkung verleitete, keine Kreatur auf Erden habe seiner Meinung nach ein härteres Leben. Gegen Ende der Brutzeit haben die Männchen vier Monate lang gefastet und achtzig Prozent ihrer Fettreserven aufgebraucht, und jetzt beginnt der Abbau ihrer Muskelmasse. Das wenige Fett, das ihnen geblieben ist, reicht gerade noch als ›Treibstoff‹ für ihren Weg zurück ins offene Meer aus, eine Reise von über hundertsechzig Kilometern über raues und geborstenes Meereis. Damit ist die Fastenzeit beendet. Obwohl sie einerseits in einigen Merkmalen den Reptilien näherstehen als andere lebende Vögel, produzieren sie wie die Säugetiere eine milchige, fette Substanz, die den Nachkommen als Nahrung dient. Dieser Vorgang ist recht verwunderlich: Selbst hungernd, trennen die Männchen mit Fettpartikeln ausgestattete Gewebestreifen aus ihren Magenwänden ab, um damit die gerade geschlüpften Küken zu füttern, bis die Weibchen zurückkehren. Allein mit dieser Nahrung können die Jungen ihr Gewicht verdoppeln.
Um...