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E-Book

DuMont Reiseabenteuer Niemand liebt das Leben mehr als wir

Mexiko - Unterwegs in einem Land voller Hoffnung

AutorAlexandra Endres
VerlagDumont Reiseverlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783616491622
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR

Das E-Book basiert auf: 1. Auflage 2019, Dumont Reiseverlag

MEXIKO - ein unglaublich vielfältiges Land, landschaftlich und kulturell. Und ein vom Drogenkrieg gezeichnetes Land. Seit vor zwölf Jahren der Kampf zwischen den Kartellen und einem korrupten Staat begann, starben oder verschwanden Tausende, die meisten Taten blieben ungesühnt. Doch das schreckt Alexandra Endres nicht ab, denn Mexiko ist viel mehr als das: In Cancún trifft sie auf das indigene Erbe der Maya, in Oaxaca besucht sie einen traditionellen Mezcal-Brauer, in Tijuana wirft sie einen Blick hinter die Kulissen der Vergnügungsmeile. Immer im Mittelpunkt ihrer Erzählung: Die Begegnungen. Überall in Mexiko lernt sie Menschen kennen, die sich trotz allem unerschütterlich für ihr Heimatland einsetzen und an dem Traum von einer besseren Zukunft festhalten.



<p><strong>Alexandra Endres</strong> ist seit 2006 Redakteurin bei ZEIT ONLINE. Die studierte Journalistin und Volkswirtin hat diverse Reisen nach Lateinamerika unternommen. In Argentinien erlebte sie 2001 den Zusammenbruch eines Landes, in Mexiko erforschte sie 2004 den Wissenstransfer in der Automobilindustrie, in Kolumbien recherchierte sie u.a. über die Auswirkungen des Bergbaus sowie die Friedensverhandlungen zwischen der Regierung und den Farc-Guerillas. 2017 ist im DuMont Reiseverlag ihr Reiseabenteuer über Kolumbien erschienen.</p>

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Leseprobe

Auftakt

Mütter und Gräber

Erst als die Sonne schon sehr tief steht, lassen die Mütter von Los Mochis, Sinaloa, ihre Schaufeln und Grabstöcke sinken und heben den Blick von der vertrockneten Erde. Eigentlich wollen sie nicht aufhören zu suchen. Das haben sie versprochen – sich und ihren Kindern. Denn die sind spurlos verschwunden. Von manchen gibt es seit Jahren kein Lebenszeichen, doch die Polizei unternimmt nichts. Deshalb suchen die Frauen selbst, und sie tun das demonstrativ in aller Öffentlichkeit. Das birgt Gefahren, denn die Mütter kommen damit der Mafia in die Quere. Aber vielleicht bringt ihnen die Aufmerksamkeit auch neue Hinweise. Zumindest hoffen sie das.

Ihr Versprechen spornt sie an und hält ihre Erinnerung wach. Es ist auch eine Mahnung an alle, die in Los Mochis und den Nachbargemeinden leben: »Ich werde suchen, bis ich dich finde.« Öffentlich ausgesprochen bedeutet dieser Satz: »Seht her, was geschieht! Tut nicht so, als ginge euch all das nichts an. Es könnte euch genauso treffen.«

Wenn die Mütter etwas finden, dann ist es in der Regel ein Grab. Nur sehr wenige der Verschwundenen kehren lebend zu ihren Familien zurück. An dem Tag, an dem ich die Mütter bei ihrer Suche begleite, finden sie nichts. Ich bin erleichtert, denn so bleibt mir der Anblick menschlicher Überreste erspart. Doch für die Frauen ist es zum Verzweifeln. Wenn ein Mensch verschwindet, so heißt es, ist die Ungewissheit über sein Schicksal das Schlimmste für die Freunde und Verwandten – schlimmer noch als die Trauer, die man empfindet, wenn Eltern, Geschwister, Freunde, Sohn oder Tochter sterben. Die Mütter von Los Mochis ertragen diese Ungewissheit nicht mehr. Sie suchen auch an diesem Tag, solange sie nur können.

Doch am späten Nachmittag müssen sie einsehen, dass sie heute nicht mehr weiterkommen. Sie gehen zum Pick-up, legen Schaufeln, Macheten und Grabstöcke auf die Ladefläche, trinken noch einen Schluck Wasser aus den fast leeren Kanistern, werfen einen – nur für heute – letzten Blick auf das verwilderte Gelände und klettern endlich auf den Truck.

Da ist Mirna, die vor vier Jahren ihren Sohn verloren hat. Von den Frauen hier war sie die erste, die auf eigene Faust anfing, nach ihrem Kind zu suchen, vor lauter Wut und Ohnmacht, nachdem die Polizei ihr ganz offen gesagt hatte, die Beamten würden zwar eine Akte anlegen, aber sonst nichts weiter unternehmen. Da ist Dulcina, die Journalistin, die über die Mütter berichtet und ihre Suchaktionen schon lange begleitet. Zuerst war sie nur Beobachterin. Doch seit Unbekannte vor ein paar Monaten ihren Neffen entführten, ist Dulcina auch selbst betroffen.

Und da sind Reyna und Lizbeth, die gehofft hatten, das Schicksal ihrer Kinder Eduardo und Zumiko würde sich heute aufklären. Reyna weint; Lizbeth beherrscht sich nur mühsam. Ihre Tochter Zumiko und Reynas Sohn Eduardo waren zusammen in der Stadt unterwegs, als sie verschwanden. Lizbeth hörte am Telefon, wie die beiden verfolgt wurden, wie sie wegliefen, wie ihre Tochter sagte: »Mach dir keine Sorgen, Chefin«, wie Zumiko außer Atem geriet. Natürlich machte sich Lizbeth Sorgen. Sie blieb am Hörer, bis die Verbindung abbrach. Das war vor zwei Jahren, sie erinnert sich noch genau an den Tag. Seither gibt es kein Lebenszeichen von Zumiko und Eduardo.

Vor ein paar Tagen aber haben die Mütter einen anonymen Tipp erhalten: Auf einem Stück Brachland außerhalb der Stadt könnten sie die Überreste der beiden finden. Die Hoffnung hat sich nicht erfüllt.

Als die Mütter ihre Suche abbrechen, bin ich schon nicht mehr bei ihnen. Ich musste einen Zug erreichen und habe sie deshalb vorzeitig verlassen. Jetzt sitze ich in einem luxuriösen Waggon, der von Los Mochis in Richtung Norden fährt, hinauf in die Berge. Um mich herum Familien in Ausflugsstimmung. Ich aber kann nicht so schnell abschütteln, was ich heute erlebt habe.

Stundenlang haben die Frauen das Gelände abgesucht, den Blick immer am Boden, um keinen Hinweis zu übersehen. Sie haben sich vermummt, um ihre Haut vor der brennenden Sonne zu schützen, und dafür gesorgt, dass ich ebenfalls meine Arme bedecke. Sie haben Stechmücken und Hitze ignoriert. Um die Plackerei durchzustehen, hatten sie vorab reichlich Wasser und Energydrinks eingekauft. Sie waren auf verdächtige Stellen gestoßen, an denen das Erdreich locker war und ihre Grabstöcke unter der Oberfläche auf etwas Weiches stießen. Aber der Boden gab nur schmutzige, zerrissene Klamotten frei: drei Jeans, ein Sweatshirt mit braunroten Flecken, ein Halstuch, Wäsche. Männerkleidung, den Frauen unbekannt.

Ich denke daran, wie hoffnungsvoll die Mütter am Morgen aufgebrochen waren und wie ihre angespannte Zuversicht nach und nach in Verzweiflung umschlug. »Was denkst du über unsere Arbeit?«, hatte Mirna mich zum Abschied gefragt. Mir war keine Antwort eingefallen. Erst als ich im Zug sitze und langsam wieder einen klaren Gedanken fassen kann, denke ich: Niemand sollte so etwas tun müssen.

Ich verspüre ein dringendes Bedürfnis, mich zu betäuben, wenigstens ein klitzekleines bisschen. Ich will mich nicht schlimm betrinken, das wäre unklug, denn ich bin allein unterwegs und muss nachher noch in der Lage sein, meine Unterkunft zu finden – bei Nacht, in einer mir unbekannten Siedlung in den Bergen der Sierra Madre Occidental, ohne Internet und Straßenkarten, zu Fuß und mit schwerem Gepäck. Aber noch ist es hell. Die Zugfahrt wird ein paar Stunden dauern. Und im Moment möchte ich gern eine weiche, besänftigende Decke aus Alkohol zwischen mich und die Außenwelt ziehen.

In diesem Luxuszug gibt es Service am Platz, also bestelle ich ein Bier. Harmlos eigentlich. Aber der Kellner schaut skeptisch. Eine allein reisende Frau, erkennbar nicht aus der Gegend, die nachmittags Alkohol bestellt? Unmöglich, sagt sein Blick. »¿La Señora desea algo más?«, erkundigt er sich ausgesucht höflich, als er mir das Getränk bringt. »Wünscht die Dame noch etwas?«

Ich verneine und bedanke mich ebenso betont höflich, um ihm zu signalisieren, dass alles in Ordnung ist mit mir. In Wahrheit aber fühle ich mich ziemlich fehl am Platz. Wie im falschen Film. Ich blicke aus dem Fenster auf die triste Landschaft. Um mich herum elegantes Interieur, beflissenes Personal, entspannte, fröhliche Gäste. Es sind vor allem Familien mit Kindern, die ihren Ausflug ganz offensichtlich genießen. Warum auch nicht? Wir befinden uns im El Chepe Express, einem Luxuszug, der eine Fahrt durch grandiose Landschaften verspricht: wilde Berge, malerische Täler, schroffe Schluchten.

Die Strecke führt von Los Mochis aus mitten durch den Gebirgszug der Sierra Madre Occidental, es ist eine spektakuläre Route, und noch dazu bietet dieser Zug seinen Passagieren alle möglichen Annehmlichkeiten. Außer dem Service am Platz gibt es eine Bar mit bodentiefen Fenstern, ein dreigängiges Abendessen mit Delikatessen aus der Region, serviert im Speisewagen mit verglastem Panoramadach, damit den Gästen auch bei Tisch nichts von der Aussicht entgeht.

Eine Kellnerin kommt an meinen Platz und erkundigt sich, ebenfalls vollendet höflich, nach meinen Wünschen für das Abendessen. Welches Menü ich denn zu speisen wünsche? Und um welche Uhrzeit sie einen Tisch im Speisewagen für mich reservieren dürfe? »Muchas gracias, Señora

Ihre perfekten Umgangsformen und die Eleganz um mich herum verstärken meine Beklemmung nur noch. Das hier scheint nicht richtig, sondern absurd, unwirklich. Ein merkwürdiger Traum. Draußen graben Mütter nach ihren verschwundenen Kindern, und hier drinnen lassen wir uns unbeschwert umsorgen?

»So ist Mexiko«, schreibt mir eine Freundin später, als ich wieder Mobilfunkempfang habe und ihr mein Unbehagen schildere. »Surreal. Manchmal können nicht einmal wir Mexikaner das verstehen. Diese krassen Gegensätze. Aus welchem Stoff sind wir gemacht, dass wir uns daran gewöhnt haben, so zu leben?« Sie klingt traurig und resigniert.

Ich suche nach einer Erklärung: »Vielleicht müssen Menschen manchmal die Augen vor der Gewalt verschließen und sie verdrängen, um nicht verrückt zu werden«, schreibe ich.

»Du hast recht«, antwortet sie. »Wir müssen uns diese Parallelwelt schaffen, um den Horror zu überleben.«

Was sie gesagt hat, stimmt. Krasse Gegensätze wie der zwischen dem Luxuszug und den verzweifelten Müttern sind typisch für Mexiko. Das Land ist wunderschön. Es hat strahlend weiße Strände, leuchtend blaues Meer, tropische Wälder und unzugängliche Berge. Es ist kulturell so vielfältig wie kaum ein anderes Land Lateinamerikas. Viele der uralten indigenen Sprachen und Traditionen sind noch sehr lebendig. Die zeitgenössischen Künstler Mexikos – Malerinnen, Musiker, Schriftsteller, Schauspielerinnen, Regisseure – sorgen international für Aufsehen. Das ist die eine Seite Mexikos, die bunte, vielfältige, kreative, friedliche Seite.

Die andere Seite Mexikos aber ist brutal. Brutal arm, brutal gewalttätig. Die meisten Gewaltverbrechen im Land bleiben ungesühnt. Mord wird praktisch nicht bestraft. Nur ein Bruchteil der Tötungsdelikte wird überhaupt bei der Polizei angezeigt. Weil viele Behörden korrupt sind, wird häufig nicht ernsthaft ermittelt, und so kommen die allermeisten Täter ohne Strafe davon. So wird die Gewalt alltäglich – ganz normal, eine Sache, mit der zig Millionen unbeteiligte Menschen zurechtkommen müssen, so gut es eben geht. Hunderttausende sind in den vergangenen Jahren im Drogenkrieg umgekommen. Gegen die organisierten Banden sind zum Zeitpunkt meiner Reise zigtausend Soldaten im Einsatz. Zigtausend Menschen wurden ermordet oder aus ihren Dörfern vertrieben und zigtausend sind spurlos verschwunden. So...

Blick ins Buch

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