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Duns Scotus

Die Logik der Liebe

AutorOlivier Boulnois
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl136 Seiten
ISBN9783170254312
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis28,99 EUR
Johannes Duns Scotus (ca. 1265-1308) hat in Oxford, Paris und Köln gelehrt. Der Franziskaner, Philosoph und Theologe verbindet in seinem Werk scholastische Präzision mit dem Vorrang der Liebe (caritas), wie er für das franziskanische Denken charakteristisch ist. Scotus ist davon überzeugt, dass alle Menschen nach dem Glück streben: Das Ziel menschlicher Existenz ist die Vereinigung des Menschen mit Gott. Die Liebe zu Gott und dem Nächsten ist das Mittel, dieses Ziel zu erlangen. Aber unsere Natur reicht dazu nicht aus; die Gnade (oder ungeschaffene Liebe) muss ihr beistehen. Die Theologie wird dadurch zu einer praktischen Wissenschaft: Sie lehrt, wie unser Wille die Handlungen an der göttlichen Liebe ausrichten und sich so der Glückseligkeit nähern kann. Die Liebe wird zum Strukturprinzip der ganzen Theologie.

Prof. Dr. Olivier Boulnois lehrt Religion und Philosophie des Mittelalters an der École Pratique des Hautes Études (EPHE) und am Institut Catholique de Paris. Übersetzt aus dem Französischen von Goebel, Bernd / Möllenbeck, Thomas / Solbach, Anja

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Leseprobe

II. Lektüre


Erstes Kapitel: Philosophen und Theologen. Die Kontroverse


Der Sentenzenkommentar des Scotus wird durch eine „Kontroverse“ über die Bestimmung des Menschen eröffnet. Ein fiktiver, ungleicher, ja unmöglicher24 Dialog – und doch notwendiger noch, als wenn er real wäre – bringt zwei Gruppierungen mit ihren theoretischen Zielvorstellungen auf den Plan: diejenige, welcher Scotus angehört, die „Theologen“; und, auf der anderen Seite, die „Philosophen“. Die Philosophen behaupten die Vollkommenheit der Natur; die Theologen die Notwendigkeit des Übernatürlichen.

Der Ausgangspunkt ist die von beiden Seiten eingeräumte These, dass der Mensch von Natur aus nach dem Glück strebt. Alle Menschen begehren glücklich zu sein: Die Freude des Glücks nicht zu verfolgen, ist genauso widersprüchlich wie das Scheitern dessen zu wollen, was man unternimmt. Die Suche nach dem Glück findet ihre Vollendung in der Fülle, die der unveränderliche Besitz des höchsten Gutes bedeutet; sie wird zum Streben nach dem „glückseligen Leben“,25 nach dem intensivsten, dauerhaftesten und vollkommensten Glück. Der Debatte liegt somit eine fundamentale Übereinstimmung zugrunde: Der Mensch ist seiner Natur nach, gemäß seiner besonderen Würde als vernünftiges Wesen auf die höchste Glückseligkeit hin geordnet. Wie eine jede Natur durch ein natürliches Begehren auf ihr Ziel hin geordnet ist, so ist die verstandesbegabte Natur auf die vollkommene Einsicht als das ihr eigene Ziel hin geordnet. Alle Menschen begehren von Natur aus zu erkennen. Ihr Vermögen ist natürlicherweise auf den Erkenntnisakt ausgerichtet. Somit erreichen sie ihre Vollkommenheit in einem vollkommenen Akt der Einsicht.26 Der springende Punkt ist jedoch die Frage, ob der Mensch mit natürlichen – philosophischen – Mitteln dorthin gelangen kann; oder ob er dazu einer übernatürlich inspirierten Lehre bedarf, nämlich der Offenbarung. Im ersten Fall gelangte die Natur durch ihre eigenen Mittel zu ihrem letzten Ziel; im zweiten hätte sie, um dorthin zu gelangen, die Unterstützung durch eine äußere (übernatürliche) Macht nötig. Die erste Hypothese gibt der Philosophie den Vorzug, die zweite besagt den Primat der Theologie.27

1. „Die Philosophen behaupten die Vollkommenheit der Natur und leugnen die übernatürliche Vervollkommnung.“


Die Philosophen „leugnen alle übernatürliche Erkenntnis, weil sie annehmen, die Würde der Natur bestehe darin, ihre eigene Vollkommenheit erlangen zu können“ (Ord. Prol. § 6). Oder, wenn man die Vollkommenheit der Natur als Selbstgenügsamkeit versteht: „Die Philosophen behaupten die Vollkommenheit der Natur und leugnen die übernatürliche Vervollkommnung“ (Ord. Prol. § 5). Diese These hat zwei Aspekte:

a. Die Vollkommenheit der Natur


Die Philosophen betrachten die Natur allein in ihrem inneren Zusammenhang, in ihrem System. Im Mittelpunkt steht die Erhabenheit der Naturen. Die Würde einer Natur besteht darin, durch sich selbst die ihr eigene Vollkommenheit zu erlangen. Dieses Motiv geht einher mit der These des universellen Nezessitarismus: Die Natur tut nichts umsonst. Sie lässt keinen Mangel entstehen, den sie nicht selber beheben kann. Dieses Argument beruht auf dem Prinzip der Fülle: Es gibt kein Vermögen, das niemals Wirklichkeit wird. Es knüpft gleichermaßen an das Prinzip der Sparsamkeit an: Je höher die Natur eines Seienden, desto weniger Mittleres gibt es zwischen ihm und seinem Prinzip, und desto weniger Beziehungsglieder, aus denen seine Vollkommenheit hervorgeht.28 Die Erhabenheit des Verstandes schließt daher ein, dass er jede Erkenntnis, die ihm nottut, ausgehend von rein natürlichen Mitteln erreichen kann. Dieses Prinzip beherrscht die vielen Argumente wider die Notwendigkeit einer inspirierten Lehre (einer Offenbarung) und bringt sie in ein System.

Die Position der Philosophen beschwört das Gespenst des Averroismus herauf, welches am Ausgang des 13. Jahrhunderts durch die theologischen Werke spukt. So liest man bei Averroes: „Alles, was der Möglichkeit nach etwas ist, wird notwendigerweise wirklich, denn andernfalls handelt die Natur vergebens“.29 „Wenn es daher (...) einen Stoff gäbe, dessen Möglichkeit niemals zur Wirklichkeit gelangt, dann wäre diese Möglichkeit vergebens und überflüssig.“30 „Wir begehren die Wahrheit zu erkennen. Wäre ihre Erkenntnis unmöglich, so wäre unser Begehren vergebens. Alle geben aber zu, dass nichts in den Gründen der Natur vergebens ist.“31 In seinem Kommentar zur Metaphysik bekundet Averroes dort, wo Aristoteles von der menschlichen Begierde nach Erkenntnis spricht, dass der Mensch allein aufgrund seiner natürlichen Mittel zur Erkenntnis des ersten Prinzips gelangen kann, sowie zur Erkenntnis der intelligiblen, rein geistigen Seiendheiten, die auf dieses Prinzip folgen.32 Es ist durchaus das Begehren des Menschen, diese zu erkennen. Denn ohne sie zu erlangen (adeptio), käme sein Verlangen an kein Ende. Könnte er nun nicht dorthin gelangen, wäre sein Begehren vergebens.33 Es bestünde ein Widerspruch in der menschlichen Natur. Der Mensch kann daher in diesem Leben zur vollkommenen Erkenntnis der getrennten (d.h. rein geistigen) Substanzen gelangen.34 Der menschliche Verstand wäre kein wahrhaftiges Vermögen, wenn irgendetwas außerhalb seiner Reichweit läge. Denn der menschliche Verstand ist der Möglichkeit nach alles Verstehbare. Er ist dies in seiner rein natürlichen Verfassung. Und der Natur darf man nichts vergebens zuschreiben. Falls etwas außerhalb seiner Reichweite bliebe, wäre der menschliche Verstand kein wahrhaftiges Vermögen.35

Da die Philosophen nichts außer die Natur und ihr Ziel betrachten, nehmen sie an, die Natur des Menschen sei in ihren Grenzen vollkommen; nehmen sie an, dass sie in sich selbst ihre eigene Vollkommenheit finde. Die Endlichkeit ist zugleich eine Autarkie. Die Natur des Verstandes genügt sich selbst und bedarf keines anderen.

b. Die Überflüssigkeit des Übernatürlichen


Scotus trägt eine Reihe von Argumenten der „philosophischen Partei“ vor, die behauptet, dass eine durch übernatürliche Inspiration gewährte Wahrheit für den Menschen nicht notwendig ist. Und diese Argumente bleiben in seinen Augen in ihrer Ordnung gültig, nämlich in derjenigen der Naturen und ihrer Ziele.

1. Das erste Argument geht von der Theorie des einem Vermögen angemessenen Gegenstandes aus. Jedes Vermögen hat als ersten natürlichen Gegenstand etwas Allgemeines und kann auf natürliche Weise das erreichen, was in seinem Zuständigkeitsbereich enthalten ist. Das Sehvermögen zum Beispiel hat als ersten Gegenstand das farbige Sein im Allgemeinen. Folglich können wir alles, was in diesen Bereich fällt, also alles, was eine Farbe hat, sehen. Der angemessene Gegenstand deckt genau die Reichweite unseres Vermögens ab: Es gibt keinen Gegenstand, der das Vermögen, dessen Gegenstand er ist, übersteigt. Ein Gegenstand kann kein Gegenstand des Vermögens sein, wenn das Vermögen nicht auf ihn hin wirklich werden könnte. Da nun der erste natürliche Gegenstand unseres Verstandes das Seiende als Seiendes ist, kann unser Verstand auf natürliche Weise jeden Gegenstand erfassen, der unter den Begriff des Seienden fällt, Gott – aufgefasst als ein unendliches Seiendes – mit eingeschlossen. Ein Gegenstand, der unser Vermögen überschreiten würde, wäre ein Gegenstand des Unvermögens. Gott kann verstanden werden; er ist im ersten Gegenstand unseres Intellekts mit inbegriffen; er kann daher von uns auf natürliche Weise erreicht werden. Eine natürliche Gotteserkenntnis ist möglich. In ihr besteht für den „Philosophen“ die Glückseligkeit. Die Erkenntnis Gottes in seiner Einzigartigkeit und die Erkenntnis Gottes im Begriff des Seienden sind ein und dasselbe.36

2. Die Ordnung des Kosmos ist von einer auf das erste Prinzip ausgerichteten Zielbestimmtheit geprägt. Es gibt keinen natürlichen Mangel, den die Natur nicht notwendig befriedigen würde: „Die Natur wirkt nichts vergebens und verfehlt nicht die notwendigen Dinge.“37 Wenn die Glückseligkeit für den Menschen notwendig ist, dann muss sie sich auch notwendig in ihm verwirklichen. Der Weg zum vollkommensten und notwendigsten Gegenstand (Gott) ist natürlicherweise gangbar. Wer Schwieriges kann, kann auch Leichtes: Wenn bereits der Sinn auf natürliche Weise alles sinnlich Wahrnehmbare erreicht und die ganze Vollkommenheit erlangen kann, auf die er hin geordnet ist, so vermag dies a fortiori auch der Verstand. Er kann natürlicherweise sein letztes Ziel erreichen und seine höchste Vollkommenheit erlangen.38 – Dieser peripatetischen Kosmologie zufolge macht der Nezessitarismus auch beim Menschen keine Ausnahme: Das letzte Ziel drängt sich seiner Natur notwendigerweise auf. Die Erhabenheit des Verstandes lässt nicht zu, dass dieser auf äußere Mittel angewiesen ist, um seine Vollkommenheit zu erreichen.

3. Der menschliche Verstand steht in keinem Verhältnis zur Erkenntnis dessen, was seine Natur übersteigt. Wenn man behauptet, die Natur bedürfe eines äußeren Eingriffs, um an ihr Ziel zu gelangen, bedeutet das, sie wäre diesem nicht verhältnismäßig. Doch ein solches Missverhältnis kann nicht behoben werden, außer durch eine äußere Ursache, welche die Natur dazu geeignet macht. Wenn diese Ursache natürlich wäre, genügten sich die Naturen. Wäre sie übernatürlich, fiele man ins gleiche Missverhältnis zurück. Dieses würde...

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