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Ehrenamt verstehen

Eine handlungstheoretische Analyse

AutorBettina Hollstein
VerlagCampus Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl453 Seiten
ISBN9783593432410
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis46,99 EUR
Wer das Ehrenamt fördern will, muss es verstehen. Dieses Buch liefert eine fundierte Analyse des Ehrenamts, der Motive, die ehrenamtliches Handeln antreiben, und der Situationen, in denen es entsteht. Dabei werden gängige Vorurteile über das Ehrenamt aufgedeckt und anhand von empirischen und theoretischen Argumenten entkräftet. Mithilfe der neopragmatistischen Handlungstheorie von Hans Joas zeigt die Autorin die Kontingenz, die Körperlichkeit und die Sozialität des Handelns im Ehrenamt auf. Schließlich entwickelt sie Vorschläge zur Förderung des Ehrenamts für Staat, Wirtschaft und Non- Profit-Organisationen auf der Basis eines wirtschafts- und sozialethischen Konzepts.

Bettina Hollstein ist seit 1998 wissenschaftliche Kollegreferentin am Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien der Universität Erfurt.

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Leseprobe
Vorwort
Dieses Buch verdankt sich einem langen Entstehungsprozess. Vor über 15 Jahren skizzierte ich - von Hause aus Ökonomin - ein paar Fragen in Bezug auf den ökonomischen Arbeitsbegriff, der mir angesichts des Phänomens Ehrenamt problematisch erschien. Meine eigenen Erfahrungen mit Ehrenamt ließen sich in traditionelle ökonomische Handlungsmodelle nur sehr schlecht integrieren und kaum sinnvoll rekonstruieren. Aus diesen ersten Fragen entwickelte sich eine Skizze für ein Habilitationsprojekt am Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien der Universität Erfurt, das gerade als erste Institution der Universität Erfurt gegründet wurde. In der Aufbauzeit der Universität geriet das Projekt in den Hintergrund - neue Aufgaben im Bereich der Geschäftsführung des Kollegs ließen es zum Privatvergnügen nach Feierabend werden. Drei Kinder sorgten für Verzögerungen im Bereich Forschungstätigkeiten und doch entwickelte sich auch dieses 'Baby' ganz langsam weiter. Einen Wachstumsschub erfasste es im Zuge der Zusammenarbeit mit Hans Joas, dessen Handlungstheorie 'Die Kreativität des Handelns' mir einen Schlüssel bot, um meine Überlegungen systematisch weiter zu entwickeln. Im Herbst 2013 wurden die Ergebnisse als Habilitationsschrift eingereicht und werden hiermit - nur geringfügig überarbeitet - einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Ein wesentliches Anliegen ist dabei nicht nur eine theoretische Fundierung für das Verständnis von Ehrenamt zu liefern, sondern zugleich auch Anregungen für eine konkrete Umsetzung wirtschafts- und sozialethischer Überlegungen zur Förderung des Ehrenamts. Das Ziel ist somit nicht nur ein Fachpublikum, sondern auch eine am Ehrenamt interessierte Öffentlichkeit zu erreichen.
Vielen bin ich zu großem Dank verpflichtet für kontinuierliche Unterstützung und Begleitung, allen voran meinen jeweiligen 'Chefs', die Dekane bzw. Direktoren des Max-Weber-Kollegs: Wolfgang Schluchter, der mich an das Max-Weber-Kolleg geholt hat und der ersten unbeholfenen Skizze meines Vorhabens Interesse entgegen brachte, Hans Joas, dessen Werk mir die größte Inspirationsquelle war und der mich in aller Freundschaft immer wieder mit kritischen Kommentaren zu meinen Entwürfen zu weiteren Verbesserungen anspornte, Wolfgang Spickermann, der mich in schwierigen Zeiten unterstützt und einen Forschungsaufenthalt zum Fertigstellen des Manuskripts ermöglicht hat, und schließlich Hartmut Rosa und Jörg Rüpke, die den Abschluss des Prüfungsverfahrens begleitet und mich insbesondere in der Phase der Veröffentlichung beraten und unterstützt haben.
Viele wichtige Gedanken und Impulse, Kommentare und Anregungen sowie Kritik und Verbesserungsvorschläge verdanke ich den Kolloquien und Diskussionen am Max-Weber-Kolleg mit unterschiedlichsten Fellows, Gastwissenschaftlerinnen, Kollegiaten sowie den Gesprächspartnern bei Vorträgen und Tagungen, wo ich immer wieder Teilergebnisse meiner Arbeit vorstellen und diskutieren durfte. In Seminaren des Studium Fundamentale habe ich - insbesondere in der Zusammenarbeit mit Annette Barkhaus - mit Studierenden ökonomische und philosophische Zugänge diskutiert und auf diese Weise meine Argumentation schärfen können. Mein sechswöchiger Aufenthalt am FRIAS (Freiburg Institute for Advanced Study) hat dazu beigetragen, dass ich mein Manuskript abschließen konnte. Ich danke den damaligen Leitern der School of History, Ulrich Herbert und Jörn Leonhard, für die Einladung und Wolfgang und Gudrun Reinhard dafür, dass sie mich in dieser Zeit bei sich aufgenommen und mit ihrer wunderbaren Gastfreundschaft für die allerbesten Arbeits- und Lebensbedingungen gesorgt haben.
Besondere Verdienste haben sich auch alle die erworben, die ganze Kapitel oder einzelne Textteile gelesen und kritisch kommentiert haben, u. a. Matthias Jung, Wolfgang Knöbl, Andrea Esser, Wolfgang Reinhard und viele andere. Den Gutachtern meiner Arbeit, Thomas Beschorner, Dietmar Mieth und Hans G. Nutzinger danke ich für wohlwollende Kritik. Christian Scherer hat mit großer Akribie formale Fehler bereinigt. Die Mitarbeiterinnen am Max-Weber-Kolleg, Ilona Bode, Ursula Birtel-Koltes, Diana Blanke, die auch mit großer Sorgfalt Literaturangaben in meine Endnote-Datenbank eingegeben hat, Doreen Hochberg und Diana Püschel, haben mich durch ihre selbständige Arbeitsweise und ihre große Leistungsbereitschaft im Alltagsgeschäft hervorragend unterstützt und entlastet. Allen genannten und vielen nicht genannten gebührt großer Dank.
Meine Eltern haben nie daran gezweifelt, dass ich dieses lang andauernde Projekt irgendwann auch abschließen würde; weitere Familienmitglieder, Freunde und Bekannte haben mit wohlwollendem Interesse mein Vorhaben begleitet und viele Erfahrungen im Bereich des Ehrenamts mit mir geteilt; meine Kinder und mein Mann haben es ertragen, dass ich viel Zeit - auch an Abenden, Wochenenden und im Urlaub - in dieses Vorhaben gesteckt habe, die für andere Aktivitäten nicht mehr zur Verfügung stand, mich auch über Durststrecken hinweg getragen und die Gefahr eines Tunnelblicks gebannt. Meiner Familie widme ich daher dieses Buch.
Erfurt, im Juni 2015
Bettina Hollstein



1.Das Phänomen Ehrenamt
Noch ein Buch zum 'Ehrenamt'! Wer braucht das? Es gibt doch bereits eine große Menge an Literatur zu diesem Thema - angefangen von politischen Verlautbarungen, die das Ehrenamt loben und seine weitere Stärkung fordern, bis hin zu wissenschaftlichen Untersuchungen. Die Anzahl der Artikel, Tagungen, Expertengespräche und wissenschaftlichen Publikationen zu diesem Phänomen hat seit den 1980er Jahren deutlich zugenommen und ist so umfangreich geworden, dass man nicht mehr behaupten kann, dass Ehrenamt ein vernachlässigtes Thema sei.
Hinzu kommt, dass viele Menschen entweder selbst schon einmal ehrenamtlich tätig waren oder jemanden kennen, der sich ehrenamtlich engagiert. Somit fühlen sich die meisten aufgrund ihrer Lebenserfahrung selbst als Experten für dieses Thema. Ein Bedarf an einer weiteren wissenschaftlichen Untersuchung eines so allgemein bekannten Phänomens drängt sich daher nicht unmittelbar auf.
Trotzdem wird hiermit ein weiteres Buch zum Ehrenamt vorgelegt. Es erhebt nicht den Anspruch, eine neue empirische Untersuchung zu einer bestimmten Gruppe von Ehrenamtlichen oder zu einer speziellen Organisation vorzulegen. Es zeichnet sich auch nicht durch einen neuen methodischen Zugang zur Analyse des Phänomens aus, etwa die Untersuchung von Beziehungen unter Ehrenamtlichen mit Hilfe von Langzeitbeobachtungen oder die vergleichende Analyse verschiedener Ehrenamtsorganisationen in unterschiedlichen Milieus, Ländern oder sonstigen Kontexten. All dies sind inte­ressante Aspekte, denen aber hier nicht nachgegangen werden soll.
Vielmehr soll versucht werden, anhand einer spezifischen Fragestellung die Fülle von Literatur und Materialien zum Ehrenamt zu sortieren und einzuordnen, um dieses Phänomen besser verstehen zu können. Worin diese Fragestellung besteht, entwickle ich im folgenden Abschnitt (1.1). Dabei möchte ich zeigen, dass die vorhandenen Untersuchungen häufig Blindstellen haben, die zu systematischen Problemen führen. Diese führen gegebenenfalls auch zu Fehleinschätzungen in Bezug auf die Möglichkeiten, ehrenamtliches Engagement zu fördern.
Die Förderung des Ehrenamts ist ein relativ unumstrittenes Ziel. 'Mehr davon, denn Ehrenamt ist wichtig!' So könnte man die vielen Stellungnahmen zu diesem Thema, die in anderen Punkten durchaus divergieren, zusammenfassen. 'Lediglich hinsichtlich der Meinung, dass bürgerschaftliches Engagement eine wichtige Funktion in der Gesellschaft hat und dass es zu fördern sei, besteht ein großer Konsens.' (Tschersich 2008: 1)
Auf breiter Front ist dieser Ruf nach mehr institutioneller Förderung des Ehrenamts zu vernehmen - sei es auf globaler oder EU-Ebene, auf Bundesebene oder lokaler Ebene. Das Jahr 2001 wurde von der UNO sogar zum Internationalen Jahr der Freiwilligen ausgerufen, was eine Fülle von Aktivitäten auf nationaler und regionaler Ebene nach sich zog.
Bereits im Jahr 1999 hatte der Deutsche Bundestag zu diesem Thema eine Enquete-Kommission einberufen, die 2002 ihren umfangreichen Bericht zur Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements vorlegte (Deutscher Bundestag 2001). Die Politik hat versucht, auf die vielfältigen Forderungen und Empfehlungen in Bezug auf ehrenamtliches Engagement zu reagieren. Bürgerschaftliches Engagement wird inzwischen 'als ein eigenständig zu entwickelndes Politikfeld' betrachtet, also als ein Bereich, welcher der Gesellschaft besonders wichtig ist und 'der Regulierung, der Förderung und des Schutzes bedarf' (Bundesministerium 2009: 15). Das Familienministerium lässt nunmehr die Lage und Perspektiven der bürgerschaftlich Engagierten regelmäßig untersuchen (Bundesministerium 2009) und zu diesem Zweck quantitative Daten zum Ehrenamt aller Art erheben und auswerten. Dabei ist ein wesentlicher Aspekt die Engage­mentpolitik, also die Frage, wie und auf welchen Ebenen (Staat, zivilgesellschaftliche Organisationen und Unternehmen) das Engagement am besten gefördert werden kann (Bundesministerium 2009: 145ff.). Das Bundesministerium des Inneren hat 2013 eine Broschüre veröffentlicht: Die kleine Helferfibel. So stärkt die Bundesregierung das Ehrenamt, die konkrete Hinweise zu Fördermöglichkeiten ehrenamtlichen Engagements gibt.
Man könnte meinen, dass angesichts dieser vielfältigen Aktivitäten zum Thema Ehrenamt und Ehrenamtsförderung bereits alles gesagt sei. Doch die bloße Feststellung, dass Ehrenamt wichtig sei und eine wichtige Funktion für die Gesellschaft erfülle, hilft nicht weiter, wenn man etwas über die Motive des Engagements erfahren möchte, und sagt noch nichts darüber aus, wie man es fördern könnte. Und selbst wenn man über die Mechanismen der Entstehung von Ehrenamt Klarheit hätte, erfordert die Beurteilung, welche Engagementpolitik 'die beste' sei, Kriterien, die nicht einfach objektiv ge­geben sind, sondern normativ reflektiert werden müssen. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es daher nicht nur, das Phänomen Ehrenamt besser zu verstehen und so die Mängel vorhandener Untersuchungen zu umgehen, sondern auch über angemessene Kriterien zur Beurteilung von Engagementpolitik nachzudenken, also ethische Überlegungen anzustellen.
Doch diese ethischen Reflexionen können erst am Ende eines Gedankengangs stehen, der sich entlang der zentralen Fragestellung dieser Arbeit entwickelt. Doch was ist diese Fragestellung?
1.1Fragestellung
Es geht hier darum, ehrenamtliches Engagement als Handeln zu verstehen. Das klingt zunächst wenig spektakulär. Dass Ehrenamtliche handeln, scheint eine Binsenweisheit zu sein. Doch schaut man genauer hin, so zeigt sich, dass die Frage, welche Vorstellungen man vom Handeln hat, sehr entscheidend ist, wenn es darum geht, beispielsweise die Motive der Ehrenamtlichen zu verstehen. Welche Bedeutung hat das Engagement für den Einzelnen, welche Gründe für das Engagement werden genannt, was motiviert ihn, warum engagiert er sich für bestimmte Dinge und nicht für andere? All diese Fragen stellen sich, wenn man nach den Motiven oder Handlungsgründen fragt, und ihre Beantwortung ist von besonderer Bedeutung, wenn man ehrenamtliches Handeln fördern möchte.
Mit einer solchen handlungstheoretischen Perspektive rückt man außerdem die Ehrenamtlichen als Akteure in das Zentrum der Untersuchung. Sie sind es, die agieren und gesellschaftliche Entwicklungen bewusst oder unbewusst in Gang bringen. Damit grenzt sich diese Untersuchung gegen eine weit verbreitete, aber vor dem Hintergrund handlungstheoretischer Überlegungen nicht unproblematische These ab, der zufolge wir es hier vor allem mit einem von den Handlungsmotiven der Einzelnen weitgehend unabhängigen gesellschaftlichen Prozess zu tun hätten, nämlich mit dem sogenannten Strukturwandel des Ehrenamts.
Diese These besagt, dass ein Wandel von einem gemeinwohlorientierten, langfristigen Ehrenamt altruistisch gesonnener Ehrenamtlicher in Traditionsverbänden zu einem projektbezogenen, kurzfristigen, bürgerschaftlichen Engagement eigennutzorientierter Individuen in Non-Profit-Organisationen stattfindet (Beher et al. 2000). Diese Entwicklung, die von einigen Autoren bedauert, von anderen begrüßt wird, wird in der Regel als quasi notwendige Folge von gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen dargestellt. Modernisierung der Gesellschaft besteht in dieser Perspektive in der Verknüpfung von Prozessen der zunehmenden Individualisierung, Säkularisierung und Ökonomisierung. Verdeutlicht wird dieser Wandel durch die Veränderung der Begriffe, mit denen dieses Phänomen beschrieben wird. Die altruistischen, normen- bzw. wertorientierten Ehrenamtlichen werden zu eigennutzorientierten aktiv Engagierten.
Dieser angebliche Wandel lässt sich anhand von zwei Beispielen, die diese Typen des traditionellen Ehrenamtlichen und des modernen aktiv Engagierten illustrieren sollen, verdeutlichen: Vor einiger Zeit erhielt Frau K. für ihr langjähriges ehrenamtliches Engagement speziell im kirchlichen Bereich das Bundesverdienstkreuz - die höchste Auszeichnung für Verdienste um das Gemeinwohl. Auf die Frage einer Journalistin, die sie angesichts dieser Auszeichnung für die Lokalzeitung interviewte, was denn Ehrenamt sei, antwortete sie: 'Das innere Bedürfnis, mich einzubringen - und die Freude, die ich daraus beziehe.' Als immer wiederkehrendes Motiv in ihrem durch das katholische Elternhaus geprägten Werdegang zieht sich die 'Bereitschaft zu helfen, etwas aufzubauen und zu gestalten', da 'Nächstenliebe nicht gepredigt, sondern gelebt' werden sollte (Steinke 2007: 3). Für das Foto in der Lokalzeitung hat sie sich vor die Kirche ihrer Gemeinde, in der sie sich engagierte, gestellt, Jesus am Kreuz unauffällig an ihrer Seite. Bei ihren unterschiedlichen Tätigkeiten im Kinder- und Jugendhilfeausschuss, im Stadtrat, im Pfarrgemeinderat, in der Kinderseelsorge oder der katholischen Ehevermittlung waren ihr Familie, Gemeinde und das Gebet Quelle von Kraft. Besonders engagiert hat sie sich nach eigener Auskunft dabei für die, die im Abseits stehen und durch die Zuwendung im Kontext der ehrenamtlichen Arbeit ein Stück Geborgenheit erfahren konnten.
Frau K. scheint beispielhaft für das sogenannte 'alte Ehrenamt' zu stehen. In einer religiös geprägten Tradition verwurzelt, von altruistischen Motiven bewegt, hat sie sich viele Jahre ehrenamtlich im Rahmen des katholischen Milieus engagiert. Sie stellt für die Verfechter der These vom Strukturwandel des Ehrenamts ein Auslaufmodell dar.
Das zweite Beispiel ist der Übungsleiter Herr S., der Woche für Woche beim Kinderturnen mit einem lauten 'Sport frei!' begrüßt wird, bevor nach dem 'Aufwärmrennen' sich die etwas mehr als ein Dutzend Vorschulkinder an Staffelspielen, Hindernisläufen, Fußball, Hockey, Hochsprung und sonstigen sportlichen Betätigungen versuchen. Als ausgebildeter Sportlehrer, der derzeit als Verwaltungsangestellter tätig ist, hat er hier die Möglichkeit, seiner ursprünglichen Qualifikation entsprechend tätig zu sein und diese Qualifikation aktuell zu halten. Vielleicht eröffnen sich für ihn auf diese Weise durch nützliche Kontakte im Vereinsbereich auch neue berufliche Perspektiven.
Engagement in dieser Weise als eine Investition in das eigene Human- bzw. Sozialkapital zu betrachten ist typisch für die sogenannte 'neue Freiwilligenarbeit' von Personen, die sich eigennützig und eher auf Projektbasis aktiv engagieren. Damit scheinen diese beiden Personen typische Beispiele für den Strukturwandel des Ehrenamts vom traditionellen altruistischen Ehrenamt zum modernen eigennutzorientierten Engagement zu liefern.
Doch schaut man genauer auf die Handlungsmotive unserer beiden Akteure, so ergeben sich Ungereimtheiten. Die Tätigkeit von Frau K. ist keine rein altruistisch motivierte Sozialarbeit im Dienste der Gesellschaft, denn schließlich zieht sie aus diesem Engagement nach eigenem Bekenntnis auch Freude und kann durch ihre Ehrenämter eigene Bedürfnissen befriedigen. Auch wenn man die genannten wertbezogenen Motive würdigen, also Ehrenamt als Ausdruck tiefer Wertbindungen verstehen will und diese Motive nicht einfach als Rhetorik der Nächstenliebe abtun möchte, sollten diese eigennützigen Motive des altruistischen ehrenamtlichen Handelns ebenfalls ernst genommen werden.
Aber auch das Handeln als Übungsleiter als eine rein eigennutzorientierte Investition zu deuten scheint der komplexen Motivationsstruktur von Herrn S. nicht gerecht zu werden. Reicht das Interesse an der Aktualisierung der eigenen Qualifikation, um einen Übungsleiter zu motivieren, sich jede Woche neue Aktivitäten auszudenken, den ohrenbetäubenden Lärm über sich ergehen zu lassen und mit einer undisziplinierten Bande kleiner Kinder eine Stunde zu verbringen? Die Deutung von Herrn S. als nutzenorientierter Engagierter übersieht auch sein Wissen um die große Bedeutung sportlicher Betätigung für die gesunde körperliche und geistige Entwicklung von Kindern in einer Zeit, in der immer mehr Kinder schon in jungen Jahren an Bewegungsmangel aufgrund hohen Fernseh- und Computerspielkonsums leiden. Ihm ist die Förderung wichtiger Eigenschaften wie Teamgeist und Gemeinschaftsgefühl durch gemeinsame sportliche Betätigung wichtig - auch ein Grund, warum er sich für das Sportstudium entschieden hatte. Herr S. genießt offensichtlich auch die öffentliche Anerkennung beim jährlichen Sportfest des Vereins und das Gefühl, einer persönlich befriedigenden und objektiv anerkannten Tätigkeit nachzugehen sowie einfach die Freude an der gemeinsamen Betätigung mit den Kindern. All dies lässt sich nicht unter die Rubrik 'eigennutzorientierte Investition' fassen.
Das ehrenamtliche Handeln scheint also zu facettenreich zu sein, um in den genannten Alternativen rein altruistischen oder rein nutzenorientierten Handelns aufzugehen. In dieser Arbeit soll es also darum gehen, ehrenamtliches Handeln unter Berücksichtigung der unterschiedlichen und miteinander verschränkten Motive der Akteure zu erklären, ohne von vornherein einen Trend vom altruistischen traditionellen Ehrenamt zum eigennutzorientierten modernen Engagement zu postulieren. Doch wie kann man das ehrenamtliche Handeln dann angemessen auf den Begriff bringen?
An dieser Stelle kommen die handlungstheoretischen Grundlagen ehrenamtlichen Handelns ins Spiel. Dabei hat die hier vorzulegende Analyse des Ehrenamts über die Erklärung des ehrenamtlichen Engagements hinaus einen zweiten Zweck, nämlich die unterschiedlichen Theorieangebote, die ehrenamtliches Handeln erklären wollen, auf ihre Erklärungskraft hin zu prüfen und zu bewerten. Am Beispiel des ehrenamtlichen Handelns kann dann auch erörtert werden, wie man Handeln überhaupt theoretisch fassen kann, wie sich die Handlungsmotive untereinander verschränken und wie sich Handlungsfähigkeit im gesellschaftlichen Kontext gestaltet. Die in der Forschungsliteratur dominierenden Theorien werden im Folgenden anhand empirischer Studien vorgestellt, die jeweils bestimmte Aspekte ehrenamtlichen Handelns exemplarisch in den Blick nehmen und andere mehr oder minder zwangsläufig ausblenden. Die große Anzahl empirischer Studien zum Ehrenamt kann hier natürlich nicht vollständig herangezogen werden, doch soll durch die Vorstellung typischer Studien und ihrer handlungstheoretischen Grundlagen die Einordnung in ein Raster von alternativen Theorieangeboten erleichtert werden.
Die These vom Strukturwandel des Ehrenamts geht von einer Ökonomisierung des Ehrenamts und einer zunehmenden Eigennutzorientierung der Engagierten aus. Es liegt daher nahe, sich zunächst die Erklärungsversuche für Engagement anzusehen, die ökonomische Eigennutzkalküle als handlungsleitend unterstellen. Mit Hilfe von Rational-Choice-Modellen wird hier Engagement auf der Mikroebene der Individuen erklärt, was dann auch zu bestimmten Folgerungen auf der gesellschaftlichen Ebene des 'Ehrenamtsmarktes' führt. Eine Erklärung von Ehrenamt in dieser ökonomischen oder nutzenorientierten Perspektive und die damit einhergehenden Modelle werden in Kapitel 2 vorgestellt und kritisch untersucht.
Das Gegenmodell zum ökonomischen Modell bilden sogenannte normativ orientierte Handlungstheorien. Hier spielen Werte und Normen als Motive der Ehrenamtlichen eine zentrale Rolle. Diese individuellen Werte und Normen sind mit der Identität der Ehrenamtlichen verbunden. Ehrenamt eröffnet in dieser Perspektive für die einzelnen Engagierten Sinndimensionen und ist Teil ihrer Vorstellung eines guten Lebens. Auf der gesellschaftlichen Ebene wird die Bedeutung von Werten, die sich im Engagement manifestieren, für den Erhalt von Demokratie und gesellschaftlichem Zusammenhalt thematisiert. Erklärungsversuche, die auf normativ orientierten Theorien beruhen, werden in Kapitel 3 behandelt und gewürdigt.
Als einen Versuch, diese beiden Theorieangebote zu verbinden, können kapitaltheoretische Ansätze bürgerschaftlichen Engagements gelten. Hierbei geht es um die Einbeziehung von verschiedenen Kapitalarten, wie etwa dem Sozialkapital, in die handlungstheoretische Erklärung ehrenamtlichen Engagements. Ehrenamt wird hier einerseits als individuelles Kapital und andererseits als gesellschaftliche Ressource verstanden. Eine beispielhafte Studie, die eine kapitaltheoretische Erklärung des Ehrenamts versucht, wird in Kapitel 4 vorgestellt und kritisch hinterfragt.
Schließlich sollen im fünften Kapitel die Potentiale eines alternativen Theorieangebots für ehrenamtliches Handeln ausgeleuchtet werden, nämlich diejenigen der neo­pragmatistischen Theorie der Kreativität des Handelns von Hans Joas (1996/1992). Es soll gezeigt werden, dass diese Theorie die Erklärungspotentiale der zuvor genannten Theorien integrieren kann und zugleich Lösungen für zentrale Probleme bietet, vor denen diese Theorien stehen. Hierzu zählen die Problematiken der Ziel-Mittel-Bezie­hung, der Körperlichkeit und der Sozialität des ehrenamtlichen Handelns.
Auf der Basis unterschiedlicher Handlungstheorien lassen sich unterschiedliche ethische Ansätze entwickeln. Daher soll diese handlungstheoretische Fundierung auch dazu genutzt werden, wirtschafts- und sozialethisch reflektierte Empfehlungen für die politisch gewünschte Förderung des Ehrenamts zu entwickeln. Im sechsten und letzten Kapitel werden daher auf der Basis der neopragmatistischen Handlungstheorie sozial- und wirtschafts­ethische Schlussfolgerungen gezogen, die die Beurteilung von Vorschlägen zur Förderung des Ehrenamts ermöglichen sollen. Diese Vorschläge sind nach Adressaten (Staat, Unternehmen und Organisationen des Dritten Sektors) aufgefächert und berücksichtigen jeweils institutionelle, wertbezogene und auf die soziale Praxis bezogene Aspekte des Handelns.
Doch bevor wir uns den konkreten Studien und ihren zugrunde liegenden theoretischen Annahmen widmen können, sollte noch kurz auf der begrifflichen Ebene geklärt werden, worüber wir reden - und worüber nicht.
Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Inhalt8
Vorwort10
1.Das Phänomen Ehrenamt13
1.1Fragestellung16
1.2Begrifflichkeiten21
1.3Ehrenamt in Zahlen43
1.4Motive ehrenamtlichen Handelns52
2.Ehrenamt als nutzenorientiertes Handeln62
2.1Eine Beispielstudie (Marcel Erlinghagen)63
2.2Der Nutzenbegriff69
2.3Ökonomische Modelle des Ehrenamts74
2.4Kritische Würdigung des ökonomischen Handlungsmodells101
3.Normativ orientierte Theorien des Ehrenamts136
3.1Eine Beispielstudie (Gisela Jakob)139
3.2Die Begriffe »Normen«, »Werte» und »Gemeinsinn«144
3.3Integrative Wirtschaftsethik, Identität, republikanischer Bürgersinn – Elemente normativ orientierter Theorien152
3.4Kritische Würdigung der normativ orientierten Handlungstheorien186
4.Integrationsversuch von nutzen­orientiertenund normativ orientierten Theorien: Kapitaltheoretische Ansätze213
4.1Eine Beispielstudie (Ludgera Vogt)214
4.2Der Begriff des Sozialkapitals221
4.3Kapitaltheoretische Theorien des Ehrenamts225
4.4Kritische Würdigung des kapitaltheoretischen Handlungsmodells240
5.Integrationsversuch durch eine Theorie der Kreativität des Handelns: Der neo­pragmatistische Ansatz von Hans Joas266
5.1Pragmatistische Grundbegriffe266
5.2Die Kreativität des Handelns273
5.3Bürgerschaftliches Engagement als kreatives Handeln290
5.4Kritische Würdigung der neopragmatistischen Handlungstheorie306
6.Folgerungen für die Förderung von bürgerschaftlichem Engagement in sozial- und wirtschaftsethischer Perspektive322
6.1Handlungstheorie, Anthropologie, Ethik322
6.2Aspekte einer handlungstheoretisch fundierten Sozial- und Wirtschaftsethik im Ehrenamt335
6.3Förderung von Engagement in ethischer Perspektive351
7Fazit407
Tabellen- und Grafikenverzeichnis411

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