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Eichmann war von empörender Dummheit

Gespräche und Briefe

AutorHannah Arendt, Joachim Fest
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl208 Seiten
ISBN9783492964494
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
In einem bislang unbekannten Briefwechsel und einer wiederentdeckten Radiosendung diskutieren Hannah Arendt und Joachim Fest über Adolf Eichmann und die Frage: Wie konnte ein »erschreckend normaler« Mensch zu einem Verbrecher werden, der als selbst ernannter »Spezialist« an entscheidender Stelle für den Völkermord an den europäischen Juden verantwortlich war?

Hannah Arendt, am 14. Oktober 1906 im heutigen Hannover geboren und am 4. Dezember 1975 in New York gestorben, studierte unter anderem Philosophie bei Martin Heidegger und Karl Jaspers, bei dem sie 1928 promovierte. 1933 emigrierte Arendt nach Paris, 1941 nach New York. Von 1946 bis 1948 arbeitete sie als Lektorin, danach als freie Autorin. Sie war Gastprofessorin in Princeton und Professorin an der University of Chicago. Ab 1967 lehrte sie an der New School for Social Research in New York.

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Leseprobe

Einleitung


 


»Das war die Dummheit, die so empörend war. Und das habe ich eigentlich gemeint mit der Banalität«, erklärt Hannah Arendt im Gespräch mit Joachim Fest. Ihr Bericht von der Banalität des Bösen[1] über den Jerusalemer Prozess gegen Adolf Eichmann, der als Leiter des »Judenreferats« im Reichssicherheitshauptamt für die Deportation von Millionen Menschen in die NS-Vernichtungslager verantwortlich war, hatte gleich nach Erscheinen eine erbitterte internationale Kontroverse ausgelöst. Wie konnte das »Böse« im Zusammenhang eines derartigen Verbrechens und Täters »banal« genannt werden? Arendt antwortet im Gespräch mit Fest, indem sie eine Geschichte aus Ernst Jüngers Tagebuch Strahlungen erzählt: »Fahrt zum Friseur. Dort Unterhaltung über die russischen Gefangenen, die man aus den Lagern zur Arbeit schickt. ›Da sollen böse Brüder drunter sein. Die fressen den Hunden das Futter weg.‹« Dass diese Menschen faktisch am Verhungern waren, war dem Friseur nicht in den Sinn gekommen. »Diese Dummheit«, so Arendt, »hat etwas wirklich Empörendes.« Eichmann sei in gewisser Hinsicht »intelligent« gewesen, »aber diese Dummheit hatte er. […] Da ist keine Tiefe – das ist nicht dämonisch! Das ist einfach der Unwille, sich je vorzustellen, was eigentlich mit dem anderen ist.«[2]


Joachim Fest stellte für Arendt einen besonders geeigneten Gesprächspartner dar, um diese kontroversen Fragen zu diskutieren. Sein Buch Das Gesicht des Dritten Reiches, wie das englische Original von Arendts Eichmann in Jerusalem 1963 erschienen, porträtierte erstmals die Führungsriege des NS-Regimes von Hitler über Himmler und Göring, von Ribbentrop und Heß bis Heydrich und Schirach. Die Geschichte jener Epoche mit Blick auf die politischen Führer zu schreiben, resümiert Fest im Schlusskapitel seines Buches, sei »nicht, wie man oft gemeint hat, eine Aufgabe der Dämonologie«. Vielmehr sei man mit dem Problem konfrontiert, wie »so viel Unvermögen, so viel Durchschnittlichkeit und charakterliche Nichtigkeit« mit den ungeheuren Verbrechen, die hiervon ausgingen, in einen begreifbaren Zusammenhang zu bringen sind.[3]


Arendt und Fest debattieren jene Fragen nicht nur im Rahmen der Radiosendung, die der Südwestdeutsche Rundfunk am 9. November 1964 ausstrahlte und die hier erstmals in Buchform dokumentiert wird,[4] sondern auch in bisher unbekannten Briefen, die beide Autoren zwischen 1964 und 1973 miteinander wechseln. Die Briefe begleiten die Jahre von Fests Zusammenarbeit als »vernehmender Lektor« mit Albert Speer[5], Hitlers vertrautem Architekten und späteren Rüstungsminister, aus der Speers Erinnerungen (1969) hervorgehen, sowie die Zeit, in der Fests Hitler-Biografie (1973) entsteht. Für Hannah Arendt markieren die Jahre nach dem Erscheinen von Eichmann in Jerusalem ebenfalls einen Wendepunkt: International angefeindet, steht sie im Mittelpunkt einer Kontroverse um die Darstellung und Bewertung der Verbrechen des NS-Regimes, in der selbst enge Weggefährten und Freunde sich von ihr abwenden. Sie wird dies zum Anlass nehmen, nicht nur über »Wahrheit und Politik« nachzudenken, sondern sich intensiv den Tätigkeiten des Denkens und Urteilens zuzuwenden. Ihre philosophische Hinterlassenschaft The Life of the Mind, an der sie während der Korrespondenz mit Fest zu arbeiten beginnt, nimmt die beunruhigende Frage aus der Konfrontation mit Eichmann wieder auf: Kann das Denken davor bewahren, Böses zu tun?[6]



Der international gesuchte NS-Verbrecher Adolf Eichmann wurde im Frühjahr 1960 in Argentinien vom israelischen Geheimdienst aufgespürt und nach Israel entführt. Zwischen April und Dezember 1961 stand der ehemalige SS-Obersturmbannführer, der die Wannsee-Konferenz mit vorbereitete sowie das Protokoll verfasste, in Jerusalem vor Gericht. Am Ende des Verfahrens wurde Eichmann zum Tode verurteilt und – nach erfolgloser Berufung sowie Ablehnung seines Gnadengesuchs – am 31. Mai 1962 hingerichtet. Hannah Arendt beobachtete das Verfahren als Berichterstatterin für die Zeitschrift The New Yorker. »An diesem Prozeß teilzunehmen ist irgendwie, so meine ich, eine Verpflichtung, die ich meiner Vergangenheit gegenüber habe«, schrieb sie vor ihrer Abreise zum Prozess nach Jerusalem.[7]


Die Jüdin Hannah Arendt hatte 1933 vor den Nazis fliehen müssen, zunächst nach Paris und 1941 weiter nach New York. Ihr Werk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 1955 auf Deutsch und vier Jahre früher auf Englisch erschienen, war eines der ersten Bücher, die den Epochenbruch jener Zeit reflektierten. Nach dem Krieg reiste Arendt häufig nach Europa und Deutschland, erstmals 1949/50 im Auftrag der Jewish Cultural Reconstruction, um geraubte jüdische Kulturgüter aufzufinden und sicherzustellen.[8] Ihr Lebensort blieb das Exil, 1951 wurde sie amerikanische Staatsbürgerin. Ihr politisch-theoretisches Denken aber war, neben Krisenerscheinungen der amerikanischen Republik, weiterhin der Vergangenheit und den Nachwirkungen des NS-Regimes verpflichtet. Sie bedauerte, »die Nürnberger Prozesse verpaßt« und »diese Leute nie leibhaftig« gesehen zu haben – das Verfahren gegen Eichmann bot ihr dazu, wie sie schrieb, »wahrscheinlich meine letzte Chance«.[9]


Die Erfahrung »leibhaftiger« Anschauung ist Arendt eine Voraussetzung des Denkens und Urteilens. Die beunruhigende Formulierung von der »Banalität des Bösen« gewinnt sie in einem Verfahren, staunend »dabei« zu sein, Worte zu suchen, den Eindrücken nachzudenken – in einem offen bleibenden, beweglichen Prozess. Sie ist nicht der Ableitung aus einer Theorie geschuldet oder gar als Mitteilung eines Ergebnisses anzusehen. Dieses Vorgehen hat nicht zuletzt damit zu tun, dass in Gestalt von Eichmann ein Verbrechen zur Anklage stand, vor dem überlieferte Kategorien wie »Mord« oder überzeugend »motivierte Täterschaft« versagten.


Nach Arendts Ansicht stand in Jerusalem ein Angeklagter vor Gericht, an dessen Schuld kein Zweifel bestand. Die Schwierigkeit für die Richter war, »Recht zu sprechen und der Gerechtigkeit Genüge zu tun«.[10] Dies hatte vor dem Hintergrund der Schoah zu geschehen, dem »Verwaltungsmassenmord«, für den es in der Geschichte keine Vorläufer gab. Im Unterschied zu anderen Genoziden wurden hier ganze Völker und Menschengruppen vernichtet, ohne dass es eine »zweckmäßige« Begründung gab: Juden, Polen, Sinti und Roma, Homosexuelle, körperlich Behinderte oder geistig Kranke wurden nicht etwa deshalb vertrieben und massenhaft umgebracht, weil es militärisch wichtige Regionen zu besetzen oder gefährliche Regimegegner auszuschalten galt. Ihr Tod war vollkommen »sinnlos«. Ihnen wurde das Daseinsrecht als Mitglieder der Menschengemeinschaft ausgeschlagen. Aus diesem Grund spricht Arendt von beispiellosen »Verbrechen gegen die Menschheit«, indem sie sich auf den Begriff »crimes against humanity«, wie ihn die Nürnberger Prozesse geprägt hatten, beruft. Die deutsche Übersetzung als »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« hält sie für eine unzulässige Verharmlosung, »als hätten es die Nazis lediglich an ›Menschlichkeit‹ fehlen lassen, als sie Millionen in die Gaskammern schickten«[11]. Seit den Nürnberger Prozessen von 1945/46 befasste sich in Jerusalem nun erstmals wieder ein Gericht mit einem Hauptverantwortlichen dieser Verbrechen.


Eichmann erklärte dem Jerusalemer Gericht, er habe sich mit der Geschichte des Zionismus beschäftigt und bei der Organisation der »Ausreise [sic] vieler Juden« mit Vertretern von deren Organisationen am selben »Strang gezogen«[12]. Sich vor Gott schuldig zu fühlen, zog er in seinen Aussagen in Erwägung, nicht aber vor dem Gesetz: Er habe lediglich getreu seinem Amtseid gehandelt, als kleines Rädchen im großen Getriebe, dessen Mahlwerk auch ohne ihn funktioniert hätte. Arendt nimmt Eichmanns Selbsteinschätzung insofern ernst, als sie sein Tun nicht als das Handeln eines Judenhassers oder ideologischen Fanatikers bewertet. »Tatsache war ja, daß er ›normal‹ und keine Ausnahme war«, so Arendt, »unter den Umständen des Dritten Reiches.«[13] Umstände, unter denen Adolf Hitler das Gesetz »Du sollst töten!« erlassen hatte. Eichmanns Gerede vom Handeln auf höheren Befehl indes enthüllt Arendt als simple Ausflucht vor der Verantwortung. Der »leibhaftige« Angeklagte in Jerusalem, so zeigten die Indizien inklusive seiner Aussagen, hatte bis hin zu konkreten Tötungsmechanismen in den Lagern »mit eigenen Augen gerade genug gesehen, um genau Bescheid zu wissen, wie die Vernichtungsmaschinerie funktionierte«[14]. Warum befolgte er dennoch die offensichtlich verbrecherischen Befehle seiner...

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