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Ein deutsches Klassenzimmer

30 Schüler, 22 Nationen, 14 Länder und ein Lehrer auf Weltreise

AutorJan Kammann
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl304 Seiten
ISBN9783492991902
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Jan Kammann unterrichtet Englisch und Geographie in einer internationalen Vorbereitungsklasse in Hamburg. Im Klassenraum kommen Schüler aus über zwanzig Nationen zusammen - aus Lebenswelten, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Eines Tages ist ihm klar: Er will mehr über ihre Herkunft wissen und kennenlernen, was für sie bis vor Kurzem ihre Heimat war. Kammann nimmt sich ein Sabbatjahr und zieht los; im Gepäck jede Menge Tipps, Adressen und Reiseempfehlungen seiner Schüler. Er erlebt den Alltag in Kuba, Nicaragua und Kolumbien, Südkorea, China, Russland, im Kosovo, in Albanien, Armenien, Iran und Ghana. Unkonventionell und warmherzig erzählt er vom Lehrersein heute. Und von der Welt, in der er selbst ein Jahr lang zum Schüler wird.

Jan Kammann, 1979 geboren, ist Lehrer für Englisch und Erdkunde an der Europaschule Gymnasium Hamm in Hamburg. 2016 nahm er ein Sabbatjahr und bereiste vierzehn der Länder, aus denen seine Schüler stammen.

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Leseprobe

PROLOG: SOMMER 2015

Hamburg – Sofia

Nach den letzten Ferien erschien Raina1 drei Tage zu spät in der Schule. Zu ihrer Entschuldigung führte sie die abenteuerliche Rückfahrt mit dem Bus aus Bulgarien an. Sie berichtete von Pannen, endlosen Umwegen durch die deutsche Provinz und der Müdigkeit, die sie nach der fast zweitägigen Fahrt erfasst hatte.

An einem sonnigen Morgen, es ist der erste Tag der Sommerferien, sitze ich selbst in einem bulgarischen Bus mit Ziel Sofia. In der Schule habe ich mir einen Spaß daraus gemacht, Raina zu warnen, dass ich ihre Ausrede selbstverständlich überprüfen werde. Schulpflichtverletzungen seien schließlich kein Kavaliersdelikt. Sie sagte, eine Busreise würde sie mir nicht unbedingt empfehlen, wohl aber Erholungsurlaub in den zentralbulgarischen Bergen oder am Schwarzen Meer. Ich war noch nie auf dem östlichen Balkan, und sicher würde mir eine solche Reise helfen, die Lebenswelt Rainas besser zu verstehen – und dazu gehört natürlich, dass ich Bus fahre.

Neben mir richtet Konstadin sich für die Fahrt ein. Er hat belegte Brote dabei und Süßigkeiten, die er in die Tasche am Sitz vor ihm stopft. Eingestiegen ist er zusammen mit mir am Hamburger ZOB in den fast leeren Bus. Er sitzt am Gang, ich am Fenster. »Es wäre doch angenehmer für uns beide, wenn wir jeweils eine ganze Bank nehmen. Platz genug haben wir ja«, sage ich. Er schaut mich amüsiert an und klärt mich auf, dass der Bus schon noch voll werden wird. Würden wir jetzt umziehen, müssten wir später wieder alles umräumen, und das sei doch viel zu umständlich. Dann bringt er seine Lehne in die Liegeposition, atmet tief durch und beginnt, sich von seinen Strapazen zu erholen.

Sieben Monate hat er auf Baustellen in ganz Norddeutschland gearbeitet, nun ist er auf der Heimreise nach Plewen in Nordbulgarien. Diese Reise hat er schon öfter gemacht, und deshalb weiß er, wie unberechenbar der Fahrplan ist. Anders als ich wundert Konstadin sich nicht über den Busfahrer, der schon kurz hinter den Elbbrücken die Autobahn wieder verlässt und uns über die Landstraßen der norddeutschen Tiefebene bis in das Dorf Hülseberg irgendwo im Elbe-Weser-Dreieck chauffiert. Hier halten wir auf einem Erdbeer- und Spargelhof. Gerade als ich mich frage, warum wir diesen umständlichen Umweg genommen haben, und ratlos aus dem Fenster schaue, kommt ein Grüppchen junger Frauen auf den Bus zu. Die Tür geht auf, alle steigen ein. Es herrscht gelöste Urlaubsstimmung. Es ist Mitte Juli, die Pflück- und Stechsaison ist zu Ende.

Die Fahrt geht weiter. Hier und da halten wir in kleinen Dörfern und sammeln weitere gut gelaunte Menschen ein. Ihnen ist es egal, dass wir schon über drei Stunden unterwegs, aber noch keine hundert Kilometer von Hamburg entfernt sind, als wir bei Soltau auf die A7 biegen. Bis Sofia sind es von hier noch ungefähr 2000 Kilometer. Bis Kassel geht es jetzt schneller. Hier fahren wir wieder von der Autobahn ab, kreuzen durch die halbe Stadt und finden in einem Gewerbegebiet eine kleine Gruppe Bauarbeiter, die fröhlich schwatzend zusteigt. Obwohl noch in Nordhessen, sind wir doch schon in Bulgarien. Alle Passagiere sind gut drauf, halten Small Talk auf Bulgarisch, es stellt sich ein Gefühl von Nachhausekommen ein. In Bayreuth steigt Studentin Natalie zu. Sie sitzt direkt vor mir, und es ist sehr praktisch, dass sie da ist, weil sie fließend Deutsch und Englisch spricht. Der Bus wird mit jedem Stopp voller und voller, und je länger die Fahrt dauert, desto mehr bekomme ich das Gefühl, auf einer Klassenfahrt zu sein. Meine Mitreisenden fragen sich allerdings, weshalb ich daran teilnehme. Sie wollen wissen, warum ich mir diese dreißigstündige Bustortur antue. Völlig untypisch für einen Deutschen, sagen sie. Diejenigen, die nach Bulgarien kämen, würden schließlich alle fliegen. Und das auch nicht nach Sofia, sondern direkt an die Schwarzmeerküste.

Ich erkläre ihnen meinen Plan: Ich bin Lehrer an einer Hamburger Schule, wo ich Schüler2 ehemaliger Internationaler Vorbereitungsklassen unterrichte. In diesen Klassen haben die Kids für ein Jahr Deutsch gelernt, erfolgreich eine Prüfung absolviert und befinden sich nun, kurz vor dem Übergang in Klasse 11, auf dem steinigen Weg in Richtung Schulabschluss. In meiner Klasse gibt es gleich zwei Schülerinnen aus Bulgarien, eine von ihnen ist Raina, die nach den Ferien immer zu spät kommt und die Schuld den Busfahrern gibt. Außerdem empfehlen beide Bulgarien als schönes Reiseziel. Sie schwärmen von Gastfreundlichkeit, ursprünglichen Landschaften und wunderschönen Stränden mit Sonnenscheingarantie. All dies möchte ich gerne kennenlernen.

Konstadin schaut mich verblüfft an. Wahrscheinlich fragt er sich, was mit diesem Deutschen nicht stimmt. Entweder sitzt neben ihm ein völlig verrückter Kontrollfreak oder einer, der nicht weiß, was er mit seiner Zeit anstellen soll. Oder beides. Dann lacht er laut auf, haut mir mit der flachen Hand auf den Oberschenkel und bietet mir Käsebrot und Süßigkeiten an.

Die Fahrt dauert und dauert. Nach Bayreuth kommen wir nach Erlangen, Nürnberg, Regensburg, Passau und Wien. In jeder Stadt nimmt der Fahrer weite Umwege in Kauf, um noch mehr Leute einzusammeln. Es ist jetzt mitten in der Nacht, und die Neuankömmlinge wirken, als hätten sie schon Stunden am Straßenrand gewartet. Die versprochene Ankunftszeit in Sofia ist auf diese Weise auf keinen Fall zu schaffen. Irgendwo kurz vor der ungarischen Grenze wird dann auch Konstadin ungeduldig. Lauthals beschwert er sich beim Busfahrer über Missmanagement und beschwört deutsche Tugenden. In Germania gebe es so etwas wie einen Zeitplan, man würde so eine Fahrt anders und vor allem besser organisieren.

Mittags in Ungarn steht die erbarmungslose Sonne auf dem Bus. Es ist unerträglich heiß, und obwohl die Fahrt jetzt schneller geht, weil keine neuen Passagiere mehr zusteigen, ist von der anfänglichen Urlaubsstimmung nicht mehr viel übrig. Apathie und Langeweile machen sich breit, die schnurgerade und fast leere Autobahn durch die ungarische Puszta wird zur Geduldsprobe.

Am späten Nachmittag überqueren wir endlich die Grenze nach Serbien. Je näher wir der bulgarischen Grenze kommen, desto lauter wird das Heimatbashing. Die fröhliche Stimmung ist endgültig gekippt. Nichts funktioniert, alles marode, Politiker korrupt. Als dann noch, nach mittlerweile 38-stündiger Fahrt, der Bus ausgerechnet auf der Zielgeraden kurz vor Sofia schlappmacht, ist das Gezeter groß. Katastroph! Unter großen Anstrengungen und im Schweiße ihres Angesichts gelingt es den Fahrern nach etwa zwei Stunden schließlich doch, den altersschwachen Motor wieder zum Laufen zu bringen.

Der Unmut der Fahrgäste ist durchaus berechtigt, wie ich finde: Es ist mittlerweile vier Uhr morgens, und viele haben ihre Anschlussmöglichkeiten in die Provinz verpasst. Sie richten sich auf dem Bahnhofsvorplatz ein, strecken sich lang aus mit ihrem Gepäck als Kopfkissen. Völlig zermürbt und kaputt von der Fahrt stehe auch ich am Bahnhof und denke an Raina. Auch sie muss von hier noch weiterfahren. Fast 500 Kilometer bis nach Dobritsch in Nordostbulgarien. Ich weiß jetzt: Ihre Fehlzeiten sind unbedingt zu entschuldigen. Nach über vierzig Stunden Busfahren brauche ich jetzt dringend den empfohlenen Erholungsurlaub in den Bergen und am Schwarzen Meer.

Nach drei Tagen Regeneration in Sofia fühle ich mich bereit, wieder in einen Bus zu steigen und mich dorthin auf den Weg zu machen. Zwei Wochen später fliege ich von Varna zurück nach Hamburg. Beim Blick aus dem Fenster gehe ich im Geiste meine Klassenliste durch. Wie wäre es, ich würde noch etwas weiter über meinen Hamburger Tellerrand blicken? Mich noch viel länger in fremden, mir bislang unbekannten Ländern und Gesellschaften aufhalten?

Afghanistan, Ghana, Spanien, Italien, Rumänien, Kosovo, Russland, Kolumbien, Nicaragua, Südkorea, Polen, Kroatien, Mazedonien, Armenien, Kasachstan, Iran, Albanien, Griechenland, die Schweiz und die Ukraine.

Diese Länder fallen mir ein. Ich würde die Lehrerrolle für eine Weile aufgeben und selbst wieder Lerner sein. Der Gedanke elektrisiert mich.

Hamburg

Im nächsten Schuljahr bereiten sich die Schüler auf den mittleren Abschluss vor, und ich plane meine Reise-Auszeit. Dafür beantrage ich ein Sabbatjahr, welches nur Tage später bewilligt wird. Welch Freude! Besonders praktisch ist, dass ich gewissermaßen täglich direkt an der Quelle sitze, um Ratschläge, Hinweise und Tipps zu bekommen, wie sie nur von echten Kennern, von Einheimischen eben, zu erhalten sind. Was muss ich unbedingt sehen, was darf ich auf keinen Fall auslassen, was unter keinen Umständen tun? Im Englischunterricht fordere ich meine Klasse 10d auf, mir Reiseführer für ihre Heimatländer zu basteln inklusive kleiner Sprachführer, damit ich wenigstens auf Begrüßungen reagieren und etwas zu essen bestellen kann. Wieder einmal wird mir klar, was für eine kognitive Leistung es eigentlich ist, Deutsch zu lernen und nur drei Jahre später eine Abschlussprüfung zu schreiben. In einem Farsikurs, den ich in der Volkshochschule belege, komme ich selbst an meine Grenzen. Mehrfach werde ich ermahnt, doch bitte die Hausaufgaben zu machen, sonst würde das nichts werden mit Small Talk im Iran.

Sprechen wollte ich Farsi, oder besser Dari, wie der afghanische Dialekt heißt, eigentlich in Kabul. Im ersten Schulhalbjahr habe ich viele Kontakte angebahnt und Möglichkeiten ausgelotet, nach Afghanistan zu reisen. Das Land sollte die erste Station auf der Reise zu meinen Schülern werden. Ich sprach mit...

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