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E-Book

Ein Jahr in Norwegen

Reise in den Alltag

AutorJulia Fellinger
VerlagVerlag Herder GmbH
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783451803994
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
'Endlich sind wir da und das erste, was mir auffällt, als wir aus dem Auto steigen, ist diese absolute Stille. Kein Laut ist zu hören, nicht einmal ein Lüftchen weht durch den spärlichen Baumbewuchs. Das Knirschen des Schnees wirkt durch die Stille tausendfach verstärkt. Das ist nicht gruselig, sondern faszinierend. Wo hat man das schon noch, dass man ganz weit abgeschnitten von der Zivilisation mitten in ursprünglicher Natur ist, und das alles dennoch innerhalb Europas?' Ein Jahr in Norwegen - in einer fantastischen Landschaft und mit einem Licht, das es nur hier, im Norden geben kann.

Julia Fellinger, Jahrgang 1972, ist freie Journalistin für verschiedene Medien. 2004 übernahm sie den Bereich Öffentlichkeitsarbeit bei der Deutsch-Norwegischen Handelskammer in Oslo.

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Leseprobe

April

„NOCH EINEN KILOMETER WEITER und das war’s für mich mit Norwegen.“ Ich stelle das Auto auf dem Parkplatz vor dem Haus ab, schalte den Motor aus und lehne erschöpft den Kopf ans Lenkrad. Die Lust auf Abenteuer ist mir im Augenblick gründlich vergangen. Ich bin einfach nur erledigt. Die plötzlich auftretende Stille legt sich wie eine weiche Decke sanft auf meinen geschundenen Körper. Nach mehr als zwölf Stunden Fahrt habe ich den Überblick über meine Gliedmaßen verloren. Meine rechte Pobacke hat sich seit einer kurzen Rast hinter Bergen in den Dämmerschlaf verabschiedet. Mit der letzten Fährüberfahrt kam noch ein schmerzhaftes Ziehen im Kreuz hinzu, das ich mir bei dem Versuch, Entspannung zu verschaffen, durch Dehnübungen an der Reling zugezogen habe. So fühlt sich also eine Auszeit an. Ich hatte mir das irgendwie entspannter vorgestellt. Hör auf zu jammern, blaffe ich mich an. Du bist selbst schuld. Na ja, ich und der Reisegefährte neben mir, der anscheinend genauso schlecht im Kartenlesen ist wie ich. Noch auf der Fähre von Hanstholm nach Kristiansand haben Hermann und ich uns über die Karte des westlichen Norwegens gebeugt und gemutmaßt, was es wohl bedeuten könnte, wenn eine eingezeichnete Straße plötzlich am Ufer endet, als gestrichelte Linie übers Wasser führt und dann auf der anderen Seite vom Fjord wieder weitergeht. Tunnel, tippte er. Brücke ich. Beides falsch. Als wir am Anleger stehen, zeigt sich, dass einzig und allein eine Fähre die asphaltierte Straße über das Wasser ersetzt. In der Realität bedeutet dies Wartezeiten und ein langsames Vorankommen. Wenn das die einzige Überraschung geblieben wäre, hätte ich mir das noch eingehen lassen. So aber ließen wir uns von der naiven Vorstellung verführen, die etwas längere Strecke möglichst nahe an der Küste sei besonders romantisch und maritim, weil der Atlantik hier nur noch eine Möwenlänge entfernt ist. Aber eigentlich ist Norwegen immer maritim, egal ob man über die Berge fährt oder den Blick aufs Meer hat, weil die Fjorde, diese langen, gewundenen Meeresadern, sich tief in das Landesinnere hineingraben. Wasser haben wir dann auch reichlich gesehen, nicht nur vom Seitenfenster, sondern vielmehr von unten, weil sich bei dem unbeständigen Aprilwetter immer wieder schwere Regenwolken über uns ausschütteten und unsere deutschen Scheibenwischer auf eine harte Belastungsprobe stellten. Was uns automatisch zur dritten Fehleinschätzung führt: Nur selten konnten wir die maximal erlaubten 80 Kilometer pro Stunde wirklich ausreizen. Kurven, Tunnel und Straßenverengungen machen es nahezu unmöglich, es mal ein bisschen laufen zu lassen. So mussten wir unsere Pi-mal-Daumen-Regel aus Deutschland, 100 Kilometer in etwas mehr als einer Stunde, bald verwerfen. Kristiansand-Høyanger, eine Strecke von rund 600 Kilometern, lässt sich niemals unter zehn Stunden schaffen. Wir haben über zwölf gebraucht. Jetzt sind wir auch schlauer.1

Die Erkenntnis, dass mit Geschwindigkeit und Eile diesem Land nicht beizukommen ist, wich bald darauf einem atemlosen Staunen über die unterschiedlichen Spielformen ungezügelter Natur. Wir zuckelten gemächlich über die Landstraße, die so wichtige Namen trägt wie Riksvei 9 oder Europastraße 39. Wir sahen weite, schneebedeckte Flächen zwischen tiefen, dunklen Tälern, die nur den warmen Sommer zu fürchten hatten, weil die Strahlen der Frühlingssonne kaum eine Chance haben, dorthin vorzudringen. Der Weg führte uns an sanften Hügeln eines Nationalparks entlang, den wir dank Landkarte als Folgefonna Nationalpark ausmachten. Hier war der Schnee schon an vielen Stellen weggeschmolzen, nur die Eisflächen des großen Gletschers leuchteten majestätisch im Hintergrund und zeigten sich uns immer wieder aus einer anderen Perspektive. Die Straßen sahen nach Schwerstarbeit aus: in den Fels gesprengte Wege mit einfachen Befestigungen gegen Steinschlag und Grabenstürze, an manchen Stellen gerade einmal so breit, dass Pferdefuhrwerke ganz bequem, Autos dagegen nur mit gedrosselter Geschwindigkeit aneinander vorbeikamen. Hin und wieder führte unser Weg durch kleine Ortschaften, die manchmal nicht mehr waren als ein oder zwei Bauernhöfe und ohne eigentlichen Ortskern. Die Wirtschaftsgebäude waren in einer unverwechselbaren tiefroten Farbe gestrichen, etwas schmuckvoller sahen die weißgetünchten Wohnhäuser aus, einige von ihnen waren aufwändig verziert mit Schnitzereien, die Ornamente und Drachenmotive an Giebeln und Balustraden zeigten.

Zwischendurch, wenn ich als Beifahrerin mehr der vorbeiziehenden Landschaft als den Straßen meine Aufmerksamkeit schenken konnte, überkam mich wieder diese erwartungsvolle Neugier. Diese große Lust auf etwas Neues und Unbekanntes. Norwegen scheint mir dafür der ideale Ort. Bis vor einem halben Jahr habe ich diese Gegend im Norden von Europa nur als weißen Fleck auf meiner persönlichen Landkarte geführt. Doch so unbekannt dieses Land im Augenblick noch für mich ist, es bedeutet jetzt schon Abwechslung, den Ausstieg aus alten Gewohnheiten, Begegnung mit dem Unbekannten, vielleicht auch neue Chancen. Ich hatte mich nach Studium und diversen Aufträgen als freie Journalistin für Zeitungen und Hörfunk zwischen Anspruch und Wirklichkeit aufgerieben. Die Sehnsucht nach einem Perspektivenwechsel war groß, deshalb entschied ich mich, die Gelegenheit, die sich mir bot, zu ergreifen, wenn auch vorerst nur für ein Jahr. Eigentlich war es Hermann, mein Freund, den es nach Norwegen zog – aus rein beruflichen Gründen. Er sollte in Høyanger, einer kleinen Kommune am Sognefjord, die Stelle eines kommunalen Landarztes antreten. Dafür hatte Høyanger aktiv in Deutschland geworben, um auf diese Weise die ärztliche Grundversorgung für ihre Bewohner zu sichern. Umzug, Unterkunft und Sprachkurs wurden von den Norwegern gestellt, auch für die Partner. Es lag also ein dreimonatiger Intensivsprachkurs in Berlin hinter uns, durch den ich mich nun zwar noch etwas unsicher, aber immerhin so weit sprachlich gefestigt fühle, leichte Konversation auf Norwegisch zu führen. Es kommt allerdings ein bisschen aufs Thema an. Ein wichtiger Bestandteil des Kurswortschatzes lag

nämlich im Patientengespräch. Ich weiß deshalb, dass mein eingeschlafenes Hinterteil rumpa heißt, und wenn ich morgen ausgeruht die ersten Schritte in meine neue Heimat-auf-Zeit mache, werde ich zumindest eine leichte gangsperre spüren, einen Muskelkater.

Als ich die Autotür öffne, schiebt sich der Kopf eines Monsters mit eisklaren Augen und einer buschigen Mähne durch die Öffnung. „Fenris, kom hit“, höre ich von hinten, und meine Erstarrung löst sich erst, als eine Hand das Ungeheuer am Halsband packt und nach hinten zieht. „Da er dokker endelig fremme? Det tok vel ei stund.“ Die Hand gehört zu Elin. Die kleine, drahtige Frau, die ihren Riesenhund für uns zurückhält, ist unsere erste Kontaktperson in der Gemeinde. Sie hat uns das möblierte Reihenhaus besorgt und den notwendigen Papierkram erledigt. Nun sollte sie uns die Schlüssel für das neue Zuhause aushändigen. Vermutlich sitzt mir der Schreck beim Anblick ihres Riesenviehs von Hund noch in den Knochen, ich habe nämlich kein Wort von dem verstanden, was sie gerade gesagt hat. „Unnskyld?“, Entschuldigung, frage ich nach und hebe die Augenbraue. Ich weiß nicht, woran es liegt, aber sie wiederholt das Gesagte, diesmal etwas langsamer, doch die Bedeutung will sich mir immer noch nicht erschließen. Als Elin in unsere verständnislosen Gesichter sieht, weicht sie auf Englisch aus, übersetzt: „Da seid ihr endlich. Das hat aber gedauert.“ Vermutlich fragt sie sich gerade, ob das Geld für den Intensivkurs wirklich gut investiert war. Für heute werde ich dem sprachlichen Mysterium wohl nicht mehr auf den Grund gehen. Das muss bis morgen warten. Vorsichtig tätschele ich den Kopf des Riesenhundes, der sich gefühlt auf Augen-, tatsächlich wohl aber doch nur auf Brusthöhe zu mir befindet. „Stor hund“, murmele ich, großer Hund. „Alaskan Malamute“, beantwortet Elin meine unausgesprochene Frage, ob so ein großes Tier für den Hausgebrauch überhaupt zulässig ist, oder vielleicht doch eher in das Reich der nordischen Mythologie gehört, aus dem Fenris2 für mich entsprungen zu sein scheint.

Wir hatten uns entschieden, kurz vor Ostern anzureisen und die Feiertage zur langsamen Eingewöhnung mit kleinen Erkundungstouren in die nähere Umgebung und dem ein oder anderen Restaurantbesuch zu nutzen. Was wir allerdings nicht wussten, war, dass Ostern in Norwegen zu den höchsten Feiertagen zählt, wobei der Grund dafür weniger religiöser als vielmehr traditioneller Natur ist. Zu dieser Jahreszeit sind die Schneeverhältnisse in den Bergen meist hervorragend. Hinzu kommt, dass die Tage nach den langen Wintermonaten endlich wärmer und auch deutlich länger sind. Um die ausklingende Wintersaison somit noch einmal so richtig genießen zu können, fahren Norweger deshalb nahezu geschlossen schon am Tag vor Gründonnerstag auf ihre Berghütten, weshalb der normale Betrieb (einschließlich Restaurants und Kulturveranstaltungen jeglicher Art) bis nach Ostermontag dadurch weitgehend zum Erliegen kommt. Ostern ist also eine feine Sache, vorausgesetzt, man hat einen vollen Kühlschrank oder zumindest ein gefülltes Bankkonto, mit dem man ihn noch schnell befüllen kann, bevor alles schließt. Wir haben beides nicht.

Anstatt also auf einem Stein am Fjord zu sitzen und den Wellen beim Schwappen zuzusehen, starten wir, auf Elins Anraten hin, den ersten Tag nach unserer Ankunft in fast schon gewohnter deutscher Hektik. Um Hermann aus der Gemeindekasse einen Vorschuss auf sein Gehalt zu geben, verschiebt der Finanzchef der Gemeinde seine Abreise...

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