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E-Book

Ein Jahr in Prag

Auswandern auf Zeit

AutorCorinna Anton
VerlagVerlag Herder GmbH
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783451807657
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Es sind die anderen, die unbekannten Seiten Prags, denen Corinna Anton verfällt. Ob sie im Land der Atheisten bei Nonnen zu Gast ist, die Kirchenkatze streichelt oder schlicht an Handwerkern scheitert, ob sie die Plattenbautäler durchstreift, einen kubistischen Kiosk bewundert oder die Kunst des Biertrinkens übt - irgendwann ist klar: Ein Jahr in Prag, zwischen Mi?ma? und ?tamgasti, ist unvergleichlich. Auswandern auf Zeit in eine magische Stadt.

Corinna Anton, geb. 1987, hat als freie Mitarbeiterin und Praktikantin unter anderem bei der Süddeutschen Zeitung den Lokaljournalismus kennen und lieben gelernt. Gleichzeitig hat sie Osteuropa studiert, dabei aber mehr Fragen als Erkenntnisse gewonnen. Seit 2014 versucht sie, die Tschechen zu verstehen, seit 2016 ist sie stellvertretende Chefredakteurin der Prager Zeitung.

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Leseprobe

Oktober
Strč prst skrz krk!

In meiner ersten Prager Nacht hatte ich nur zwei Gedanken: Wo kann ich am besten gleich morgen eine Matratze kaufen, und wie transportiere ich sie mit tramvaj und metro (so die Prager Bezeichnungen für Straßen- und U-Bahn) nach Hause? Von der möblierten Einzimmerwohnung in der Nähe des Karlsplatzes (Karlovo náměstí) war ich sofort begeistert. Mein Vermieter war ein leidenschaftlicher Hobbyhandwerker und hatte sie nicht mit deutscher Gründlichkeit, dafür aber mit umso mehr Liebe zum Detail in einen gemütlichen Rückzugsort verwandelt. Tisch und Kommode hatten Holzwurmspuren und kamen offenbar vom Flohmarkt oder einer Wohnungsauflösung. Ansonsten hatten sie nichts gemeinsam. An der Wand hing eine Toskana-Landschaft neben schneebedeckten Prager Dächern. Weder der Stil der Gemälde noch ihre Rahmen passten zusammen. Das Bett stand zwischen zwei Schränken – der eine antik verschnörkelt, der andere quadratisch, praktisch, kommunistisch. Sie waren so angeordnet, dass sie ein Mini-Schlafzimmer bildeten. Ich betrat es durch eine improvisierte Schwingtür aus zwei farblich verschiedenen Holzbrettern. Das Zimmer war ein Graus für jeden Perfektionisten und eine Höhle, in die ich unbedingt einziehen wollte. Einziger Schwachpunkt war – und das merkte ich erst jetzt – die durchgelegene Matratze. Ich spürte die ganze Nacht über jede einzelne Strebe des Lattenrostes. Mein Rücken schmerzte, und ich überlegte, ob ich den Kauf einer Matratze problemlos auf Tschechisch bewältigen könnte. Mit meinem chytrý telefon (die Tschechen übersetzen Smartphone und ähnliche Begriffe oft wörtlich) googelte ich Matratzengeschäfte in der Nähe.

Die Verbesserung meiner Schlafsituation rutschte im Laufe der nächsten Tage immer weiter nach unten auf der Prioritätenliste. Zuerst wollte ich mich anmelden, damit alles seine Ordnung hat. Als EU-Bürgerin brauche ich zwar weder eine Arbeitserlaubnis noch eine Aufenthaltsgenehmigung, aber die Behörden hier wollen trotzdem informiert werden, wenn man sich mehr als drei Monate in ihrem Land aufhält. Welches Amt in meinem Fall das richtige war, blieb mir auch nach gründlicher Recherche ein Rätsel: Die Angaben, die ich im Internet fand, waren widersprüchlich und deckten sich nicht mit den Erfahrungsberichten meiner Kollegen. Offenbar war je nach Stadtbezirk eine andere Dienststelle zuständig, was aber nicht hieß, dass die auch nur annähernd in der Nähe dieses Bezirks lag. „Wir leben halt in einem Land ohne Regeln“, sagte unser Fotograf Ondřej, den ich in meiner Verzweiflung um Rat fragte. Obwohl Ondřej schon seit Jahren für die „Prager Zeitung“ arbeitet, spricht er kein Wort Deutsch. Den Versuch, schwierige tschechische Sätze zu formulieren, belohnt er dafür meist mit einem anerkennenden Nicken. Wenn er gute Laune hat. Außerdem distanziert sich Ondřej gerne von seinen Mitbürgern. Wenn er sagt, Tschechien sei ein Land ohne Regeln, dann meint er damit nämlich keinesfalls sich selbst. Er erledigt keinen Auftrag, der nicht fein säuberlich auf seiner penibel geführten und jeden Mittwoch neu ausgedruckten Excel-Liste geschrieben steht. Ich wette, er hätte beim Anblick meiner Schlafzimmerkonstruktion die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. Und schon nach ein paar Tagen in der Redaktion traute ich mich, meine Uhr auf 11.58 zu stellen, wenn er sich auf den Weg zum Mittagessen machte.

Bei meinem Behördenproblem konnte er mir aber nicht helfen, also versuchte ich mein Glück einfach bei der Ausländerpolizei, nicht weit entfernt von der Redaktion. Offenbar hatte ich einen guten Tag erwischt. Schon eine knappe Stunde nachdem ich eine Nummer gezogen hatte, durfte ich das Zimmer betreten, in dem ein Beamter in Uniform hinter dem Schreibtisch saß. Er begrüßte mich nicht gerade überfreundlich, aber als er merkte, dass ich ganz passabel Tschechisch sprach, wurde seine Laune spürbar besser. Konzentriert tippte er meinen Namen – ein doppeltes N kommt im Tschechischen so gut wie nie vor – in seinen Computer. Dann setzte er ein überlegenes Lächeln auf. „Aha, im Juli 2011 waren Sie also schon einmal in der Tschechischen Republik – in Jihlava“, stellte er fest. Ich weiß nicht, ob er meinen erschrockenen Gesichtsausdruck bemerkte. Ein paar Sekunden überlegte ich, was ich damals verbrochen haben könnte. Für einen Artikel über einen tschechischen Regisseur, der mit seinen Dokumentarfilmen über das Ende des Zweiten Weltkriegs und die Vertreibung der Deutschen tschechische Tabus gebrochen hatte, verbrachte ich damals zwei Tage in Jihlava. Die heute etwa 50 000 Einwohner zählende Stadt zwischen Prag und Brünn war als Iglau einst Teil einer deutschen Sprachinsel. Mir ist von dem Ausflug aber vor allem das McDonald’s im Zentrum in Erinnerung geblieben, in dem ich nach einer langen Nachtbusfahrt ein Eis gefrühstückt hatte. Ein tschechischer Kollege hatte mich dazu eingeladen. Hatte ich vielleicht mein Zimmer im Hotel nicht bezahlt? Bei Rot eine Fußgängerampel überquert? Da der Polizist nichts weiter sagte, fragte ich nicht nach und nickte nur. „Da sehen Sie mal, was wir alles wissen“, grinste er jetzt. Aus Ratlosigkeit lächelte ich zurück. Wenn der Aufenthalt in Jihlava der einzige war, der in seinem Computer vermerkt war, wusste er ziemlich wenig, dachte ich. Dass ich auch schon in Olomouc und Liberec, im Böhmerwald und im Riesengebirge war und nun nicht zum ersten Mal in Prag, behielt ich aber lieber für mich und bastelte mir meine eigene Erklärung: Entweder die Hotelbetreiber in Jihlava waren die einzigen, die mich als ausländischen Übernachtungsgast ordnungsgemäß bei der Fremdenpolizei angemeldet hatten. Oder der Polizist hatte zufällig Jihlava herausgegriffen, weil er selbst von dort kam und sich freute, dass ich seine Heimatstadt kannte. Das klang plausibel, aber seine Herkunft war nicht Thema unseres Gesprächs.

„Grund des Aufenthalts?“, las er jetzt von seinem Computerbildschirm ab. Solche Fragen können zum falschen Zeitpunkt leicht eine mittelschwere Sinnkrise auslösen. Spätestens heute Abend, wenn ich noch einmal auf dem Hauch von einer Matratze liege und meinen Freund mit WhatsApp-Nachrichten bombardiere, werde ich mich wieder fragen, was ich hier eigentlich mache. Abgesehen davon, dass die Stadt mich magisch anzog, gab es schon noch andere Gründe für meine Flucht nach Osten, mehrere sogar. Einen behielt ich aber vorsichtshalber meistens erstmal für mich, ein anderer sollte mir erst im Laufe der zwölf Monate dämmern, und ein dritter war hoffnungslos idealistisch: Als Journalistin wollte ich meinen Beitrag zur Verbesserung der Welt oder zumindest der deutsch-tschechischen Beziehungen leisten, wollte schonungslos mit Vorurteilen aufräumen und den Menschen westlich der Grenze das Nachbarland im Osten mit meinen Geschichten näherbringen. Dass das mehr als 25 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs noch immer dringend nötig war, hatte ich vor meiner Abreise immer wieder erlebt. „Was willst du denn in der Tschechei?“ war noch eine der harmloseren Fragen, bei der ich nicht müde wurde, mein Gegenüber – egal, ob Hochschulprofessor oder Pfarrgemeinderatsvorsitzende – höflich darauf aufmerksam zu machen, dass diese Bezeichnung heute nicht mehr gerne gehört werde. Die Nationalsozialisten verwendeten sie, als sie sich im März 1939 das einverleibten, was sie „Rest-Tschechei“ nannten. Fast ebenso verbreitet waren Aussagen wie: „Oh, Prag soll schön sein, wir kommen dich besuchen. Aber mit unserem neuen Auto trauen wir uns nicht zu den Tschechen fahren, wir nehmen lieber den Bus.“ Einfühlsame und wachrüttelnde Artikel waren gefragt, um den Lesern zu zeigen, dass auch in Prag Menschen leben wie du und ich. Menschen mit kleinen Macken und großen Wünschen, mit verrückten Träumen und berührenden Schicksalen.

„Studium?“ Der Polizist riss mich aus meinen Gedanken. So genau wollte er es also gar nicht wissen, ich musste die Antwort auf ein Wort reduzieren. „Nein, Arbeit“, sagte ich, und damit war die Sache erledigt, die Sinnkrise vorübergehend abgewendet. Der Mann, der vermutlich aus Jihlava kam, füllte das Formular aus und überreichte mir einen kleinen Zettel aus dünnem Papier, der alles und nichts hätte sein können und sich schon bald in den Tiefen meines Geldbeutels zwischen Zehn-Euro- und Tausend-Kronen-Scheinen in Luft auflösen würde. Mit dem Zettel sollte ich innerhalb der nächsten drei Monate auf ein anderes Amt, das mir dann eine Bescheinigung über meinen vorübergehenden Aufenthalt ausstellen würde. Ich beschloss jedoch, erst einmal ein paar Wochen verstreichen zu lassen.

Es ist ohnehin nicht gesagt, dass ich es überhaupt so lange hier aushalten werde, denke ich ein paar Tage später auf dem Weg zur Straßenbahn. Aber ich will Prag eine Chance geben, deshalb beschließe ich, einen Umweg zu machen und den vielleicht letzten milden Oktoberabend für einen Spaziergang durch Žižkov zu nutzen. Das Viertel liegt östlich des Zentrums – weit genug, um von großen Touristenscharen verschont zu bleiben und nah genug, um mit tramvaj oder metro in zehn bis zwanzig Minuten den Hauptbahnhof, Wenzelsplatz oder Altstädter Ring zu erreichen. Manche Reiseführer bezeichnen Žižkov als Künstler- und Kneipen-, ehemaliges Arbeiter- oder Szeneviertel. Ich kann damit nicht viel anfangen. Für mich ist es bisher einfach die Gegend, in der sich die Redaktion befindet; die lange, unspektakuläre Jeseniova-Straße mit ihren Wohn- und Bürogebäuden auf der einen und dem grünen Parukářka-Hügel auf der anderen Seite.

So unauffällig wie möglich folge ich einem Hundebesitzer, der seinen katzengroßen Vierbeiner Gassi führt, über den...

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