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E-Book

Ein Jahr in Venedig

Reise in den Alltag

AutorFrauke Schlieckau
VerlagVerlag Herder GmbH
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783451804311
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Die magische Anziehungskraft der Lagunenstadt. Das Versprechen, Teil einer einzigartigen Welt zu sein. Aber was passiert, wenn das Leben an diesem Ort zum Alltag wird? Frauke Schlieckau erzählt von einem Jahr in einer Stadt, die auf Pfählen ins Meer gebaut ist, in der es keine Autos, aber jede Menge Sagen und Mythen gibt ...

Frauke Schlieckau studierte Neuere Deutsche Literatur, Kunstgeschichte und Theaterwissenschaft in Berlin und Venedig. Sie lebt als freie Journalistin in Berlin und arbeitete u. a. für Hit-Radio Antenne, NBC Giga, ZDF aspekte und als Redakteurin und Moderatorin für die tägliche Livesendung 'lettra! Die Show' des Premiere-Literatursenders lettra.

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Leseprobe

Ankunft in Venedig


„Wo immer man ist, das wahre Venedig ist stets anderswo. Wenigstens mir geht es so. (...) Hielte ich mich nicht zurück, so wäre ich den ganzen Tag unterwegs auf den Brücken oder in den Gondeln und suchte verzweifelt das geheime Venedig vom andern Ufer. Freilich, sobald ich dort ankomme, schwindet alles wieder dahin; ich drehe mich um: da steht das stille Geheimnis wieder auf der anderen Seite. Schon lange habe ich mich darein ergeben: Venedig ist dort, wo ich nicht bin.“

(JEAN-PAUL SARTRE)

ES WAR VALENTINSTAG, als ich in Venedig ankam. Hinter mir lag eine vierzehnstündige Reise mit der Bahn, von Berlin über die Alpen, durch Südtirol bis in die Lagunenstadt. Meine Entscheidung, den Zug zu nehmen, hing vor allem damit zusammen, dass ich nur ungern in ein Flugzeug stieg. Außerdem wollte ich die Entfernung spüren, die ich während der Nacht zurücklegte und die von nun an zwischen mir und meinem alten Leben lag.

Jetzt dachte ich an den vergangenen Morgen, als zum letzten Mal die Tür meiner Berliner Altbauwohnung hinter mir ins Schloss gefallen war, ein Geräusch, bei dem mich eine Art Angst vor meiner eigenen Courage überfiel. Ich hatte einen letzten Blick hinter mich geworfen, in den dunklen Hausflur, in dem nichts zurückblieb, außer ein paar leeren Kartons. Nach einem kurzen Zögern war ich schnell die Treppe hinuntergelaufen, um den Schlüssel für die Vermieterin durch den rostigen Briefkastenschlitz gleiten zu lassen. Unten auf der Straße wartete bereits das Taxi, das mich zum Bahnhof brachte.

Mit dem Nachtzug nach Venedig – die romantische Vorstellung, die, abgesehen von der Tatsache, dass ich nicht gerne flog, dafür verantwortlich war, dass ich diese Reiseroute gewählt hatte, sollte nur wenig mit der Realität zu tun haben, denn ich verbrachte einen Großteil der Fahrt in einem stickigen Viererabteil. Oben rechts auf der schmalen Liege, zusammengefaltet in der Embryonalstellung und eingewickelt in eine kratzige Plastikdecke der Deutschen Bahn, lag ich lange in der Dunkelheit wach und lauschte den Geräuschen, die der Zug auf den Schienen hinterließ.

Was um Himmels willen habe ich hier eigentlich verloren, fragte ich mich, während draußen die nächtlichen Lichter Deutschlands vorbeiflogen, und sehnte mich nach meiner Berliner Wohnung. Wie gut könnte ich es dort jetzt haben, hätte mich nur nicht auf einmal dieses unbändige Fernweh gepackt! Mehrmals hatte ich mich umgedreht, um eine halbwegs bequeme Position zu finden, in der ich es die Nacht über trotz der unregelmäßigen Bewegung des Zuges aushalten konnte.

Auf der Liege unter mir löschte mein Mitreisender das Leselämpchen. In München zugestiegen, war der Ingenieur, der für eine deutsche Firma arbeitete, auf dem Weg zu Frau und Kindern, die in Bozen lebten. „Flugangst?“, hatte ich gefragt, in der Hoffnung auf einen Leidensgenossen gestoßen zu sein. „Ich doch nicht. Ich finde nur die verschneite Landschaft in Südtirol so großartig, dass ich lieber Zug fahre!“, hatte er schlecht gelogen, während er die Krawatte löste, um sich samt seinem noch faltenfreien Anzug schlafen zu legen. Eine Weile lauschte ich seinem langsam regelmäßiger werdenden Atem. Dann schloss auch ich die Augen, nur um wenig später wieder aufzuwachen, als der Zug über den Brenner ratterte und kurz darauf, irgendwo im Niemandsland, auf unbestimmte Zeit stehen blieb. Italienische Stimmen drangen an mein Ohr, dann hörte ich, dass Waggonteile ab- und wieder angekoppelt wurden, bevor sich der klapprige Nachtzug erneut in Bewegung setzte. Mein Schlaf blieb von nun an leicht, ich registrierte jedes ungewohnte Geräusch, und so war ich lange vor dem Zeitpunkt wach, als der Zugbegleiter uns weckte, um heißen Kaffee in das Abteil zu reichen. Mein Mitreisender und ich lächelten uns verschlafen zu, dann blickten wir schweigend aus dem Fenster.

Während ich meinen Kaffee trank, dachte ich daran, wie alles begonnen hatte und dass, genau genommen, eine Reise nach Paris dafür verantwortlich war, dass ich mich nun auf dem Weg nach Italien befand. Ich studierte gerade im sechsten Semester, als mein Freund für ein Praktikum in die französische Hauptstadt ging. Als ich ihn dort besuchte, wurde mir mit einem Mal klar, was ich, daheim in Berlin sitzend, verpasste, angefangen vom Leben in einer internationalen und chaotischen Wohngemeinschaft, der Möglichkeit, eine neue Sprache zu lernen, die unzähligen Bekanntschaften, die in den lauen Sommernächten vor den Bars und Cafés geschlossen wurden, und nicht zuletzt die Gelegenheit, eine fremde Stadt zu erkunden und zu einem Zuhause zu machen. Die leise Ahnung, dass die Erfahrungen eines Auslandsaufenthaltes mehr wert waren als nur die Möglichkeit, einen aufpolierten Lebenslauf vorzeigen zu können, wurde schnell zur Gewissheit. Ich hatte in nur wenigen Tagen begriffen, dass eine solche Zeit Menschen verändern kann. Dass sie diejenigen, die diese Erfahrung teilen, zusammenschweißt und dass sie darüber hinaus nur von jenen verstandenen werden konnte, die selbst teilgenommen hatten an dem Abenteuer Ausland.

Ich erinnere mich noch gut daran, wie damals der Widerwille in mir erwacht war, länger von einem solchen Erlebnis ausgeschlossen zu sein. „Ich gehe für ein Semester ins Ausland“, hatte ich daher eines Abends meinem Freund am Telefon verkündet. Der erwartete Protest am anderen Ende der Leitung war ausgeblieben. „Wieso gehst du nicht gleich ein Jahr?“, sagte er stattdessen nach kurzem Zögern. Ich hatte aufgelegt und mich noch am selben Tag für ein Studentenaustauschprogramm beworben. Von meinem Freund trennte ich mich kurz nach seiner Rückkehr aus Paris, nur wenige Monate vor meiner Abreise. Im Nachhinein würde ich es als glückliche Fügung bezeichnen. Denn auf ein neues Land kann sich nur einlassen, wer nicht noch mit halbem Herzen in der Heimat ist.

Den warmen Pappbecher in der Hand hing ich meinen Gedanken nach, während ich durch das Zugfenster hinaus auf das zugefrorene Südtirol schaute. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass der Winter hier lange währte. Eine Annahme, die auf Kindheitserinnerungen an die Toskana beruhte und die genauso falsch war wie die Idee, dass ich die Italiener mit meinen rudimentären Italienischkenntnissen aus den – zugegebenermaßen bereits lange zurückliegenden – Ferien einigermaßen verstehen würde.

Dass zumindest Letzteres ein Irrtum war, hatte ich bereits festgestellt, als ich mich von meinem Berliner Küchentisch aus daran machte, eine Unterkunft in Venedig zu finden. Vor allem der Versuch, ein Einzelzimmer zu ergattern, das ich nicht mit einer anderen Studentin teilen musste, glich einer unüberwindbaren Hürde, was nicht nur an der Sprachbarriere lag, die zwischen mir und den Gesprächspartnern am anderen Ende der Leitung existierte, sondern vor allem daran, dass offensichtlich ganz Venedig in Doppelzimmern zu leben schien.

Die Angewohnheit der italienischen Studenten, in sogenannten camere doppie zu wohnen, hatte mich zu Anfang erstaunt, und als ich feststellte, dass es aufgrund der venezianischen Mietpreise, die der Tourismus in schwindelerregende Höhe getrieben hatte, kaum Einzelzimmer gab, erst recht in dem Entschluss bestärkt, eine Unterkunft zu finden, die ich mit niemandem teilen musste. Nachdem ich aber einige Tage am Telefon verbracht hatte und dank meiner Ansprüche immer noch ohne Bleibe war, während die Abreise langsam näher und näher rückte, hatte ich resigniert aufgegeben. Ich beschloss, das einzige freie Zimmer – oder besser halbe Zimmer –, das ich von Deutschland aus finden konnte, zu nehmen und zumindest für die ersten drei Monate in ein im Viertel Dorsoduro gelegenes Wohnheim zu ziehen.

In Bozen war mein Mitreisender ausgestiegen, nicht ohne mir viel Glück für mein Jahr im Ausland zu wünschen und mir die Telefonnummer eines Bekannten von ihm zu notieren, der in der Nähe von Venedig ein Weingut führte. „Für den Fall, dass du irgendwann genug von der Insel hast und wieder festen Boden unter den Füßen brauchst!“, sagte er und wünschte mir viel Glück für meinen Start in der Lagune. Als der Zug anrollte, winkte er mir noch einmal zu, dann schloss er seine Frau in die Arme, die ihm auf dem Bahnsteig entgegengegangen war.

Kurz darauf passierten wir Verona. Ich faltete das Bettzeug zusammen, wusch mich notdürftig in einer der blechernen Kabinen und lief aufgeregt den Gang vor meinem Abteil auf und ab. Als wenig später rechts und links des Zuges endlich die Lagune von Venedig sichtbar wurde und der Zug die Ponte della Libertà, jene Anfang der 1930er Jahre gebaute Brücke der Freiheit, die 1933 von Benito Mussolini dem Verkehr übergeben wurde und seitdem die Insel mit dem Festland verbindet, überquerte, um in den Bahnhof Venezia Santa Lucia einzufahren, spiegelte sich die helle Februarsonne auf der Wasseroberfläche.

Langsam und quietschend waren wenig später die zahlreichen Wagen des Zuges zum Stehen gekommen. Ich kletterte aus dem Waggon und bugsierte mühsam ein Gepäckstück nach dem anderen aus dem Abteil, bis endlich alles auf dem Bahnsteig lag. In der hohen Bahnhofshalle herrschte geschäftiges Treiben. Gepäckwagen waren weit und breit nicht zu sehen, und so schob ich meine Sachen Stück für Stück mit den Füßen das Gleis entlang Richtung Ausgang. Bis ich in der Gepäckverwahrung angelangt war und mein gesamtes Hab und Gut dort untergebracht hatte, schien eine Ewigkeit vergangen. Dann trat ich hinaus ins Freie. Kalte klare Luft schlug mir entgegen.Vor mir lag, grün schimmernd im Morgenlicht, der Canal Grande.

Wie so viele Besucher der Lagunenstadt hatte auch ich...

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