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E-Book

Ein Jahr in Wien

Reise in den Alltag

AutorTonja Pölitz
VerlagVerlag Herder GmbH
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783451801006
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Wien rangiert ganz vorn in Sachen Lebensqualität, Österreich auf Platz 8 der glücklichsten Länder. Das Essen ist besser, die Menschen gemütlicher und Jobs besser bezahlt. Tausende Deutsche wandern deshalb jedes Jahr nach Österreich aus. Dass die Deutschen sein Land mögen, mag auch der Österreicher. Er schätzt es, für den großen Bruder nebenan endlich attraktiv zu sein. Dafür hat er sich an die sächselnde Bedienung in Skihütten, an Fiaker-Fahrer aus Bochum und den preußischen Ton in Chefetagen gewöhnt. Aber es ist immer noch sein Land und es sind seine Regeln. Ein Jahr in Wien begann für Tonja Pölitz deshalb ganz und gar nicht wie im Bilderbuch, sondern mit Kaffee-Knigge, Tüten-Aufsicht und mit der Frage: Was wäre Wien ohne Wiener?

Tonja Pölitz ist Korrespondentin im ZDF-Studio Wien und zuständig für die Berichterstattung aus Österreich und Südosteuropa. Sie ist Autorin zahlreicher gesellschaftspolitischer Filme für ZDF, ARTE, 3sat und Phoenix. Seit 2008 lebt sie in Wien.

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Leseprobe

August
Wien ist anders

HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH! Sie haben entweder aufmerksame Freunde oder Sie sind von selbst draufgekommen: Der richtige Umgang mit Österreichern will gelernt sein!“ So oder so ähnlich fingen die meisten Bücher über Wien an. Ich bin schon mal grundsätzlich kein Freund von Bedienungsanleitungen. Ich drücke lieber irgendwo drauf und warte gespannt, was dann passiert. Trotzdem hatte ich wirklich versucht, vor der Abfahrt einen dieser Wien-Reiseführer tatsächlich auch zu lesen. Zur Einstimmung und schon deshalb, weil ich ihnen in den Wochen vor meiner Abreise sowieso kaum entkommen konnte. Denn originellerweise erwiesen sich jede Menge Wien-Ratgeber gleich hinter den Sissi-Devotionalien als gefeierte Renner unter den Abschiedsgeschenken. Und jedes dieser Bücher klang sofort nach Beipackzettel. Nach Risiken und Nebenwirkungen. Und bitte, das in Österreich!

Das machte in meinen Augen ja nun gar keinen Sinn. Warum sollte ich für etwas Mühe aufwenden, von dem ich der unerschütterlichen Überzeugung war, es voll im Griff zu haben? In ein gemietetes Auto steigt man ja schließlich auch einfach ein und fährt los. Nein, keiner liest vorher erst umständlich nach, wo eventuell dieses Mal Gaspedal und Bremse versteckt sein könnten. Die sind da, wo sie immer sind! Sogar in Österreich!

Außerdem würde ich mich dort ohne Probleme verständigen können. Man spricht in Wien ja nicht Kisuaheli, sondern Deutsch. Alles wird gut, auch ohne Bedienungsanleitung. Ich war davon sogar so sehr überzeugt, dass ich bereit war, bei meiner künftigen Berufsbezeichnung „Auslandskorrespondentin“ auf das „Ausland“ zu verzichten. Als Deutsche in Österreich, mal ehrlich, da musste „Korrespondentin“ reichen. Alles andere fühlte sich maßlos übertrieben an und kam mir glatt wie Hochstapeln vor. Auslandskorrespondenten arbeiten schließlich unter richtig harten Bedingungen. Sie müssen sich mit kommunistischen Diktatoren oder mit klimatisch bedingtem Sauerstoffmangel herumschlagen. Sie müssen damit rechnen, im Supermarkt als Geisel genommen oder an einer roten Ampel wahlweise ausgeraubt und/ oder erschossen zu werden. Und falls nicht, dann haben sie es wenigstens mit gefährlichen Krankheitserregern im Essen oder im Trinkwasser zu tun. Kriege, Katastrophen, Seuchen, Hungersnöte. Bitte sehr! Wie sollte denn da Wien und sein Sachertortenklima mithalten? Schnitzeltod? Mozartkugelmassaker? Bakteriell verseuchte Handküsse? Damit ließ sich doch nun wirklich nicht angeben. Wien war eine Weltstadt, groß, schön, voll mit Kultur. Und ich sollte dafür auch noch bezahlt werden. Also lieber nicht so dick auftragen und „Ausland“ weglassen.

Trotzdem, liebe Österreicher, bevor Sie jetzt gleich den Protestfüller anwerfen, um meinen Briefkasten elektronisch zu verstopfen, natürlich und selbstverständlich sah ich Österreich als Ausland an. Wie übrigens fast alle Deutschen. Nur eben als eines, das sich nicht so anfühlte wie richtiges Ausland. Jedenfalls von Weitem, von Deutschland aus, nicht. Ein Fehler, ich weiß!

Ja, ich gebe es ja zu, ich war eine von diesen Einwanderungsignorantinnen. Denn noch bei der Einreise ins Nachbarland, am Tag des Grenzübertritts, habe ich doch tatsächlich angenommen, nur in wirklich exotischen Ländern würde man mit Sprachschwierigkeiten zu kämpfen haben, mit unentzifferbaren Schriftzeichen etwa oder komplizierten Begrüßungsriten. Kennt man ja: in Indien die linke Hand beim Essen weglassen, aber in Japan unbedingt mit beiden Händen zur Visitenkarte greifen. Kniffelige kulturelle Hindernisse wie essen mit Stäbchen, Nasenküsse, Linksverkehr oder Kopfschütteln, wenn ich „Ja!“ sagen will, usw.

Denken Sie jetzt auch, mit all dem wäre frühestens am Ende der Welt zu rechnen? Ihnen fallen auf Anhieb keinerlei Einwanderungsschwierigkeiten in Österreich ein? Als Tourist haben Sie sich dort stets willkommen gefühlt? Das würde in Wien auch nicht anders laufen?

Und wie es das tat!

Dass es mit der touristischen Komfortzone in Österreich ab sofort vorbei sein würde, hat mir dann Elfie beigebracht. Es war mein zweiter Tag in Wien und ich war mit der mir anvertrauten Freundin meiner Eltern, einer kleinen, properen und fröhlichen Urwienerin mit ständigen Geldsorgen, auf Wohnungssuche.

Warum man zum Beispiel als doofer Tourist einen Milchkaffee bestellen darf, aber auf keinen Fall mehr, wenn man vorhat, in Wien mehr als zwei Wochen zu verbringen, habe ich erst nicht verstanden. Der Wiener jedenfalls muss eine feine Antenne haben. Wo er die hat, weiß ich nicht. Er registriert jedoch umgehend, welcher Teutone sich nur zeitweise über einen Stadtplan beugt und welcher sich entschieden hat, länger als zwei Wochen in der Stadt zu bleiben.

Deutscher Typ 1 und Typ 2, ungefähr so wie bei Diabetes. Eins gefährlicher als zwei. Während Typ 2 („verschwindet wieder“) seine Deutschtümelei in Wien in aller Seelenruhe ausleben und sich sogar kaffeekännchenweise einen Koffeinschock ansaufen darf, gelten für Typ 1 („bleibt länger!“) ab dem Moment des Überführtseins knallharte Aufenthaltsregeln. Blöderweise ahnt man davon selbst erst mal gar nichts. Und ignoriert fröhlich lauernde Fettnäpfe, selbst wenn die die Größe von Swimmingpools haben.

Neben Elfie im „Café Eiles“ in der Josefstädter Straße über die Anzeigen des Wiener Wohnungsmarktes gebeugt, bestellte ich eher beiläufig beim Kellner, den Finger noch auf den Zeitungsannoncen und in mir angeborenem Hochdeutsch: „Ich hätte gern einen Milchkaffee!“

Mein eigener Satz irritierte mich erst, als Elfie mich milde anlächelte, ohne die Bestellung für sich fortzusetzen, und, wie die Gratisbeilage einer Zeitung, ihrem Lächeln die Botschaft beifügte: „Du, des sogma do net!“

Der Kellner, der zu meiner Verwunderung noch gar nichts gesagt hatte, nickte nur. Er wartete geduldig und legte dabei den Kopf zur Seite, wie ein Schuldirektor am ersten Schultag, wenn er genüsslich den Eltern dabei zusieht, wie sie ihrem heulenden Ableger einzureden versuchen, dass die Schule bestimmt doch noch ganz toll werden wird.

„Wie jetzt, ‚Milchkaffee‘ sagt ihr nicht? Er versteht mich doch!“ Das Fragezeichen schickte ich zum schweigenden Kellner rauf und ein hilfloses Lächeln hinterher. Elfie und der Mann in Schwarz wirkten bereits so betreten, als hätte ich gerade auf einer Beerdigung beim Pfarrer Toast Hawaii für alle bestellt. Elfies rundliches Gesicht lächelte mit einem tiefen Atmer die nächste Runde „Kaffee-Knigge“ ein: „Scho, oba es geht a ums Prinzip!“

„Ach …?“ Ich verkniff mir, der offensichtlich ernsten Situation angemessen, einen Lacher. „Und bitte um welches?“ Diesmal antwortete der Kellner mit einem Seufzer, als hätten er und Elfie diese Szene hundertfach geprobt. Er holte ganz tief Luft und platzierte in gespielter Langeweile seine Worte aufs Ausatmen:

„Wollen’S a Melange, a’n großn Braunen oder a’n Caffè Latte?“ Am Schluss hatte der Herr Ober sogar die Augen geschlossen.

„Ah, Caffè Latte!“, antwortete ich und war drauf und dran, hinzuzufügen, dass das ja wohl, ja, genau, ‚Milchkaffee‘ heißen würde! Elfie kam mir zuvor.

„Für mi a Melange. Bitttä!“ Ihr Vorwurf folgte leise, beleidigt und sehr wohl in Hörweite für den Herrn Ober im Abgang. „Du host di mit uns Österreichern ja gor net b’schäftigt! Ihr Deitschen könnt doch net a’foch doherkumma und so tuan, als warat ihr noch z’haus!“

Halb ertappt – denn beschäftigt hatte ich mich mit Österreich oder Wien nun wirklich nicht, aber ich war mir dieses eklatanten Versäumnisses bis eben auch noch nicht bewusst – und halb entrüstet über diesen pingeligen Bestellvorgang, versuchte ich, mich zu verteidigen: „Aber ich will doch nur einen Kaffee!“ Jetzt hatte auch Elfie die Augen geschlossen und sprach mit letzter Kraft.

„Es haaßt do oba ‚Kaffeeeee‘!!!“ Und im Gegensatz zu mir betonte sie „Kaffee“ nicht vorn, auf „Kaff“, sondern hinten, auf „fee“. Dazu schüttelte der Kellner hinterm Tresen missbilligend den Kopf.

An dieser Stelle hätte es mir bereits dämmern können, aber das Licht dazu ging mir leider erst sehr viel später auf. Denn genau das hasst der Wiener! Wir Deutschen dürfen uns bei ihm wohlfühlen, sollen wir sogar. Wir sollen seine Stadt toll finden, seine Bewohner sowieso, und unsere Anerkennung zollen. Aber wohlfühlen heißt eben noch lange nicht, dass wir uns auch so verhalten dürfen, als wären wir noch zu Hause.

Klar mögen Deutsche Österreich. Das Essen ist hier besser, das Leben gemütlicher, Wien schöner und lebenswerter als so manch andere Stadt auf der Welt. Die Menschen höflicher, ihre Sprache charmanter, die Jobs oft besser bezahlt. Tausende Deutsche wandern deshalb jedes Jahr nach Österreich aus. Touristen noch nicht mal mitgerechnet, sind wir hier, noch vor klassischen Gastarbeitern wie Türken oder Osteuropäern, bereits die größte Migrantengruppe. Und natürlich sind von so viel Krautkompetenz nicht alle Österreicher restlos begeistert. Insbesondere Wienern passt es gar nicht, dass in Tirol, was zwar weit genug weg ist, inzwischen aber fast alle Kellner sächseln.

Ihr haufenweise deutsches Servicepersonal wissen die meisten Österreicher aber schon sehr zu schätzen. Nicht so sehr wegen der möglichen sprachlichen Verständigung. Eher aufgrund der Schadenfreude. Österreicher mussten lang genug zum großen Nachbarn nebenan aufschauen und nicht selten dort ihren Lebensunterhalt verdienen. Der eine oder andere Österreicher findet es also schon ganz schön, wenn es jetzt mal die Deutschen sind, die den Tisch...

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