Das Arzt-Patienten-Verhältnis ist sehr vielgestaltig. Es ist getragen durch das Vertrauen das Patientinnen und Patienten zu Ärztinnen und Ärzten haben. Es wird aber auch geprägt von Angst vor jeder Art von medizinischer Behandlung und der oft zur Schau getragenen Macht die Ärztinnen und Ärzte in diesen Situationen haben. Oft trauen sich die Patientinnen und Patienten nicht, mit den Ärztinnen und Ärzten wirklich offen zu sprechen oder ihre Befürchtungen und Ängste zu thematisieren. Der „Gott in Weiß“ ist im Kopf sehr vieler Akteure im Gesundheitssystem immer noch verankert.
Klemperer und Rosenwirth [2] bezeichnen „Shared-Decision-Making“ (SDM) als eine Form der Kommunikation zwischen Ärztinnen und Ärzten einerseits sowie Patientinnen und Patienten andererseits, die zum Ziel hat, die Patientinnen und Patienten in die Entscheidungen zu ihren Gesundheitsproblemen einzubinden. Ärztinnen und Ärzte sowie Patientinnen und Patienten kommunizieren dabei auf einer partnerschaftlichen Ebene über zukünftige Behandlung. Dabei können auch mehrere Optionen zur Auswahl stehen, wobei eine Option auch beobachtendes Abwarten sein kann. Das SDM-Modell ist gekennzeichnet durch die Interaktion zwischen allen Beteiligten, gegenseitige Information, gemeinsames Abwägen aller Für und Wider und einer gemeinsamen Entscheidung. Die Patientin bzw. der Patient informiert dabei die Ärztin bzw. den Arzt über die jeweiligen subjektiven behandlungsrelevanten Bedürfnisse, Bedenken und persönlichen Risiken. SDM soll die Entscheidungsqualität verbessern, in dem neueste, evidenz-basierte Informationen mit den Patientinnen und Patienten abgestimmt werden.
Verstärkt wurde die Emanzipation der Patientinnen und Patienten durch die Erkenntnis, dass häufig unterschiedliche Behandlungsoptionen zur Verfügung stehen, ohne, dass eine als klar die beste angesehen werden kann. Des Weiteren führte auch die Zunahme von chronischen Krankheiten dazu, dass sich die Arzt-Patienten-Beziehung veränderte. Dabei kommt dem Begriff der Kundenorientierung in der Medizin in den letzten Jahren zusehends mehr Bedeutung zu. Die klassische Arzt-Patienten-Beziehung entwickelte sich weiter und heute werden vier verschiedene „Entscheidungsmodelle“ unterschieden [3, 4].
Paternalistisches Entscheidungsmodell
Bei diesem klassischen Ansatz stellt die Ärztin oder der Arzt den Gesundheitszustand der Patientin oder des Patienten fest und entscheidet anschließend über die beste Behandlungsmöglichkeit. Die Patientin bzw. der Patient kooperiert und befolgt dabei die Anordnung der Ärztin bzw. des Arztes.
Informatives Entscheidungsmodell
Bei diesem Konzept werden den Patientinnen oder den Patienten alle medizinischen Informationen, Diagnosen und Behandlungsmöglichkeiten in verständlicher Sprache erklärt, damit diese eine Entscheidung treffen können. Dieses Modell wird auch als wissenschaftliches Modell oder Konsumentenmodell bezeichnet. Die Verantwortung für die Entscheidung übernimmt hierbei nur die Patientin bzw. der Patient.
Interpretatives Entscheidungsmodell
Ziel der Ärztin bzw. des Arztes ist hierbei, die Vorstellungen und Werte der Patientin bzw. des Patienten in Erfahrung zu bringen. Der Patientin oder dem Patienten wird dabei geholfen, die geeigneten Behandlungen und Maßnahmen auszuwählen. Der Unterschied zum informativen Entscheidungsmodell besteht darin, dass zwar einerseits alle Informationen für eine Entscheidung bereitgestellt werden, jedoch die Patientin bzw. der Patient die Entscheidung mit Hilfe der ärztlichen Beratung trifft.
Abwägendes Entscheidungsmodell
Dieses Modell entspricht dem „Shared-Decision-Making“. Die Ärztin bzw. der Arzt versucht hierbei der Patientin oder dem Patienten bei der Formulierung seiner Wertvorstellungen, Präferenzen, Wünsche aber auch Bedenken und Ängste zu helfen. Die Ärztinnen oder Ärzte informieren die Patientinnen bzw. Patienten mit ihrer spezifischen Fachkenntnis über die medizinischen Möglichkeiten. Die Rollenverteilung ist hiermit insofern abgegrenzt, als dass die Patientinnen bzw. Patienten als „Expertinnen“ oder „Experten“ ihrer Erwartungen auftreten und die Ärztin oder der Arzt als „Expertin“ bzw. „Experte“ für medizinisches Wissen. Eine Behandlungsentscheidung wird einvernehmlich vorgenommen, wobei die Ärztin bzw. der Arzt die Patientin oder den Patienten von der Lösung überzeugen will.
Thorsten Kerbs beschäftigt sich in seiner Diplomarbeit „Das Arzt-Patienten-Verhältnis – Eine Literaturstudie zu den psychologischen Implikationen eines unterschätzten Beziehungsproblems“ [5] mit dem problematischen Verhältnis von Ärztinnen bzw. Ärzten zu Patientinnen bzw. Patienten.
Als Autor einer Feldstudie erwähnt Thorsten Kerbs Andreas Wiseman. Dieser ist praktizierender Krankenhausarzt und schildert sehr anschaulich die Fülle der teils stark institutionalisierten Rituale, die in erster Linie Angstvermeidung durch Distanzvergrößerung zu Patientinnen und Patienten bezwecken [6]. Leider entbehrt die Darstellung vollständig eines Ansatzes, auf dessen Grundlage Verbesserungen der zugrundeliegenden Strukturen angedacht werden könnten, stattdessen beschränkt sie sich ausschließlich auf eine Beschreibung.
Er beschreibt verschiedene Formen dieser Rituale, die nachfolgend kurz behandelt werden.
Der gesamte medizinische Betrieb krankt heute trotz der insgesamt immensen Ausgaben für das Gesundheitswesen an chronischer Geldknappheit, die gerade im Krankenhausbetrieb an einem flächendeckenden Personalmangel sichtbar wird. Pflegepersonal ist rar und wird trotz eines bemerkenswert niedrigen Lohnniveaus in dieser Berufsgruppe zu selten eingestellt. Auch die Stellen für approbierte Ärztinnen oder Ärzte werden unterhalb des tatsächlichen Bedarfs aufgefüllt.
Hier stellt sich nun die Frage, inwieweit die Ärztinnen oder die Ärzte als Teilhaber einer Opferrolle selbst vom strukturellen Mangel betroffen sind und inwiefern daraus eine enorme zusätzliche Arbeitsbelastung erwächst, oder ob sie an der Herstellung dieses Zustands in gewisser Weise mitbeteiligt sind und sich darin ein Abwehrmechanismus verdeutlicht. Andreas Wiseman schreibt dazu folgendes: „Der Arzt beklagt die gehetzten und zerrissenen Arbeitsabläufe und stellt sich selbst als deren Opfer dar. Er distanziert sich erfolgreich von den Bedingungen, indem er eine kritische Haltung einnimmt. Als Ursache der chaotischen Arbeitsbedingungen identifiziert er die Schwestern, den Chef, den Verwaltungskram und übertriebene Forderungen von Patienten.“ [6 S. 11]
Einerseits wird im Krankenhaus der Körper der Patientin oder des Patienten behandelt, andererseits ist dieser gesellschaftlich mit einem Tabu belegt, das für die Beteiligten belastendende Auswirkungen im Fall von Berührung, Betrachtung und des direkten Kontaktes mit sich bringt. Es ist also nur verständlich, wenn die Ärztin bzw. der Arzt diese Situation aufgrund ihres unangenehmen Beigeschmacks grundsätzlich zu vermeiden sucht bzw. wenn sich die Schulmedizin zunehmend auf diagnostische Verfahren zurückzieht, die direkten Körperkontakt immer überflüssiger werden lassen oder einen Distanz schaffenden technischen Gegenstand zwischenschalten [6 S. 70].
Wiseman beschreibt diesen Trend so: „Allgemein tendiert die Entwicklung der Diagnostik eindeutig weg von der unmittelbaren Beurteilung des Körpers durch Tasten, Betrachten, Bewegen, Riechen, aber auch weg vom Fragen und Zuhören, hin zur Handhabe technischer Vorrichtungen, die eine mittelbare, saubere Untersuchung durch dazwischengeschaltete sterile Apparate ermöglichen (z. B. Röntgenverfahren, Sonographie, Kernspintomographie, Szintigraphie, EKG, EEG, Labordiagnostik)“ [6 S. 36].
Es existiert schon lange eine äußerst kontrovers geführte Auseinandersetzung darüber, welche Informationen den Patientinnen bzw. den Patienten mitgeteilt werden sollten und welche nicht, und wenn Aufklärung erfolgen soll, wie vorzugehen ist [7–10]. Zweifelsfrei schützen sich Ärztinnen und Ärzte vor der Emotionalität der Patientinnen und Patienten, wenn sie ihnen schlechte Nachrichten verheimlichen oder in positivem Licht darstellen. Die Auseinandersetzung mit der geballten Verzweiflung eines Menschen stellt sicherlich eine enorme emotionale Belastung dar, auf die die Ärztinnen oder Ärzten zum einen von ihrer Ausbildung her vorbereitet sein sollten und die zum anderen anschließend auch Raum für Verarbeitung erfordert.
Eine manipulative Situation würde dann vorliegen, wenn die Zielsetzung eines Aufklärungsgespräches nicht darauf abzielt, die Patientinnen bzw. die Patienten über deren gesundheitlichen Zustand zu informieren und mit ihnen die geeigneten Maßnahmen zu besprechen, sondern wenn es der Ärztin oder dem Arzt darum geht, sich...