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Eine Frau reist durch die Welt (Sozialreportagen aus Amerika)

AutorMaria Leitner
Verlage-artnow
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl234 Seiten
ISBN9788026868675
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis1,99 EUR
Dieses eBook: 'Eine Frau reist durch die Welt (Sozialreportagen aus Amerika)' ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Dieses Werk ist der authentische Bericht einer Frau, die in den 1920er Jahren durch den amerikanischen Kontinent reiste. Ihre Sozialreportagen aus Amerika hat Maria Leitner in der Reportagesammlung Eine Frau reist durch die Welt zusammengefasst, die 1932 im Berliner Agis-Verlag erschien und sofort starke Beachtung fanden. 1934 wurde das Buch ins Polnische übersetzt und zwei Jahre später in der Sowjetunion wiederholt als Sprachübungstext herausgegeben. Maria Leitner (1892-1942) war eine deutschsprachige ungarische Journalistin und Schriftstellerin. Seit etwa 1920 benutzte sie einen Pass mit dem Geburtsdatum 22. Dezember 1893 und verwendete diese Angabe offiziell bis an ihr Lebensende.

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Leseprobe

Automat unter Automaten


Eine der größten über ganz New York verstreuten Massenabfütterungsanstalten ist das Automatenrestaurant Horn & Hardart. Hier versuchte ich, Arbeit zu erhalten.

Die Zentrale für Angestellten-Beschaffung

Warteräume. Für Männer und für Frauen. Der Warteraum für Männer erinnert an ein Schulzimmer. Die Stühle alle nach einer Richtung gestellt. Auf einer Erhöhung, wie der Herr Lehrer, sitzt der Mächtige, der den Angestelltenstab zusammenstellt. Die Männer sitzen da, lesen Zeitungen und warten anscheinend auf etwas. Man kann nicht gleich herausbekommen, worauf.

Der Mächtige hält einen Telephonhörer in der Hand und ruft zwischendurch etwas ins Zimmer hinein: »Ein Salatmann! Kein Sandwichmann hier?« Da sich niemand meldet, ärgert er sich. »Nie kommen solche, die man brauchen kann.«

Nachdem ich vergeblich versuche, mich irgendwie bemerkbar zu machen, gehe ich in das Wartezimmer für Frauen.

Hier ähnelt es mehr dem Warteraum eines Zahnarztes, mit dem Unterschied, daß die Wartenden zahlreicher sind und daß sich die Lektüre nicht auf den Tischen, sondern an den Wänden befindet.

Goldene Sprüche an der Wand

Wohin man blickt, überall Weisheit. Man kann sich die Zeit auf die nützlichste Art und Weise vertreiben. So kann man z. B. lesen: »Eine Dummheit ist nur dann wirklich eine, wenn man sie zum zweitenmal begeht.« (Dieser Spruch stammt, wie mitgeteilt wird, von Lincoln.) Nicht weniger beherzenswert scheint ein anderer: »Wenn du erregt bist, zähle bis zehn und dann schweige.«

Ich konnte aber nur wenig in dieser kleinen Weisheitsschule profitieren, ja nicht einmal recht meine mitwartenden Genossinnen betrachten, denn der Allmächtige stieg von seinem Thronsessel und begab sich in unser Zimmer. Diesmal bin ich es, die er aus der Menge herauspikt. Er fragt mich nur nach meiner Adresse, dann gibt er mir einen Zettel für die Filiale in der 14. Straße.

Erst in der 14. Straße, wo ich sofort eine Nummer, diesmal bin ich nur Nummer zwölf, und eine Uniform, die mir zweimal zu groß ist, erhalte, erfahre ich, daß ich angestellt wurde.

Ein ganzer Schwarm Mädchen umgibt mich, die mein Kleid mit Hilfe von Stecknadeln zurechtmachen, eine drückt mir eine weiße Haube auf den Kopf, eine andere zupft an meiner Schürze. Dann werde ich in den Saal geschoben, und man drückt mir ein Tablett in die Hand. Ich weiß nun, daß ich ein »busgirl« bin, d. h. ein Omnibus, der mit Geschirr vollgepackt hin- und herrollt; ganz einfach ausgedrückt, ist meine Lebensaufgabe von nun an, Geschirr abzuräumen.

Ich stehe da mit einem Tablett, und draußen lärmt, schreit, rast die 14. Straße, mit ihrem Dutzend Kinos, mit ihren Vaudeville-Theatern, Dancings und Schießgalerien, mit Radios, Grammophonen, Pianolas, mit Dutzenden Lunchrooms, Coffee Pots, mit Fünf- und Zehncent-Geschäften und »noch nie dagewesenen Gelegenheitsverkäufen«. Aber auch mit besonderen Überraschungen: einer laut spielenden Jazzband im Schaufenster eines Herrenbekleidungsgeschäftes oder einem anderen Schaufenster, in dem ein schwarzmaskierter Mann erscheint und auf eine schwarze Tafel schreibt: »Wollen Sie Erfolg haben? Wollen Sie eine gut bezahlte Arbeit? Dann müssen Sie sich gut kleiden. Gut kleiden können Sie sich nur bei uns. Kommen Sie herein. Überzeugen Sie sich.«

Und die Menge der Straßenverkäufer. Der Muskelmensch mit dem leberkranken Gesicht, der auch bei schlechtestem Wetter, nur mit einem Trikot angetan, seine einzig erfolgreiche Gesundheitsmethode demonstriert und gleichzeitig seine eigenen Werke über gesunde Lebensweise verkauft. Und der Mann mit wallendem Haar bis auf die Schultern, der unfehlbare Haarwuchsmittel feilbietet. Und da sind eine Unmenge Bettlerinnen, Blinde und Straßenredner. Die Menge, die hier auf und ab flutet, besteht aus allen Nationen der Welt. Sie alle aber jagen im gleichen Tempo den gleichen Vergnügungen, den gleichen Erfolgen nach.

Die Roboter

Die ganze Straße strömt in das Automatenrestaurant hinein, von früh morgens bis spät in die Nacht. Aber hier wird nicht zum Vergnügen gegessen. Hier essen die Roboter, Deutsche, Amerikaner, Juden, Chinesen, Ungarn, Italiener, Neger.

Jede Rasse ist vertreten. Man hört alle Sprachen der Welt, es bleiben Zeitungen liegen mit hebräischen und chinesischen, mit armenischen und griechischen Zeichen und in exotischen Sprachen, die man gar nicht erraten kann. Man wird durch unverfälschte sächsische und bayerische Dialekte überrascht, und man sieht Leute Tee schlürfen, wie nur russische Bauern ihren Tee trinken.

Und doch sind sie sich alle so ähnlich, wie zwei Brüder sich ähnlich sein können. Sie tragen alle die gleichen billigen Kleider, die gleichen Hemden, die gleichen Ausverkaufsschuhe, sie essen alle jeden Tag die gleiche Tomatensuppe, die gleichen Sandwiches: Schinken mit Salat, Ei mit Salat, Käse mit Salat, Sardinen mit Salat, sie verdienen den gleichen Wochenlohn, sie arbeiten alle gleich schwer, gleich lang.

Die Roboter essen meist stehend, oder sie sitzen nur gerade so lange, bis sie die nötigen Kalorien und Vitaminmengen zur Instandhaltung der Maschine zu sich genommen haben.

Sie werden von klein auf zu dem Tempo erzogen, das sie, wenn sie in dieser Welt vorwärtskommen wollen, einhalten müssen.

»Hurry up« (schnell, schnell), mahnen die sorgfältigen Eltern ihre Kinder, die Kuchen essen und Milch trinken.

Die halberwachsenen Roboter sorgen schon selbst für sich. Sie tragen Western-Union-Uniformen oder die von Banken, Kaufhäusern, Hotels. Oft stehen sie lange vor den Automaten. Wozu sollen sie sich entschließen: Milchspeise oder Eiscreme? Meist siegt doch die Liebe über den Verstand. Sie essen Eiscreme.

Automaten, Automaten

Die Automaten sind Glasschränkchen, die prahlerisch ihren Inhalt zeigen. Sie bleiben kühl verschlossen, auch vor dem hungrigsten Magen, lassen sich aber mit einem kleinen, leichten Griff öffnen, wenn man die ihrem Inhalt entsprechende Anzahl von Nickeln entrichtet.

Aber auch hinter den Automaten stehen unsichtbar in dem schmalen, heißen Gang Automaten. Sie legen Sandwiches auf Teller, immer wieder neue, sie verteilen Kuchen und Kompott. Sie füllen die Samoware mit Tee und Kaffee, sie verteilen Suppe, Gemüse und Fleisch.

Wir anderen Automaten tragen die schweren Tablette, räumen immer wieder das schmutzige Geschirr ab, das sich alle fünf Minuten auf jedem Tisch von neuem auftürmt.

Automaten stehen ganz unten in der Tiefe, Negerautomaten, und waschen Geschirr, den ganzen Tag, die ganze Nacht.

Automaten sitzen an der Kasse und wechseln Fünfundzwanzig-, Fünfzigcentstücke, Dollars in Nickel um. Sie geben Nickel aus, den ganzen Tag, den ganzen Abend, immer Nickel, Nickel.

Und Automaten gehen auf und ab zwischen den Tischen und geben acht, den ganzen Tag, den ganzen Abend, ob die Eßautomaten auch ihre Pflicht erfüllen, den ganzen Tag, den ganzen Abend, und essen, schnell essen.

Manchmal bekommen die Automaten so etwas wie ein Gesicht

Ein besonders fleißiger Automat, er ist eine Frau, fiel mir auf, der immer mit hochgetürmtem Tablett hin- und hergeht. Nicht spricht. Immer nur Geschirr schleppt. Vollkommenster Automat. Und plötzlich erblickt man hinter dem Automaten ein menschliches Gesicht. Ein ganz und gar nicht merkwürdiges, ganz gewöhnliches, sächsisches; das Gesicht einer deutschen Kleinbürgerin. Sie ist seit zwei Jahren in Amerika. Sie hat bisher als Dienstmädchen gearbeitet, wie vier Pferdeknechte, versichert sie. Und sie hat viel geweint in Amerika, wo man nur Arbeit und den Dollar kennt. Aber hier, meint sie, sind wir im Paradies. Sie gibt natürlich zu, daß es nur ein verhältnismäßig schlichtes Paradies sei. Aber wir haben vierzehn Dollar Wochenlohn und können essen, soviel wir wollen und was wir uns aussuchen, meint sie. Und man sagt zu ihr Lady. Und wenn die Uhr geschlagen hat, ist Schluß. Sie ist sehr fleißig, denn sie möchte nicht, daß man sie wegschickt.

Eine Russin ist da, die kein Wort Englisch kann. Sie nimmt immer, wenn sie eine Minute Arbeitspause macht, einen Zeitungsausschnitt hervor. Es ist die Photographie einer Frau. Sie besieht sie immer lange, dann arbeitet sie weiter.

Eine kleine Spanierin hat sich von ihrem Wochenlohn lange Ohrgehänge gekauft. Es war eine Sensation. Einmal kam sie fünf Minuten zu spät. Man hat sie mit einem Mann vor dem Geschäft gesehen. Das war eine noch größere Sensation.

Später bekommen auch manche Gäste ein Gesicht. Es gibt sogar einige, die sich nicht zu dem üblichen Tempo zwingen lassen. Sie sitzen ruhig zur größten Empörung des Managers stundenlang vor einer Tasse Kaffee, bringen Bücher mit und sprechen über die überflüssigsten Sachen. Nicht über den Wochenlohn und über den »job«, den sie haben, sondern über Politik und neue Literatur. Aber man sieht ihnen auch an, daß sie zu ihrem eigenen Schaden die amerikanische Lebensweisheit ignorieren. Einmal geschah es, daß die ganze Gesellschaft bei einer einzigen Tasse Kaffee saß.

Der Manager duldete eine Zeitlang, wenn auch mit sichtlich unzufriedener Miene, den Unfug. Endlich konnte er nicht länger an sich halten, er ging zu der Gesellschaft und hielt ihr folgende Rede: »Meine Herren, Sie scheinen den übrigens respektablen und ehrlichen Beruf der Hungerkünstler auszuüben. Es wundert uns nur, warum sie dann unser Restaurant mit Ihrer Gegenwart beehren. Sollten Sie aber das Hungern nicht aus Beruf, sondern aus Notwendigkeit ausüben, befolgen Sie meinen Rat, lassen Sie...

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