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Eine Polin für Oma

Der Pflege-Notstand in unseren Familien

AutorIngeborg Haffert
VerlagUllstein
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl250 Seiten
ISBN9783843709217
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Immer mehr Angehörige wissen sich nicht anders zu helfen und heuern für ihre alten Eltern eine Pflegekraft aus Osteuropa an. Die Pflegekräfte arbeiten rund um die Uhr, sieben Tage die Woche, für etwa 1000 Euro im Monat. Mehr als 200 000 Pflegebedürftige werden so bereits betreut, Tendenz steigend. Ingeborg Haffert hat Angehörige, polnische Pflegekräfte und Pflegebedürftige begleitet und berichtet von gravierenden Missständen und Problemen auf allen Seiten. Doch sie zeigt auch, wie sich der Pflege-Alltag durch einfache Grundregeln verbessern lässt, und liefert dazu konkrete Hilfsangebote.

Ingeborg Haffert, geb. 1960, ist Redakteurin und Reporterin beim ARD-Morgenmagazin. Zuvor hat sie in der WDR-Wirtschaftsredaktion und im ARD-Studio Brüssel gearbeitet.

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Leseprobe

2. Im Leben der Anderen – Was polnische Pflegekräfte in deutschen Haushalten erleben


Kaum jemand nimmt Notiz von ihnen. Auch viele Angehörige wissen wenig über die neue, fremde Frau, die da so plötzlich, in ungewohnter Nähe zur Familie, die Eltern oder Schwiegereltern betreut. Auch die vertragliche Seite zwischen Pflegekraft und Agentur bleibt für die Angehörigen oft schwer nachvollziehbar. Für sie ist zunächst nur wichtig, dass ihre pflegebedürftigen Familienangehörigen möglichst schnell versorgt werden.

»Jetzt bin ich mal dran! Jetzt hole ich mir das, was mir zusteht!« So zitiert eine polnische Pflegekraft einen alten Herrn, den sie betreut hat. Was diese beiden Sätze bedeuten, das bekommen nicht die erwachsenen Kinder, sondern vor allem die stets anwesenden polnischen Pflegekräfte zu spüren. Sie sind rund um die Uhr verfügbar und haben in den deutschen Haushalten oft keine klar definierte Rolle. Sie sind Angestellte mit undefinierten, stets wechselnden und wachsenden Aufgaben.

In der Operette »Der Bettelstudent« heißt es über die polnische Frau:

»Von allem Reizenden ein bisschen,

Doch immer grad’ das Beste nur. […]

Und g’rade dadurch wird die Polin

Von keinem andern Weib erreicht.«

Polnische Frauen sind Alleskönner. Sie kümmern sich um ihre Familien, den Haushalt und den Garten, sie gehen arbeiten und sind darüber hinaus immer da, wenn sie gebraucht werden. Keine Aufgabe scheint ihnen zu viel. Es ist also wenig verwunderlich, dass sie in ihrem Heimatland fast genauso verehrt werden wie die Mutter Gottes.

So schrecken sie auch vor einer 24-Stunden-Pflege in einem fremden Land nicht zurück. Polnische Frauen haben schon früh gelernt, eigene Bedürfnisse zurückzustellen. In den Online-Bewerbungen vieler Polinnen lese ich, dass sie oft schon über lange Zeit ihre eigenen Eltern versorgt haben, bevor sie in Deutschland als Pflegekraft arbeiten. Sie geben diese Zeit als »Erfahrung in der Altenpflege« an. Das, was sie zu Hause in Polen für ihre eigenen Väter und Mütter geleistet haben, leisten sie jetzt für unsere Eltern, Schwiegereltern oder Großeltern. Was wir nicht schaffen, das schaffen sie. Was uns zu viel ist, das bekommen sie hin. Der Deal scheint klar: Wir haben das Geld, das sie dringend brauchen, um der Familie in Polen ein besseres Leben zu bieten, und sie haben die Kraft, die Ausdauer und die Geduld, die es braucht, einen fremden alten Menschen rund um die Uhr zu versorgen. Und noch etwas scheint sie in besonderer Weise für diese Arbeit zu qualifizieren, nämlich ihre religiöse Erziehung. Ihnen wurde als eine der wichtigsten Lektionen beigebracht, dass jeder Mensch eine Würde hat, egal ob alt oder jung, ob Pole oder Deutscher. Und so behandeln sie die deutschen Senioren, als wenn es ihre eigenen Verwandten wären. Kein Wunder also, dass sie als Pflegekräfte äußerst begehrt sind.

Es scheint, als stützten sich hier zwei defizitäre Systeme: Die deutschen Familien garantieren den Polinnen ein Einkommen und unterstützen den polnischen Staat so im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit im Land. Die arbeitslosen Frauen bewahren den deutschen Staat vor einem folgenschweren Kollaps des Pflegesystems. Viele Angehörige sagen: »Ich würde diesen Job keine vier Wochen aushalten!« Rund 200 000 deutsche Familien stellen in den eigenen vier Wänden Frauen und Männer zu Bedingungen ein, die sie selbst als Zumutung empfinden würden.

Fern der Heimat: Nomaden aus Not


»Du bist mutig!« Das hören viele polnische Frauen von Nachbarn, Freunden und Verwandten, wenn sie zum ersten Mal als Pflegekraft nach Deutschland gehen. Aber fast immer ist es der Mut der Verzweiflung, der sie ins fremde Land treibt. Die Frauen leben oft über Jahre getrennt von ihrer eigenen Familie und verlieren so allmählich den Kontakt zu Ehepartnern, Kindern und Enkeln. In Deutschland arbeiten sie 24 Stunden am Tag, an sieben Tagen der Woche, haben kaum Pausen und wenig Urlaub. Es ist ein Leben zwischen zwei Welten mit der Folge, dass sie sich in keiner der beiden mehr zu Hause fühlen. Die meisten polnischen Pflegekräfte kommen nach Deutschland, weil sie in ihrer Heimat arbeitslos geworden sind. Andere entscheiden sich für die Arbeit im Nachbarland, weil sie von ihrem geringen Lohn oder einer niedrigen Rente in Polen nicht leben können.

»Die wirtschaftliche Misere, die anhaltende Arbeitslosigkeit, die unzureichende Höhe der staatlichen Transferleistungen und vor allem eine ausgeprägte Perspektivlosigkeit in Polen bestärken den Migrationswillen vieler Frauen«, so die polnische Soziologin Agnieszka Satola. Die Schweizer Soziologin Sarah Schillinger fasst die Situation der Frauen als ein Paradoxon zusammen: »Sie migrieren, damit ihre Familie in der Heimat bleiben kann.«

Ein Job als Pflegekraft in Deutschland ist für viele Polinnen vor allem durch den vergleichsweise hohen Verdienst attraktiv. Damit sie ihre Arbeit, deren Lohn oft ganze Familien ernährt, nicht verlieren, überfordern sie sich täglich selbst. Deutsche Familien schätzen das außergewöhnliche Engagement vieler polnischer Pflegekräfte. Dass die Polinnen für die Pflegearbeit häufig völlig überqualifiziert sind und in Polen eine Ausbildung oder ein Studium absolviert haben, ist ihnen oft nicht bewusst. »Sobald sie bei uns ihre Arbeit im Haushalt antreten, behandeln wir sie wie Putzfrauen. Sie verlieren mit dem Grenzübertritt jede Qualifikation und jede Anerkennung«, so Schillinger.

»Sie sind das Puzzlestückchen, das immer mal wieder herausbricht aus dem einen Familienbild und hineingedrückt wird in ein anderes.« So beschreibt es die Autorin Katja Reimann vom Tagesspiegel in ihrem Artikel »Die Pflege der Anderen«. Sie sind Wanderer zwischen den Welten, Nomadinnen, Frauen, die nicht ankommen können, weil der Abschied ihnen – egal ob sie gerade in Deutschland oder in Polen sind –, immer schon wieder im Nacken sitzt. Sie täuschen ihren Angehörigen eine Normalität vor, die es in ihrem Leben schon lange nicht mehr gibt. Ihre nächsten Familienangehörigen sehen sie nur noch auf Computerbildschirmen, Hausaufgaben betreuen sie via Telefon, und verpasste Gelegenheiten versuchen sie in der kurzen Zeit, in der sie zu Hause sind, nachzuholen, um ihre Abwesenheit wiedergutzumachen. Sie putzen, kochen, waschen und räumen auf. Wenn sie dann wieder in den Kleinbus zurück nach Deutschland steigen, sind sie erschöpfter als zuvor. In der Fremde gucken sie polnisches Fernsehen und stricken Strümpfe für ihre Enkelkinder, um sich wenigstens ein bisschen heimisch zu fühlen. Und wenn das Heimweh allzu sehr schmerzt, dann versuchen sie einfach, das Gefühl zu ignorieren. Mit einem normalen Familienleben hat all das nichts mehr zu tun – und das wissen diese Frauen auch. Sie reden sich jedoch ein, dass die Situation zeitlich begrenzt ist, obwohl viele von ihnen mangels Alternative schon einige Jahre so leben. »Ich mache das nicht nur wegen des Geldes, sondern auch für mich selbst. Ich will mir beweisen, dass ich meiner Familie helfen kann und dass ich dazu alleine fähig bin.« So erklärt eine Pflegekraft ihre jahrelange Trennung von der Familie.

Zehntausende polnischer Frauen lassen ihre Familien – Männer, Kinder und Enkel – in Polen zurück. Meistens kümmern sich dann die Großmütter oder die Schwestern der Frauen um deren Nachwuchs. In Polen ist Familie noch immer reine Frauensache.

In der WDR-Sendung »Frau TV« vom 12. 9. 13 erzählt die 57-jährige Wieslawa offen von ihrem Trennungsschmerz. Die alleinerziehende Mutter arbeitet seit acht Jahren als Pflegekraft in Deutschland. Ihr Mann starb vor vielen Jahren, und um von da an für ihre Kinder sorgen zu können, musste sie diese verlassen. Wieslawa hat vier Töchter, mittlerweile sind auch schon die ersten Enkel da. Ihre polnische Familie sieht sie nur dreimal im Jahr. Niemals wird sie ihre erste Woche in Deutschland vergessen: »Ich habe fünf Kilo abgenommen, konnte nicht essen, nicht schlafen. Ich wusste nicht wohin vor lauter Verzweiflung.«

Den vier Töchtern finanziert Wieslawa heute durch ihren Job als Pflegekraft die Studiengebühren in Polen. »Es gibt mir ein Gefühl der Zufriedenheit, dass meine Kinder durch meine Arbeit was erreichen können.« Ihre Schwester kümmert sich in ihrer Abwesenheit um die Familie. Einmal am Tag skypt Wieslawa mit ihren Töchtern und den Enkelkindern. Es ist der einzige mögliche Kontakt, und es sind die Momente, in denen ihr die Trennung von ihren nächsten Angehörigen besonders schmerzlich bewusst wird: »Niemand kann sich richtig vorstellen, wie viel man dabei verliert. Es fanden Schulveranstaltungen der Kinder statt, bei denen ich nicht dabei sein konnte. Später haben die Kinder ihre ersten Liebschaften durchlebt, die ich nur vom Telefon her kannte. Meine Schwester hat mittlerweile mehr Kontakt zu meiner Familie als ich, worauf ich ehrlich gesagt neidisch bin. Das tut sehr weh.«

»Transnationale Mütter« nennt Helma Lutz diese osteuropäischen Pendler-Migrantinnen, die im Westen arbeiten und ihre Familien aus der Ferne managen. Aus Sicht der Professorin für Frauen- und Geschlechterforschung wird die Zahl der Pflegemigrantinnen derzeit völlig unterschätzt. Anstatt von 200 000 geht sie infolge ihrer Forschungen sogar von bis zu 500 000 osteuropäischen Pflegekräften aus.

Lutz prognostiziert: »Wenn wir so weitermachen wie bisher, wird der Markt für Pflegemigranten immer größer, und uns bleibt...

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