Sie sind hier
E-Book

Mit einem Koffer voll Hoffnung

Österreich als neues Zuhause - 15 Lebensgeschichten

AutorAndrea Heigl
VerlagResidenz Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl144 Seiten
ISBN9783701744213
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Neue Heimat! Eine tibetische Familie auf der abenteuerlichen Flucht vor der chinesischen Staatsmacht, die ausgerechnet in einem Tiroler Bergdorf ihre neue Heimat findet. Eine Uni-Professorin aus Sri Lanka, der man wegen ihrer Hautfarbe keinen Tisch in einem Wiener Nobelrestaurant gibt. Ein Sohn türkischer Gastarbeiter, der Tanzlehrer wird und den Opernball choreografiert. Drei Geschichten von 15, die verblüffen und berühren. Geschichten, die uns die Menschen hinter dem heiß diskutierten Thema Migration näherbringen - abseits von Plattitüden und politischen Parolen.

Andrea Heigl geboren 1984 in Scheibbs, lebt in Wien. Journalismus- Studium in Wien, nebenher freie Mitarbeiterin der NÖ Nachrichten, seit 2007 politische Redakteurin bei der Tageszeitung 'Der Standard'. Buch-Publikationen: '1x1 der Demokratie - Wahlen in Österreich' (2008), '1x1 der Demokratie - Österreich und die EU' (2009), 'Politik 2.0 - Demokratie im Netz' (2010).

Kaufen Sie hier:

Horizontale Tabs

Leseprobe

Drei Pfeiler für ein gelungenes Leben


MARTIN BLUM
Von Prag nach Salzburg und Wien


Martin dachte, sie würden auf Urlaub fahren. Weg aus Prag mit seiner schlechten Luft, die dem sechsjährigen, asthmakranken Buben andauernd zu schaffen machte, für ein paar Tage oder Wochen nach Jugoslawien. Doch er und seine Mutter waren nicht auf Urlaub, sie waren auf der Flucht. 1987 war das, nur zwei Jahre, bevor Schluss war mit dem Kommunismus in der damaligen Tschechoslowakei; Schluss mit den Repressionen, die die Familie aus ihrer Heimat wegtrieben.

Martins Eltern hatten den »Urlaub« bis ins letzte Detail geplant: Mutter und Sohn beantragten von Jugoslawien aus eine Durchreisegenehmigung durch Italien, angeblich, um schneller in die Tschechoslowakei zurückzukommen. Doch genau das hatten sie nie vor, ihr eigentliches Ziel war Österreich. Der Vater war gleichzeitig zum »Urlaub« seiner Frau beruflich in Paris, er tauchte einfach nicht mehr auf, als der Bus mit den Arbeitskollegen wieder zurück in die Tschechoslowakei fahren sollte, und schlug sich über die Schweiz nach Österreich durch.

Im Flüchtlingslager im niederösterreichischen Traiskirchen haben sich die drei schließlich wieder gesehen. »Das klingt so dramatisch«, sagt Martin gut 25 Jahre später, als er die Geschichte seiner Flucht erzählt, und es klingt fast, als würde er sich selbst ein bisschen darüber wundern, wie sich das alles in seinen eigenen Ohren anhört. Mitbekommen hat er von diesen dramatischen Stunden als Kind natürlich nichts, er wähnte sich stets in Sicherheit – »das ist ein großes Verdienst meiner Eltern«.

Auch seine Erinnerungen an Traiskirchen, an jenes Quartier, das heute fast schon symbolhaft für den österreichischen Umgang mit Flüchtlingen steht, sind spärlich. »Ich weiß nur noch, dass wir mit 20, 30 Leuten in einem Zimmer geschlafen haben.« Doch das Ziel seiner Eltern waren ohnehin die Berge. Sie haben sich beim Skifahren kennen- und lieben gelernt, und die Liebe zur Natur, der Drang nach Freiheit haben sie dazu gebracht, die Tschechoslowakei auf diesem abenteuerlichen Weg zu verlassen. Martins Mutter war als Diplomatentochter in aller Welt aufgewachsen, Berlin, Rom, Paris, Teheran. 1968 wurde der Großvater aus der Regierung hinausbefördert. Weil er aktiv am Prager Frühling beteiligt war, galt er als Feind des Kommunismus; seiner Tochter wurde sogar verboten, in der Tschechoslowakei zu studieren – erst viele Jahre später holte sie das in Österreich nach.

Martin erinnert sich noch genau an die einzigen drei deutschen Worte, die er beherrschte, als er begann, in St. Georgen am Attersee zur Volksschule zu gehen: Hund, Katze, Maus. Gelernt hat er sie von der Mutter, die als Kind vier Jahre lang in Ostberlin gelebt und in der Tschechoslowakei Deutsch unterrichtet hatte. Martin war das einzige »Ausländerkind« und fühlte sich zunächst ausgeschlossen – mit den Sprachkenntnissen änderte sich das aber rasch. Die Familie zog weiter nach Salzburg, und als Martin dort in die 3. Klasse Volksschule kam, »habe ich schon so gut Deutsch gesprochen, dass die Kinder gar nicht gemerkt haben, dass ich aus der Tschechoslowakei komme«.

Schon 1991 erhielt die Familie die österreichische Staatsbürgerschaft, nicht zuletzt wegen der guten diplomatischen Kontakte des Großvaters, die sich trotz seines Quasi-Berufsverbots über die Jahre erhalten hatten. Von den Salzburger Kindern unterschied Martin vor allem der finanzielle Status der Familie. »Bei uns gab es keine Geschenke, keine Geburtstage bei McDonald’s. Das hat mich schon geprägt, ich denke, ich habe einen gesünderen Zugang zu Wertsachen. Eine gewisse Wurschtigkeit.« Besitz anzuhäufen, wie es so viele in seinem Alter anstreben, das sei ihm nach wie vor überhaupt kein Anliegen, sagt Martin.

Gut zwei Jahre nach der Flucht der Familie zerfiel der Kommunismus in der Tschechoslowakei. »Wir hatten damals keinen Fernseher, wir waren ja noch in der Flüchtlingsunterkunft in St. Georgen. Aber ich kann mich erinnern, dass meine Eltern irgendwann gesagt haben: Jetzt ist es aus.« Aber zurück in die alte Heimat wollten sie nicht mehr, sie hatten schließlich hier einen Job, eine Wohnung, ein neues Leben. Die Familie begann, jedes Wochenende die Großeltern in Budweis zu besuchen. Die Grenze, die früher so unüberwindbar war, konnte man plötzlich ganz einfach überqueren. Nur wenige Stunden trennten die Städte, die früher fern wie zwei unterschiedliche Planeten schienen.

Gleichzeitig sorgten die Eltern dafür, dass Martin das Tschechische nicht fremd wurde – nicht die Sprache, die in der Familie immer gesprochen wurde und wird, aber auch nicht die Kultur. Immer und immer wieder liefen zu Hause Videos von Miloš Forman, dem tschechisch-stämmigen, Oscar-gekrönten Regisseur. »Der Feuerwehrball« blieb Martin besonders in Erinnerung, ein Film, der in der Tschechoslowakei verboten wurde.

Er handelt von einem Feuerwehrball, bei dem eine Schönheitskönigin gekürt wird. Das Fest gerät außer Kontrolle, als sich die Parteifunktionäre einmischen. Ein Schelm, wer eine Parallele zum Kommunismus erkennt. »Dieser Witz, diese subversiven Elemente, ich denke, die sollten das Leben in der Tschechoslowakei ein bisschen lustiger machen, oder zumindest erträglich. Forman fängt die tschechische Seele so gut ein, das ist unnachahmlich«, sagt Martin. Was den Österreichern Qualtingers Herr Karl sei, sei den Tschechen das Werk von Miloš Forman. »Seine Filme sind von so einer Situationskomik geprägt – die gibt es in österreichischen Filmen gar nicht.«

Die Sehnsucht nach der alten Heimat hat seine Eltern nie verlassen. Als die Ehe zerbrach, ging der Vater zurück nach Prag – und Martin bekam einen neuen Nachnamen: Er und seine Mutter hießen von da an Blum, der alte jüdische Name seiner Familie, den sein Großvater nach dem Zweiten Weltkrieg abgelegt und gegen den slawischen Namen Borski eingetauscht hatte. Martin sagt, mit dreizehn Jahren fand er die Namensänderung »aufregend« – er hatte das Gefühl, ein Stück Familiengeschichte weiterzutragen, der jüdische Name war plötzlich kein Stigma mehr. Alles andere als eine Selbstverständlichkeit und viel mehr als nur eine Randnotiz in seiner Biografie.

Martins Urgroßeltern waren in Auschwitz ums Leben gekommen, der damals 17-jährige Großvater hatte sich nach einer abenteuerlichen Flucht durch die Wälder einer Partisanengruppe angeschlossen und so den Krieg überlebt. Martin sagt, die Familiengeschichte habe ihn politisiert. »In meiner Jugend habe ich erlebt, dass sich die Burschen in Salzburg mit >Sieg Heil< begrüßt haben, nicht weil sie Nazis waren, sondern weil sie das für lustig hielten. Manchmal bin ich auch mit Leuten ins Gespräch gekommen, habe ihnen erzählt, dass ich jüdische Wurzeln habe, und die haben dann von irgendwelchen angeblichen schlechten Erfahrungen mit Juden erzählt. Ich bin nie direkt angefeindet worden, aber man spürt den Antisemitismus schon in solchen Kleinigkeiten.« Damals, mit fünfzehn, hat sich Martin nicht getraut, gegen solche Bemerkungen lautstark aufzutreten, erzählt er heute, und er rechtfertigt sich: »Was sollst du schon sagen als Einziger in einer Runde aus Burschen? Heute würde ich mich natürlich wehren.«

Nach der Matura wurde Salzburg für Martin zu klein. »Es ist im Grunde wie ein kleines Dorf, das halt wegen der Festspiele viel von sich hält. Aber eigentlich laufen die Menschen dort mit Scheuklappen durch die Welt, sie wollen nichts Neues.« Martin arbeitete im Ausland, organisierte Ski-Projekte in den französischen Alpen, bevor er schließlich nach Wien ging, wo er heute Psychologie studiert.

Er ist ein »unsichtbarer Migrant« mit einem österreichisch klingenden Namen und geschliffenem Deutsch, aber »verösterreichert«, sagt er, das sei er ganz und gar nicht. »Ich bin stolz darauf, dass ich Tscheche bin, und sage das auch immer. In Wien wird das positiv wahrgenommen, weil praktisch jeder, dem ich begegne, irgendwo herkommt. Mein Freundeskreis ist eine echte Melange.«

Irgendwie schließt sich damit auch der familiäre Kreis, Martins Urgroßvater, Julius Blum, war Geschäftsmann in Wien. Seine Vorfahren waren Mitglieder jüdischer Sportclubs, bevor die Nazis diese aufgelöst haben. Nun spielt Martin selbst bei der Hakoah Basketball, mit seinen jüdischen Mitspielern feiert er – obwohl Atheist – hin und wieder Sabbat. Bei der Makkabiade, den jüdischen Olympischen Spielen, ist er für seine neue Heimat angetreten. »Bei diesem Ereignis war ich sehr stolz, für Österreich zu spielen.«

Und was ist tschechisch an Martin? »Ich würde sagen, dass ich mehr Chuzpe bin als die meisten Österreicher.« Das mache diese Mischung aus jüdischer und tschechischer Mentalität, mit der er aufgewachsen sei: »Im Kommunismus war nichts erlaubt, und man musste manchmal ein bisschen dreist sein,...

Blick ins Buch

Weitere E-Books zum Thema: Biografie - Religion - Philosophie

Über Gott und die Welt

E-Book Über Gott und die Welt
Gespräche am Küchentisch. Unter Mitarbeit von Cornelia Filter Format: ePUB

Lea Ackermann, die couragierte und furchtlose Ordensfrau, spricht mit Pater Fritz Köster, ihrem langjährigen Gefährten, über das, was unser Leben trägt: Woher nehme ich meine Motivation, wenn es…

Über Gott und die Welt

E-Book Über Gott und die Welt
Gespräche am Küchentisch. Unter Mitarbeit von Cornelia Filter Format: ePUB

Lea Ackermann, die couragierte und furchtlose Ordensfrau, spricht mit Pater Fritz Köster, ihrem langjährigen Gefährten, über das, was unser Leben trägt: Woher nehme ich meine Motivation, wenn es…

Martin Buber

E-Book Martin Buber
Leben - Werk - Wirkung Format: ePUB

Ein anschauliches Porträt des jüdischen Religionsphilosophen- Eine prägnante Darstellung des facettenreichen Lebens und Wirkens Martins BubersGerhard Wehr legt hier eine umfassende Darstellung von…

Martin Buber

E-Book Martin Buber
Leben - Werk - Wirkung Format: ePUB

Ein anschauliches Porträt des jüdischen Religionsphilosophen- Eine prägnante Darstellung des facettenreichen Lebens und Wirkens Martins BubersGerhard Wehr legt hier eine umfassende Darstellung von…

Martin Buber

E-Book Martin Buber
Leben - Werk - Wirkung Format: ePUB

Ein anschauliches Porträt des jüdischen Religionsphilosophen- Eine prägnante Darstellung des facettenreichen Lebens und Wirkens Martins BubersGerhard Wehr legt hier eine umfassende Darstellung von…

Martin Buber

E-Book Martin Buber
Leben - Werk - Wirkung Format: ePUB

Ein anschauliches Porträt des jüdischen Religionsphilosophen- Eine prägnante Darstellung des facettenreichen Lebens und Wirkens Martins BubersGerhard Wehr legt hier eine umfassende Darstellung von…

Weltuntergang bei Würzburg

E-Book Weltuntergang bei Würzburg
Ein Aussteiger berichtet von siebzehn Jahren in der Sekte - Universelles Leben der Prophetin Gabriele Wittek Format: ePUB

Gabriele Wittek ist im Verständnis des Universellen Lebens das größte Gottesinstrument nach Jesus von Nazareth. Qualitativ erstrahlt sie als die größte Prophetin aller Zeiten, also im prophetischen…

Weltuntergang bei Würzburg

E-Book Weltuntergang bei Würzburg
Ein Aussteiger berichtet von siebzehn Jahren in der Sekte - Universelles Leben der Prophetin Gabriele Wittek Format: ePUB

Gabriele Wittek ist im Verständnis des Universellen Lebens das größte Gottesinstrument nach Jesus von Nazareth. Qualitativ erstrahlt sie als die größte Prophetin aller Zeiten, also im prophetischen…

Weltuntergang bei Würzburg

E-Book Weltuntergang bei Würzburg
Ein Aussteiger berichtet von siebzehn Jahren in der Sekte - Universelles Leben der Prophetin Gabriele Wittek Format: ePUB

Gabriele Wittek ist im Verständnis des Universellen Lebens das größte Gottesinstrument nach Jesus von Nazareth. Qualitativ erstrahlt sie als die größte Prophetin aller Zeiten, also im prophetischen…

Weitere Zeitschriften

Arzneimittel Zeitung

Arzneimittel Zeitung

Die Arneimittel Zeitung ist die Zeitung für Entscheider und Mitarbeiter in der Pharmabranche. Sie informiert branchenspezifisch über Gesundheits- und Arzneimittelpolitik, über Unternehmen und ...

aufstieg

aufstieg

Zeitschrift der NaturFreunde in Württemberg Die Natur ist unser Lebensraum: Ort für Erholung und Bewegung, zum Erleben und Forschen; sie ist ein schützenswertes Gut. Wir sind aktiv in der Natur ...

Baumarkt

Baumarkt

Baumarkt enthält eine ausführliche jährliche Konjunkturanalyse des deutschen Baumarktes und stellt die wichtigsten Ergebnisse des abgelaufenen Baujahres in vielen Zahlen und Fakten zusammen. Auf ...

CE-Markt

CE-Markt

CE-Markt ist Pflichtlektüre in der Unterhaltungselektronik-Branche. Die Vermarktung von Home und Mobile Electronics mit den besten Verkaufsargumenten und Verkaufsstrategien gehören ebenso zum ...

küche + raum

küche + raum

Internationale Fachzeitschrift für Küchenforschung und Küchenplanung. Mit Fachinformationen für Küchenfachhändler, -spezialisten und -planer in Küchenstudios, Möbelfachgeschäften und den ...

Das Hauseigentum

Das Hauseigentum

Das Hauseigentum. Organ des Landesverbandes Haus & Grund Brandenburg. Speziell für die neuen Bundesländer, mit regionalem Schwerpunkt Brandenburg. Systematische Grundlagenvermittlung, viele ...

Gastronomie Report

Gastronomie Report

News & Infos für die Gastronomie: Tipps, Trends und Ideen, Produkte aus aller Welt, Innovative Konzepte, Küchentechnik der Zukunft, Service mit Zusatznutzen und vieles mehr. Frech, offensiv, ...

rfe-Elektrohändler

rfe-Elektrohändler

rfe-Elektrohändler ist die Fachzeitschrift für die CE- und Hausgeräte-Branche. Wichtige Themen sind: Aktuelle Entwicklungen in beiden Branchen, Waren- und Verkaufskunde, Reportagen über ...