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Mit einer Art von Wut

Goethe in der Revolution

AutorGustav Seibt
VerlagVerlag C.H.Beck
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl248 Seiten
ISBN9783406670565
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Goethe war kein Freund der Französischen Revolution. Er nannte sie «das schrecklichste aller Ereignisse» und erklärte: «Ihre Greuel standen mir zu nahe.» Gustav Seibts fulminante Untersuchung zeigt, wie wörtlich das zu verstehen ist, und führt uns mitten hinein in die Belagerung von Mainz 1793, die Goethe als Augenzeuge und als Handelnder miterlebte. Nach «Goethe und Napoleon» widmet sich Gustav Seibt nun in einem weiteren Buch der Revolutionserfahrung Goethes. Was hat sich im Juli 1793 wirklich abgespielt? Warum mündete die Mainzer Republik in Wochen des Bürgerkriegs und reaktionären Terror? Welche Rolle hat Goethe in diesen verstörenden Ereignissen gespielt, und wie hat er sie gedeutet? All diesen Fragen geht Seibt immer nah an den Quellen nach und beleuchtet dabei nicht nur Goethes Haltung zum wichtigsten Umbruch seiner Epoche neu, sondern wirft auch ein ungewohntes Licht auf eine fatale Weichenstellung in der deutschen Geschichte - Deutschlands Abwendung von den Idealen der Französischen Revolution. Seibts Buch ist eine grandiose Erzählung von Terror und Wut und dem Versuch, den Kreislauf der Gewalt zu unterbrechen.

Gustav Seibt ist einer der angesehensten deutschen Feuilletonisten. Nach Stationen bei der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung», der «Berliner Zeitung» und der «Zeit» schreibt er seit 2001 für die «Süddeutsche Zeitung». Für seine Arbeiten wurde er u.a. mit dem «Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa», dem «Literaturpreis der Friedrich-Schiedel-Stiftung» und dem «Hildegard-von-Bingen-Preis» für Publizistik ausgezeichnet.

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Leseprobe

KAPITEL 2


LIEBER EINE UNGERECHTIGKEIT ALS UNORDNUNG


Am 27. Juli 1793, vier Tage nach der Kapitulation der französischen Besatzung von Mainz und dem damit verbundenen Ende der Mainzer Jakobiner-Republik, schrieb Goethe an seinen Freund Friedrich Heinrich Jacobi: «Es widersteht mir etwas aufzuschreiben von dem was ich sehe und höre, sonst hätte ich ein schönes Tagebuch führen können. Die Letzten Tage, der Capitulation, der Übergabe, des Auszugs der Franzosen gehören unter die interessantesten meines Lebens, ich wünsche dir einmal davon zu erzählen.»[1]

Und Goethe hat davon erzählt, wenn auch erst ein Vierteljahrhundert später. Er, der fast sechzig Jahre im Umkreis kleiner und großer Politik gelebt hat, der 1778 das Herzogtum, dem er diente, durch die Kriegsgefahr zwischen zwei benachbarten verfeindeten Großmächten zu steuern hatte, der zu diesem Zweck sogar nach Berlin und Potsdam reiste und das Arbeitszimmer Friedrichs des Großen betrat und bei dessen Bruder dinierte, der später auf Feldzügen vor Monarchen und Ministern aufwartete, der noch im hohen Alter lange politische Gespräche mit Wilhelm von Humboldt und dem Fürsten Metternich führte, der jahrzehntelang eine Korrespondenz mit dem Grafen Reinhard, der rechten Hand Talleyrands, unterhielt und der seine Unterredungen mit Napoleon im Oktober 1808 für einen Höhepunkt seines Lebens hielt – dieser welterfahrene, bis in die Details von Verwaltung und Gesetzgebung kundige dichtende Staatsmann hat über keinen einzelnen politischen Vorgang seiner eigenen Erfahrung ausführlicher erzählt als über die Kapitulation von Mainz im Juli 1793.[2]

Es ist keine glänzende Geschichte auf den Höhen der Gesellschaft, wo Fürsten, Feldherren und Diplomaten um die Geschicke ihrer Länder ringen, sondern ein hässlicher Vorgang von Hass und Wut, von Gewaltakten, von Menschen, die aus ihren Kutschen und von ihren Pferden gerissen werden, um dann so grausam verprügelt zu werden, dass ihre Gesichter unkenntlich werden. Eine Szene entfesselter Gewalt, die bis zum Mord zu eskalieren droht: Das ist das ausführlichste Bild zeitgenössischer Geschichte, das in Goethes Werken enthalten ist.

Die 1822 erschienene Darstellung, die Goethe fast am Ende seiner miteinander verbundenen Kriegschriften «Campagne in Frankreich 1792» und «Belagerung von Maynz» gibt, umfasst in einer modernen Ausgabe ziemlich genau sieben Druckseiten.[3] Die Skizze zur Unterredung mit Napoleon ist in Worten nicht einmal halb so lang. Nimmt man hinzu, dass schon der Brief an Jacobi von 1793 eine ganze Seite dichter Informationen dazu enthielt und dass der große Krach in der Rahmenhandlung der «Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten» von 1795 sich an Fragen entzündet, die mit dieser Kapitulation verbunden sind, dann darf man feststellen: Es war nicht einfach so dahingesagt, wenn Goethe von den interessantesten Tagen seines Lebens sprach. Zumal sich selbst in dem bürgerlichen, nur im Vordergrund idyllischen, vor dem Horizont des Revolutionszeitalters spielenden Epos «Herrmann und Dorothea» von 1797 Spuren von dieser politischen Erfahrung nachweisen lassen.

Sie hat Goethe also beschäftigt wie kaum eine andere. Daher ist es nicht einmal verwunderlich, dass einer der bekanntesten, am häufigsten bemühten Sätze Goethes zur Politik aus diesem Zusammenhang stammt. Selbst wer wenig von Goethe als Staatsmann und von seinem komplizierten Verhältnis zu den Umbrüchen seiner Zeit weiß, pflegt ihn mehr oder weniger genau zu kennen: «Es liegt nun einmal in meiner Natur, ich will lieber eine Ungerechtigkeit begehen als Unordnung ertragen.» Er steht am Ende des späten Berichts von der Mainzer Kapitulation und dient dort der Rechtfertigung für ein riskantes Einschreiten des Weimarer Geheimrats gegen eine wütende Menge, die sich anschickt, einen abziehenden «Clubbisten» – vielleicht ein Nutznießer oder Akteur der soeben ruhmlos zu Ende gegangenen Mainzer Republik – anzugreifen und möglicherweise sogar totzuschlagen. Es geht also ums Einschreiten in einer jener jakobinerfeindlichen Jagdszenen, wie sie sich schon im Frühjahr 1793 an vielen Orten in den zurückeroberten Rheinlanden ereignet und das Entsetzen einer aufgeklärten Öffentlichkeit in Deutschland erregt hatten.

Gerechtigkeit und Ordnung: Heinrich und Thomas Mann im Jahre 1905.

Goethe entwickelt die Szenerie und die Umstände mit handgreiflicher Deutlichkeit, und doch hat sich sein ominöser Satz im 20. Jahrhundert eine Zeit lang aus seinem Kontext gelöst und verselbständigt. Seine herausgehobene Position am Ende des autobiographischen Gesamtwerks «Dichtung und Wahrheit» mag dazu beigetragen haben. War hier nicht in einer Maxime das Vermächtnis des revolutionsskeptischen Dichters insgesamt zusammengefasst, den die einen als Fürstenknecht schmähten, während die anderen ihn als unpolitischen Sachwalter bürgerlich-monarchischer Ordnung lobten?

Als Thomas Mann in bitterer Fehde mit seinem Bruder Heinrich 1918 in den «Betrachtungen eines Unpolitischen» die Figur des demokratisch gesinnten Zivilisationsliteraten zu einer feindseligen Karikatur stilisierte, berief er sich auf Goethe: «Der Zivilisationsliterat steht im ganzen nicht gut mit Goethe, dem Anti-Revolutionär, dem Quietisten, dem Fürstenknecht. Hundertmal hat er Voltaire gegen ihn ausgespielt, den Mann der Calas-Affaire gegen den, der zu sagen wagte, daß er lieber eine Ungerechtigkeit als eine Unordnung dulden wolle.»[4] Nun, das war nicht nur ungenau zitiert, es war auch leicht übertrieben: Genau ein Mal, 1910, hatte Heinrich Mann in einem Essay Goethe und Voltaire miteinander konfrontiert, allerdings mit scharfen Worten: «Goethe hat zur Menschheit die hohe, ferne Liebe eines Gottes zu seiner Schöpfung. Voltaire kämpft für sie im Staub (…). Sein [Goethes] Werk, der Gedanke an ihn, sein Name haben in Deutschland nichts verändert, keine Unmenschlichkeit ausgemerzt, keinen Zoll Weges Bahn gebrochen in eine bessere Zeit. Hinter seinem Sarge ging die Familie keines Calas. Er hat den Menschen, die schuldig werden müssen, Gerechtigkeit, Gleichheit, Freiheit nur in jenen Gefilden verheißen, mit denen Dichtung uns tröstet.»[5] Darauf antwortete nun Thomas Mann: Goethe habe nicht im Ernst an Freiheit «und» Gleichheit geglaubt. «Seine Sache ist die der sozialen Freiheit. Er ist der Feind der Demokratie, sofern diese sich als doktrinärer Selbstzweck und nicht als Mittel gebärdet.»

Goethe, der Feind der Demokratie und sogar der Gerechtigkeit, das ist es, was zunächst hängenblieb. Romain Rolland, der Deutschland verbundene französische Schriftsteller, griff den Zwist im Hause Mann 1927 noch einmal auf, als die Brüder sich schon wieder ausgesöhnt hatten. Im dritten Band seines Romans «Verzauberte Seele» lässt er einen jungen Menschen auftreten, der sich enttäuscht von Goethe abwendet. Er nennt ihn den «großen Egoisten, dem die Weltordnung lieber war als das Wohl des Nächsten und dem die Ruhe der Anschauung lieber ist als gefährliches Bekämpfen gegenwärtigen Übels». Und dann schloss dieser moderne Jüngling von 1927: «Was einem Goethe erlaubt ist, gilt nicht für uns. Die ewige Ordnung genügt uns nicht. Wir atmen in irdischer Ordnung. Und wenn die von Ungerechtigkeit verpestet ist, muss man den Glaskasten zertrümmern, damit man atmen kann.»[6] Also auch der Egoist Goethe, dessen kaltes Bildnis längst durch viel frühere Kritiker wie Ludwig Börne etabliert war, wurde mit dieser Sentenz verbunden. In seinem Stück «In Goethes Hand» ließ Martin Walser noch 1982 Ferdinand Freiligrath, den Freiheitsdichter des «Jungen Deutschland», die Sentenz von Ungerechtigkeit und Unordnung zitieren, um dann fortzufahren: «Das ist die Reaktion. Goethe hat immer nur der Selbstsucht, der Lieblosigkeit geschmeichelt; darum lieben ihn die Lieblosen. Er hat die gebildeten Leute gelehrt, wie man gebildet sein kann und doch ein Selbstling! Der große Dichter ist kein Vorbild für das richtige Leben und Handeln.»[7] Sicher, das ist Figurenrede, und doch spiegelt es ein geläufiges Goethe-Bild, dessen kritische Akzente immer wieder abrufbar bleiben.

Wie ungenau Goethes Diktum dabei nicht nur zitiert, sondern auch verstanden wird, hatte allerdings schon 1931 ein Essay von Paul Amann, dem deutschen Übersetzer von Rolland und Korrespondenzpartner von Thomas Mann, im «Jahrbuch der Sammlung Kippenberg» herausgearbeitet, der zwar in deutscher Sprache verfasst ist, aber als Verbeugung vor Romain Rolland einen französischen Titel trägt: «Plutôt une injustice qu’un désordre». Der Verfasser, der sich auf die gründlich-solide Erforschung der Mainzer Geschichte und Kriegsgeschichte von 1792/93 stützte, die im positivistischen 19. Jahrhundert von deutschen und französischen Autoren geleistet worden war, wollte mit einer Erinnerung an den historischen Kontext von Goethes auch in Frankreich sprichwörtlich gewordenem Satz der deutsch-französischen Annäherung einen Stein aus dem Weg räumen. Goethe, der Unordnung allgemein nicht leiden konnte, hatte einen Lynchmord...

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