Was versteht man unter Behinderung?
Begriffserklärung mit entsprechenden Beispielen
Alle sprechen von Behinderung, an vielen Litfasssäulen kann man das Wort „Behinderung“ lesen, doch genau sagen, was es eigentlich bedeutet, kann fast niemand; es gibt einen so schönen und wahren Satz, den ich bei einer Einrichtung des Diakonischen Werkes gelesen habe, der leider mit der Realität und dem Verhalten der Menschen in jener Einrichtung nicht viel zu tun hat: Behindert ist man nicht, sondern behindert wird man!
Normativität und / oder Normalität
Vorurteile sind ein Bestandteil des stereotypen Wahrnehmungsmusters unserer Gesellschaft, richten sich auch gegen Behinderte, und werden von den Kindern im Laufe des Hineinwachsens in unsere Gesellschaft erlernt. Ganz besonders deutlich und anschaulich wird dieser Lernprozess bei der Betrachtung unserer Kinofilme und oder auch der Märchen. Hier wird das Böse unproportional hoch über die körperliche Abweichung dargestellt. So ist die Hexe in „Hänsel und Gretel“ buckelig und hässlich. Im Struwwelpeter werden Konrad die Daumen abgeschnitten, weil er das Daumenlutschen nicht lässt.
Behinderte widersprechen damit der Normalität, allerdings gesellschaftlich bedingt, und nicht naturgegeben. Aus diesem Grund unterscheidet sich das Selbstverständnis vieler Behinderter von dem der Bevölkerungsmehrheit. Behinderte müssen also lernen, ihren persönlichen Eigenwert zu erkennen, und sich nicht als reparaturbedürfte Lebewesen, als eine Panne der Natur verstehen, sondern als normales Individuum zu sehen.
„Behinderung: Eine auf eine Beschädigung oder Beeinträchtigung zurückgehende Benachteiligung, die einen bestimmten Menschen teilweise oder ganz daran hindert, eine Rolle auszufüllen, die für ihn nach Alter und Geschlecht und sozio - kultureller Faktoren normal wäre.“[4]
„Wir haben unsere eigene Kultur. Wir sind stolz auf das, was wir sind. Wir sind mutig, stark und schön.“[5]
Im ersten Zitat ist von Beschädigung, Beeinträchtigung, Benachteiligung und
hindern die Rede, also durchweg Ausdrücke, die negativ belegt sind und
etwas Fehlendes, und zwar schmerzlich Fehlendes, verdeutlichen. Dieses Fehlende ist umso schmerzlicher, als es dem betreffenden Menschen seine Normalität raubt. Normalität also scheint das Maß des Lebenserfolgs zu sein.
Das zweite Zitat besteht im Wesentlichen aus vier üblicherweise positiv belegten Adjektiven; mit keinem Wort wird hier von Normalität gesprochen, denn der Mensch, der dieses sagt, vergleicht sich nicht mit Mitmenschen gleichen Alters, Geschlechts oder sozio - kulturellen Hintergrunds. Die Behauptung besteht exklusiv für die betreffende Gruppe und nur für sie beansprucht sie Gültigkeit.
Beide Aussagen haben auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun; dennoch beziehen sich beide Aussagen auf Behinderung.
Wie kann das sein?
Um weiter in die Problematik einsteigen zu können, ist eine Klärung in Richtung „Normalität, Normativität und Behinderung erforderlich. Ich möchte deshalb versuchen darzustellen, wie Behinderung entgegen der Normalität definiert wird, was einen behinderten und im Gegenzug dazu einen normalen Körper ausmacht. Ich möchte dabei bestimmenden, aber verschiedenen Konzepten von Behinderung und Normalität nachgehen. Da die beiden zitierten Ausdrücke über Behinderung zu unterschiedliche Aussagen führen, möchte ich in einem weiteren Schritt klarstellen, wie diese unterschiedlichen Konzepte zustande kommen können, wie sie sich bilden konnten und wo der Hintergrund und die Motivation liegen. In einem letzten Schritt in dieser Fragestellung werde ich mich auf völlig neue Denkformen von Behinderung und damit von Körpernormen einlassen und Spekulationen über eine mögliche zukünftige Körpernorm formulieren.
Wie können sich Körpernormen verändern?
Anne Waldschmidt unterscheidet in ihren Gedanken zwei Formen von Normalität: Sie spricht von der
normativen Norm und der
normalistischen Norm.
Wird die Normalität mit dem Normativen gleichgesetzt, dann ist das Normalsein ein Verhalten, das sich an geltenden Normen ausrichtet. Es handelt sich dabei also um die so genannten normativen Normen.
Die normativen Normen sind in folge dessen Normen, die von außen vorgegeben/gesetzt sind und damit für den Einzelnen bestimmend sind. Diese Normen spiegeln sich dann in sozialen, ethischen, juristischen Normen wieder, nehmen Einfluss bis hin zu den gültigen gesellschaftlichen Regeln und Erwartungshaltungen. Kennzeichnend für alle diese Normen ist, dass diese gegenüber dem einzelnen Menschen durchgesetzt werden sollen und ihre Einhaltung durch unsere Gesellschaft „überwacht“ wird. Damit wird deutlich, dass es Kontrollmechanismen gibt, die für die Einhaltung der normativen Normen sorgen, verantwortlich zeichnen.[6] Werden diese Normen nicht eingehalten, dann folgen Strafen und Sanktionen, denn sonst wäre das Ziel dieser Normen, die Herstellung einer Konformität nicht erreichbar. Damit wird aber gleichzeitig deutlich, dass es sich bei den normativen Normen um ein eher stabiles „Prinzip“ handelt, denn normative Normen ändern sich nicht ständig und geben damit eine gewisse Stabilität.
Da sich die Gesellschaft der heutigen Zeit jedoch spürbar weniger auf die herrschenden Normen, sondern deutlich mehr auf die statistische Normalität bezieht, wird der soziale Zusammenhalt über den Durchschnitt hergestellt; deshalb handelt es sich hierbei um die so genannten normalistischen Normen.
Normalistische Normen entstehen im „Vergleich der Menschen untereinander vor dem Hintergrund eines Maßstabes.“[7] Es wird sofort deutlich, dass diese Normen anders gesetzt sind. Im Vordergrund steht hier zunächst der Einzelne, der sich dann allerdings im Vergleich zu den anderen Menschen und dem daraus resultierenden Maßstab sieht. Damit steht „nicht das regelgerechte Benehmen des Einzelnen, sondern eher das regelmäßige Verhalten der Masse“[8] im Vordergrund, an dem sich der Einzelne orientiert. Die quantitative Mehrheit wird somit zum Vergleichspunkt. Sie setzt die Norm für das Aussehen und das Verhalten. Wenn die normale Mitte durch die „Menge“ hergestellt wird, dann bedeutet das, dass es sich hierbei um einen dynamischen Prozess handelt, handeln muss, denn eine so entstandene Mitte ist veränderbar. Natürlich verändern sich „aktuelle“ Trends oder Verhaltensweisen einer Gesellschaft nicht plötzlich, dennoch ist dieser Typ als dynamisch zu bezeichnen, da grundsätzlich Veränderungen und Verschiebung in jede Richtung möglich sind.
Waldschmidt verweist an dieser Stelle auf Durkheim.
Emile Durkheim führte die statistische Normalität ein. „Als normal bezeichnete er alle diejenigen Phänomene, die allgemein in der Gesellschaft vorkommen.“[9] Das hat zunächst zur Konsequenz, dass alle, wenn auch abweichenden Verhaltensweisen als normal zu bezeichnen sind. „Den entscheidenden Indikator, ob eine bestimmte Abweichung als normal oder pathologisch anzusehen ist, stellt ihr jeweiliger prozentualer Anteil am sozialen Geschehen dar.“[10] Das bedeutet, dass die Häufigkeit einer Abweichung in einer Gesellschaft darüber entscheidet, ob diese noch als normal oder als pathologisch (krankhaft) anzusehen ist. Aus dieser Erkenntnis folgen natürlich sofort die Fragen: Wo und wie werden die Grenzen zwischen „normal“ und „abweichend“ gesetzt? Hofstra gibt auf diese Frage eine Antwort: „Die Unterscheidungen zwischen normal und abweichend beständen aus einer Vielzahl von Übergängen und gäben mehr eine Richtung an als einen fixierbaren Punkt.“[11]
Als erstes Ergebnis bleibt an dieser festzuhalten, dass es zwei unterschiedliche Arten von Normen gibt. Zum einen gibt es „normative Normen“ und zum anderen gibt es „normalistische Normen“[12]. Normativität und Normalität unterscheiden sich entscheidend in der Reihenfolge. Normativität setzt eine von außen gesetzte Regel voraus und führt dann zu einem Verhalten vieler Menschen. Normalität setzt das gleiche Verhalten vieler Menschen voraus und führt dann zu einer Norm. Das bedeutet nicht, dass es keine sozialen Normen mehr gibt. Dennoch lässt sich festhalten, dass sich eine statistische Normalität herausgebildet hat, die das Verhalten der Gesellschaft neben der Normativität bedeutend beeinflusst. Was bedeutet diese Erkenntnis für die Problematik der Behinderung?
Von Behinderung spricht man immer dann, wenn Menschen wegen einer geistigen,...