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Einführung in die fantastische Literatur

AutorTzvetan Todorov
VerlagVerlag Klaus Wagenbach
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783803141309
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Im Kanon der Weltliteratur hat die Fantastik einen singulären Ort. Vor allem im 19. Jahrhundert eröffnete sie buchstäblich fantastische literarische Spielräume. Die bis heute maßgebliche Einführung von Tzvetan Todorov bleibt für das Verständnis dieser Gattung ein unverzichtbares Standardwerk. Ist die Figur im Roman schlicht wahnsinnig oder betrunken, sieht sie vielleicht Gespenster, Traumbilder, Halluzinationen? Oder geschieht da tatsächlich etwas Unwahrscheinliches, etwas Unheimliches? Nach Tzvetan Todorov ist diese Unschlüssigkeit des Lesers ein wesentliches Merkmal der Wirkungsweise fantastischer Literatur. Anhand zahlreicher Beispiele von E. T. A. Hoffmann über Nikolai Gogol und Théophile Gautier bis zu Edgar Allan Poe zeigt er in seiner Studie, auf welche Weise fantastische Texte diese Verunsicherung hervorrufen und inwiefern sie im Rückgriff auf Übernatürliches gesellschaftliche Tabus brechen und die Zensur umgehen konnten. Todorov nimmt Einflüsse der russischen Formalisten auf und verarbeitet auch Ergebnisse der strukturalistischen Untersuchungen seines Lehrers Roland Barthes. Sein Buch ist der - durchaus kontrovers diskutierte - Ausgangspunkt fast aller seither unternommenen Bestimmungsversuche des Fantastischen.

Tzvetan Todorov wurde 1939 in Sofia geboren. Mit 23 Jahren ging er nach Paris, wo er heute lebt. Gastprofessor an zahlreichen Universitäten, so an der New York University, der Columbia University, der Harvard University, der Yale University und der University of California, Berkeley, erhielt er viele Preise und Auszeichnungen, ist Mitglied der American Philosophical Society und der American Academy of Arts and Letters sowie Offizier der französischen Ehrenlegion.

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Leseprobe

Definition des Fantastischen


Erste Definition des Fantastischen. – Bisherige Anschauungen. – Das Fantastische in Die Handschrift von Saragossa. – Zweite, ausführlichere und präzisere Definition des Fantastischen. – Zurückweisung anderer Definitionen. – Ein eigenartiges Beispiel des Fantastischen: Nervals Aurélia.

Alvares, die Hauptperson in Cazottes Le Diable amoureux, lebt seit Monaten mit einem Wesen weiblichen Geschlechts zusammen, das er für einen bösen Geist hält: für den Teufel oder einen seiner Diener. Die Art, wie dieses Wesen erschienen ist, weist deutlich darauf hin, daß es ein Vertreter der anderen Welt ist. Sein spezifisch menschliches (mehr noch, weibliches) Betragen jedoch, die realen Verletzungen, die ihm zugefügt werden, scheinen im Gegenteil zu beweisen, daß es sich schlicht um eine Frau handelt, und zwar um eine liebende Frau. Als Alvares Biondetta fragt, woher sie komme, antwortet sie: »Ich bin ursprünglich eine Sylphide, und zwar eine der ansehnlichsten« (p. 53). Aber gibt es denn Sylphiden? »Ich begriff nichts von dem, was ich hörte«, fährt Alvares fort. »Aber was war denn überhaupt Begreifliches in meinem Abenteuer? Es kommt mir alles wie ein Traum vor, sprach ich zu mir, jedoch was ist das ganze menschliche Leben anderes als ein Traum? Ich träume nur ungewöhnlicher als ein anderer, das ist alles. Wo ist das Mögliche, wo das Unmögliche?« (p. 55).

So ist Alvares unschlüssig, fragt sich (und der Leser mit ihm), ob das wahr sei, was ihm geschieht, ob, was ihn umgibt, tatsächlich Realität sei (die Sylphiden also wirklich existieren) oder ob es sich einfach um eine Sinnestäuschung handelt, die hier die Gestalt eines Traumes annimmt. Alvares geht später so weit, mit eben dieser Frau zu schlafen, die vielleicht der Teufel ist, und fragt sich, durch diese Vorstellung erschreckt, von neuem: »Habe ich geschlafen? Sollte ich so glücklich sein, daß alles nur ein Traum gewesen ist?« (p. 96). Seine Mutter wird genauso darüber denken: »du hast die Meierei und ihre Bewohner sicherlich nur erträumt« (p. 101). Die Ambiguität bleibt bis zum Ende des Abenteuers gewahrt: Wirklichkeit oder Traum? Wahrheit oder Illusion?

Wir sehen uns ins Zentrum des Fantastischen geführt. In einer Welt, die durchaus die unsere ist, die, die wir kennen, eine Welt ohne Teufel, Sylphiden oder Vampire, geschieht ein Ereignis, das sich aus den Gesetzen eben dieser vertrauten Welt nicht erklären läßt. Der, der das Ereignis wahrnimmt, muß sich für eine der zwei möglichen Lösungen entscheiden: entweder handelt es sich um eine Sinnestäuschung, ein Produkt der Einbildungskraft, und die Gesetze der Welt bleiben, was sie sind, oder das Ereignis hat wirklich stattgefunden, ist integrierender Bestandteil der Realität. Dann aber wird diese Realität von Gesetzen beherrscht, die uns unbekannt sind. Entweder der Teufel ist eine Täuschung, ein imaginäres Wesen, oder aber er existiert wirklich, genau wie die anderen Lebewesen – nur daß man ihm selten begegnet.

Das Fantastische liegt im Moment dieser Ungewißheit; sobald man sich für die eine oder die andere Antwort entscheidet, verläßt man das Fantastische und tritt in ein benachbartes Genre ein, in das des Unheimlichen oder das des Wunderbaren. Das Fantastische ist die Unschlüssigkeit, die ein Mensch empfindet, der nur die natürlichen Gesetze kennt und sich einem Ereignis gegenübersieht, das den Anschein des Übernatürlichen hat.

Der Begriff des Fantastischen definiert sich also aus seinem Verhältnis zu den Begriffen des Realen und des Imaginären, und diese beiden letzteren verdienen mehr als eine schlichte Erwähnung. Wir wollen sie jedoch erst im letzten Kapitel der Untersuchung diskutieren.

Ist eine solche Definition wenigstens originell? Man kann sie, wenn auch anders formuliert, seit dem 19. Jahrhundert finden.

Zuerst bei dem russischen Philosophen und Mystiker Wladimir Solowjow: »Beim wirklichen Fantastischen bleibt die äußerliche und formale Möglichkeit einer einfachen Erklärung der Erscheinungen stets gewahrt; zur gleichen Zeit ist diese Erklärung jedoch bar jeder inneren Wahrscheinlichkeit« (zit. n. Tomaschewski, p. 288). Es gibt eine unheimliche Erscheinung, die man auf zweierlei Weise erklären kann, nämlich entweder aus natürlichen Ursachen oder aber aus übernatürlichen. Die Möglichkeit der Unschlüssigkeit angesichts dieser Alternative schafft die Wirkung des Fantastischen.

Einige Jahre später gebraucht der englische Autor Montagu Rhodes James, Spezialist für Gespenstergeschichten, fast dieselben Wendungen: »Es ist manchmal notwendig, daß die Ausgangstür zu einer natürlichen Erklärung offen bleibt, aber ich muß wohl hinzufügen, daß diese Tür so eng sein muß, daß man von ihr keinen Gebrauch machen kann« (p. VI). Wieder wird also auf zwei mögliche Lösungen hingewiesen.

Jetzt noch ein deutsches Beispiel jüngeren Datums: »Der Held spürt ständig und sehr klar den Widerspruch zwischen den beiden Welten, zwischen Wirklichkeit und Phantasie, und er selbst ist erstaunt über das Außergewöhnliche, das ihn umgibt« (Olga Reimann, p. 73). Man könnte diese Liste beliebig verlängern. Immerhin können wir zwischen den ersten beiden und der dritten Definition einen Unterschied feststellen: bei den ersteren liegt es beim Leser, sich beiden Möglichkeiten gegenüber unschlüssig zu verhalten, die letztere verlegt die Unschlüssigkeit in die handelnde Person. Wir werden darauf bald zurückkommen.

Es muß noch hinzugefügt werden, daß die Definitionen des Fantastischen, die man in neueren französischen Arbeiten findet, unserer eigenen, wo sie nicht mit ihr identisch sind, zumindest nicht widersprechen. Ohne uns damit allzu lange aufzuhalten, wollen wir einige Beispiele aus den »anerkannten« Arbeiten anführen. Castex schreibt in seiner Anthologie du conte fantastique français: »Das Fantastische ... ist gekennzeichnet durch das brutale Eindringen des Mysteriums in den Bereich des wirklichen Lebens« (p. 8); Louis Vax in L’Art et la Littérature fantastiques: »Die fantastische Erzählung ... zeigt uns gern, wie Menschen wie wir, die in derselben wirklichen Welt leben, in der wir uns befinden, plötzlich mit dem Unerklärlichen konfrontiert werden« (p. 5). Roger Caillois schreibt in Au cœur du fantastique: »Das Fantastische ist stets ein Bruch mit der geltenden Ordnung, Einbruch des Unzulässigen in die unveränderliche Gesetzmäßigkeit des Alltäglichen« (p. 161). Man sieht, diese drei Definitionen sind, ob nun beabsichtigt oder nicht, eine die Paraphrase des anderen: jedesmal gibt es ein »Mysterium«, »ein Unerklärliches«, ein »Unzulässiges«, das sich in das »wirkliche Leben« oder die »wirkliche Welt« oder aber in die »unveränderliche Gesetzmäßigkeit des Alltäglichen« eindrängt.

Diese Definitionen sind vollständig in derjenigen enthalten, die die zuerst zitierten Autoren vorgeschlagen hatten und die bereits die Existenz zweier unterschiedlicher Arten von Ereignis umfaßte, die der natürlichen und die der übernatürlichen Welt. Die Definition von Solowjow, James etc. wies jedoch darüber hinaus auf die Möglichkeit hin, zweierlei Erklärungen für das übernatürliche Ereignis zu finden, und, als logische Folgerung, auf die Tatsache, daß jemand zwischen ihnen zu wählen habe. Sie war also suggestiver und reichhaltiger. Die, die wir selbst gegeben haben, leitet sich von ihr ab. Sie legt überdies die Betonung auf den Grenzcharakter des Fantastischen (als Trennungslinie zwischen dem Unheimlichen und dem Wunderbaren), statt daraus eine Substanz zu machen (wie Castex, Caillois etc. es tun). Allgemeiner ausgedrückt, müßte es heißen, daß ein Genre sich stets aus seinem Verhältnis zu den ihm benachbarten Genres definiert.

Es fehlt der Definition aber noch an Schärfe, und in diesem Punkt müssen wir weiterkommen als unsere Vorgänger. Wir haben bereits bemerkt, daß nicht klar gesagt worden ist, ob nun der Leser oder die handelnde Person unschlüssig sein solle, und ebensowenig, wie diese Unschlüssigkeit nuanciert sei. Le Diable amoureux bietet zu wenig Material für eine weiterreichende Analyse: die Unschlüssigkeit, der Zweifel gewinnen dort nur für einen Augenblick die Oberhand. Wir werden daher ein anderes Buch heranziehen, das etwa zwanzig Jahre später geschrieben worden ist und uns gestatten wird, weitere Fragen zu stellen. Es ist das Buch, das auf meisterliche Weise die Epoche der fantastischen Erzählung einleitet: Jan Potockis Die Handschrift von Saragossa.

Zunächst wird über eine Reihe von Ereignissen berichtet, von denen keines für sich genommen den Naturgesetzen widerspricht, wie wir sie aus Erfahrung kennen. Aber bereits ihr gehäuftes Auftreten erscheint...

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