2 Der Mensch in seiner Lebenswelt
Eva Kaul, Béatrice Schwager
Das Leben des Menschen vollzieht sich im Kontext seiner Lebenswelt. Die Lebenswelt umgibt uns ebenso selbstverständlich wie die Luft, die wir atmen. Und ebenso wie die Atemluft ist sie nicht nur um uns, sondern auch in uns. Sie durchdringt uns, und wir sind Teil von ihr. Werte, Gewohnheiten und Normen der soziokulturellen Lebenswelt ermöglichen erst, dem Erleben Bedeutung und Sinn zuzuschreiben und es einzuordnen. Um den Menschen zu verstehen, dürfen wir uns daher nicht auf das Erforschen seiner inneren Dynamik beschränken, sondern müssen auch seine Lebenswelt berücksichtigen.
Lebenswelt kann unterschiedlich kategorisiert werden. Basierend auf Habermas (1981) unterscheiden wir materielle Grundlagen, gesellschaftliche und kulturelle Komponenten der Lebenswelt (Abbildung 2-1). Die materiellen Grundlagen umfassen belebte und unbelebte Natur sowie die vom Menschen gestaltete Umwelt. Der Mensch ist unmittelbar von den materiellen Grundlagen der Lebenswelt abhängig, und das Überleben der uns nachfolgenden Generationen ist nicht ohne weiteres gewährleistet. Die Funktionalisierung des Menschen zur Leistungssteigerung und die oft krankheitsfördernde Ausbeutung personaler Ressourcen findet ihr Spiegelbild in unserem Umgang mit dem Ökosystem Erde. Dort wird die Ausbeutung kollektiver Ressourcen in einem Mass vorangetrieben, welches die Lebensgrundlage aller Menschen gefährden kann. Die Zunahme sogenannt umweltbedingter Erkrankungen zeigt deutlich, wie wir auf das Ökosystem Erde einwirken und dieses wiederum auf uns.
Abbildung 2-1: Der Mensch ist mit seinem Erleben eingebettet und in Wechselwirkung mit der Lebenswelt. Diese erstreckt sich über Zeit und Raum.
Die gesellschaftliche Lebenswelt beinhaltet soziale Beziehungen und die Einbindung des Einzelnen in ökonomische, politische und wirtschaftliche Strukturen. Die soziale Mitwelt kann für die Entwicklung der Persönlichkeit und die Befriedigung ihrer Bedürfnisse förderlich oder hinderlich sein. Der ökonomische Status spielt eine wichtige Rolle für Lebenszufriedenheit und Gesundheit. Studien weisen einen Zusammenhang zwischen sozioökonomischer Herkunft, Bildung, Beruf und Einkommen und Krankheitsanfälligkeit im Erwachsenenalter nach (Meyer, 2008; Cohen u.a., 2013). Politische Strukturen und wirtschaftliche Systeme können mit ihren impliziten Werten den Menschen herausfordern. So erwartet beispielsweise das kapitalistische Wirtschaftssystem vom Menschen eine Flexibilität, welche dessen Bedürfnis nach Verbindlichkeit, Sicherheit und Konstanz von Strukturen zuwiderläuft (Sennett, 1998). Ein solches System greift auch in die soziale Lebenswelt ein, indem die Existenzsicherung eine hohe zeitliche Verfügbarkeit oder häufige Wohnortswechsel verlangt, was den Raum für die Pflege sozialer Beziehungen beeinträchtigt. Globale Entwicklungen wie die zunehmende Digitalisierung (Han, 2013a) und Beschleunigung (Rosa, 2013) drohen viele Menschen zu überfordern und begünstigen Erkrankungen.
Die kulturelle Lebenswelt beinhaltet spezifische Formen der Übereinkunft und Deutungsmuster in einer Gesellschaft. Erll und Gymnich (2013) beschreiben als kulturelle Merkmale Zeit- und Raumerleben, Art der Wahrnehmung und Verarbeitung derselben, Denken, Sprache, nonverbale Kommunikation, Werte und Verhaltenskodizes. Auch religiös-spirituelle Werte und Verhaltensweisen werden der kulturellen Lebenswelt zugeordnet. Sind wir uns der Bedingtheit menschlichen Erlebens und seiner Abhängigkeit von der kulturellen Lebenswelt bewusst, so hat das Auswirkungen auf unser Verständnis und den Einsatz psychotherapeutischer Instrumente. Unsere therapeutischen Methoden wurden im europäischen und amerikanischen Kulturkreis für Menschen mit ebensolcher soziokultureller Prägung entwickelt. Doch Globalisierung, Kriege, Katastrophen und Wohlstandsunterschiede haben gewaltige Migrationsströme verursacht, so dass wir in unserer Praxis zunehmend mit Menschen aus anderen Kulturen konfrontiert sind. In der Behandlung dieser Menschen stossen wir schnell an Grenzen, weil die gemeinsame lebensweltliche Basis fehlt. Denken, Wertvorstellungen, Verhalten, Menschenbild, Krankheits- und Therapieverständnis dieser Klienten sind uns oft fremd und weichen beträchtlich von dem ab, was uns geprägt hat. Hier sind wir gefordert, zusätzliches Wissen und Kompetenzen zu entwickeln.
Gesellschaftliche, kulturelle und materielle Lebenswelt wirken vom Zeitpunkt unserer Zeugung an prägend auf die Persönlichkeit ein. Umgekehrt ist die je eigene Lebenswelt wiederum vom Individuum beeinflussbar. Schon Säuglinge versuchen mit ihrem Verhalten eine Wirkung bei ihrer Bezugsperson zu erzielen. Die Persönlichkeit und ihre Lebenswelt sind in dauernder Interaktion, formen und prägen sich gegenseitig. Für diese Interaktionen gelten Gesetze, welche Maturana und Varela allgemein für Lebewesen formuliert haben (1984): Einflüsse der Lebenswelt lösen im Lebewesen eine Wirkung aus, aber sie bestimmen diese nicht. Es ist vielmehr die Struktur des Lebewesens, die determiniert, mit welcher Veränderung es auf äusseren Einfluss reagiert. Eine Interaktion kann eine Strukturveränderung nicht determinieren, weil diese Veränderung vom vorausgehenden Zustand des Lebewesens abhängig ist. Man spricht von struktur-determinierter Veränderung. Die Veränderung führt zu einer strukturellen Verträglichkeit des Organismus mit seinem Umfeld, also einer Anpassung, welche das Fortbestehen des Organismus sichern soll. Die gegenseitige Beeinflussung und Auslösung von Zustandsveränderungen von Individuum und Lebenswelt wird als strukturelle Koppelung bezeichnet.
Auf die Entwicklung der Persönlichkeit lassen sich obige Gesetzmässigkeiten folgendermassen übertragen: Jeder Mensch erlebt sich in Interaktion mit seiner Lebenswelt. Sein Erleben organisiert er in Erfahrungen, welche zu strukturellen Veränderungen führen und so die Entwicklung der Persönlichkeit beeinflussen. Die Art der Veränderung wird bestimmt vom Zustand und der Struktur des erlebenden Individuums, weniger vom Erlebnis selbst. Aus der beobachtenden Perspektive des Therapeuten mögen sich zwar kausale Verknüpfungen äusserer Einflüsse und Persönlichkeit des Klienten aufdrängen. Dessen Symptome und Verhaltensweisen erscheinen uns vor dem Hintergrund seiner Lebensgeschichte sinnvoll und nachvollziehbar. Daraus auf einen deterministisch kausalen Zusammenhang zu schliessen, ist aber irreführend. Wenn dem so wäre, dann müssten wir umgekehrt aufgrund eines äusseren Einflusses die Entwicklung der Persönlichkeit schlüssig voraussagen können, was nicht der Fall ist. Wir wissen beispielsweise, dass der Bindungsstil von Mutter und Kind zu 75% übereinstimmt (Brisch, 2014). Daraus eine Voraussage des Bindungsstils für den einzelnen Menschen herzuleiten, ist trotzdem unmöglich.
Dass die Entwicklung der Persönlichkeit struktur-determiniert ist, drückt sich auch in den Forschungsergebnissen zu Resilienz und Vulnerabilität aus. Werner & Smich (2001) erforschte in einer Langzeitstudie (1955–1999) den Einfluss verschiedener biologischer und psychosozialer Risikofaktoren auf die Entwicklung von knapp 700 Kindern. Ein Drittel dieser Kinder hatte durch Geburtskomplikationen, chronische Armut oder elterliche Psychopathologie ein hohes Entwicklungsrisiko. Von diesen entwickelte sich wiederum ein Drittel zu gesunden, leistungsfähigen und mitfühlenden Erwachsenen. In dieser Gruppe fand sich die niedrigste Rate an Todesfällen, chronischen Krankheiten und Scheidungen. Alle hatten Arbeit und keiner war mit dem Gesetz in Konflikt gekommen. Sie verfügten offenbar über eine grosse Resilienz (Widerstandskraft), also Toleranz gegenüber Störungen und geringe Vulnerabilität (Verletzlichkeit). Zu einer hohen Resilienz tragen innere (Eigenschaften, Verhaltensweisen, Wertvorstellungen, Glaubenssätze, Haltungen der Persönlichkeit) und äussere Schutzfaktoren (stabile Bindung, positive Rollenmodelle, Freundschaften, Schulbildung) bei.
Neben dieser Einbettung in die aktuelle Lebenswelt sind wir auch in der historischen Perspektive verortet. Jede Erfahrung in der Gegenwart findet vor dem Hintergrund unserer Vergangenheit statt. Die individuelle Lebensgeschichte einer Person, diejenige ihrer Eltern und Grosseltern, besonders frühe Beziehungserfahrungen und transgenerational übertragene somatische, emotionale, kognitive und Verhaltensmuster tragen wesentlich zur Ausbildung der individuellen Persönlichkeit bei. Die Vergangenheit ist wie eine Brille, welche unsere Wahrnehmung und Interpretation der Gegenwart ebenso wie unsere Vorstellungen und Möglichkeiten für die Zukunft grundlegend beeinflusst. Erleben, seine Deutung und Einordnung sind somit subjektiv. Objektive, allgemeingültige Realität gibt es nicht, denn Realität ist ein Konzept, ein subjektgebundenes Konstrukt. Sie ergibt sich aus dem Erkennen des Beobachters, der unterscheidet, gewichtet, interpretiert und in einem kreativen Prozess seine individuelle Welt erschafft. Diese Welt ist eine von vielen möglichen Welten. Varela nennt den Prozess, durch Erkennen eine Welt hervorzubringen, «Ontieren» – Dasein schaffen (Maturana & Varela, 1984).
Lebenswelt ist also in zweifacher Weise mit unserem Erleben verknüpft. Sie bildet einerseits im Hier und Jetzt Teil des Inhalts unseres Erlebens und beeinflusst andererseits aus der Vergangenheit als individuelle Lebensgeschichte unsere Wahrnehmung und Interpretation des Erlebten.
2.1 Das Integrationsmodell menschlichen Erlebens
Eva Kaul
Eingebettet in Lebenswelt und Zeit machen wir unsere Erfahrungen. Es ergibt sich eine zirkuläre Beziehung von...