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E-Book

Einführung in die Praxis der Feldtheorie

AutorKlaus Antons, Monika Stützle-Hebel
VerlagCarl-Auer Verlag
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl126 Seiten
ISBN9783849781026
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Die Feldtheorie gilt als Vorläufer der heutigen Systemtheorie, sie wirft allerdings einen etwas anderen Blick auf Systeme. Mit der Wiederentdeckung ihres Begründers Kurt Lewin gewinnt sie neue Aktualität. Nur wo sich die Wahrnehmung ändert, kann sich auch Verhalten ändern. Getreu dieser feldtheoretischen Maxime lenken Monika Stützle-Hebel und Klaus Antons den Blick auf entsprechende Zusammenhänge und Prozesse in sozialen Systemen. Mithilfe der Feldtheorie erläutern sie Prinzipien der Dynamik sowie das Zusammen- und Gegeneinander-Wirken von Feldkräften in Individuen, Gruppen, Teams und Organisationen. Die Schlichtheit von Lewins Veränderungsmodell bildet dabei die Leitlinie für Entwicklungsansätze und fordert zugleich die eigene Kreativität heraus. Die Autoren lösen mit dieser Einführung den viel zitierten Ausspruch Kurt Lewins ein, wonach es nichts Praktischeres gebe als eine gute Theorie: Als Leser verfolgt man in 12 Kapiteln einen Tag im Leben des Protagonisten Kurt, setzt die feldtheoretische Brille auf und entdeckt für Alltagsprobleme verblüffende Perspektiven.

Klaus Antons, Dr. phil. habil., Dipl.-Psych.; ist nach akademischer Tätigkeit und Leitung einer Bildungseinrichtung seit 1982 freiberuflicher Trainer für Gruppendynamik (DGGO). Außerdem ist er in Supervision (DGSv), Coaching, Persönlichkeitsentwicklung, Organisations- und Konfliktberatung sowie Psychotherapie tätig. Er ist Autor verschiedener Werke, vorwiegend zur Gruppendynamik.

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Leseprobe

3 Die Quasselstrippe8 fällt ein


Ambivalenz – Aus-dem-Felde-Gehen – Konflikt – Konfliktarten – Konfliktfolgen – Konfliktstärke

»Konfliktstoff ist von zeitlosem Design und in jeder Menge und Qualität verfügbar.«

Siegfried Wache (*1951, technischer Zeichner, Luftfahrzeugtechniker und Buchautor)

Aus dem Strom der Passanten löst sich eine Gruppe von fünf jungen Leuten und nimmt laut schwatzend an dem gerade frei gewordenen Nachbartisch Platz. Sie diskutieren über einen Vorfall in der neu errichteten Flüchtlingsunterkunft: Die Feuerwehr hat kürzlich angeordnet, dass sämtliche Teppiche aus den Räumen in der Unterkunft entfernt werden müssen. Dabei haben die ehrenamtlichen Helfer gerade erst kürzlich mit viel Mühe diese Teppiche organisiert, um die Räume für die Bewohner etwas gemütlicher zu machen. Die Intensität der Diskussion lässt ihn hinhorchen. Die Gesprächsfetzen, die Kurt nun aufschnappt, wecken sein Interesse, weil er ebenfalls in der Flüchtlingshilfe engagiert ist. Damit ist es aus mit der Entspannung.

Kurzfristig sieht nach Marias Entschwinden Kurts Lebensraum fast wieder so aus wie am Anfang, als er im Café saß. Mit der lauten Gruppe am Nachbartisch ändert sich der Lebensraum abermals, wobei eine Ambivalenz hervorgerufen wird: Einerseits möchte er weiterhin seine Ruhe haben und fühlt sich durch die Lautstärke gestört, andererseits interessiert ihn der Inhalt des Gespräches, weil es ein Engagement von ihm berührt. Kurt steckt also unversehens in einem Appetenz-Appetenz-Konflikt: Das geweckte Interesse stellt eine positive Valenz dar, sein Wunsch nach Ruhe hat zwar ebenfalls Anziehungskraft, sie ist aber durch die Lautstärke der Gruppe behindert; die Lautstärke stellt eine Barriere für seinen Entspannungswunsch dar.

Abb. 6: Die Lautstärke der Quasselstrippe stellt eine Barriere für Kurts Ruhebedürfnis dar

Es hat keinen Sinn, sich um Entspannung zu bemühen. Ebenso wie die klassische Aufforderung zur Spontaneität eine Paradoxie (Watzlawick, Beavin u. Jackson 1969) darstellt, steckt auch in einem »Bemühen um Entspannung« eine paradoxe Dynamik, die jeder kennt, der schon einmal verzweifelt Schäfchen gezählt hat, um einzuschlafen.

Konfliktarten und Ambivalenz


»Ein Konflikt, das sei hier kurz angemerkt, ist psychologisch zu charakterisieren als eine Situation, in der gleichzeitig entgegengesetzt gerichtete aber annähernd gleich starke Kräfte auf das Individuum einwirken« (Lewin 1931a, S. 120).

Die Feldtheorie unterscheidet drei Grundarten von Konflikten innerhalb der Person: den Appetenz-Appetenz-Konflikt und den Aversions-Aversions-Konflikt, bei welchen verschiedene Lebensraumregionen annähernd gleiche Valenzen haben, und den Ambivalenzkonflikt, bei dem die gleiche Ziel- bzw. Lebensraumregion attraktiv und aversiv zugleich ist.

Wenn wir, wie der Esel des Buridan9, zwischen zwei gleich großen und gleich weit entfernten Heuhaufen stehen und nicht wissen, welchen wir zuerst fressen sollen, dann haben beide Ziele/Heuhaufen eine positive Valenz, und der Konflikt ist ein Appetenz-Appetenz-Konflikt.

Abb. 7: Der Esel des Buridan (Bildmontage von Klaus Antons)

Es kann aber auch so sein, dass unterschiedlich Bewertetes auf der gleichen Seite steht: noch ein Stück Kuchen bestellen oder nicht? Da stehen Genuss und Bedürfnisbefriedigung den unerwünschten Rettungsringen entgegen. Appetit wie Appetenz (lat. appetere: »sich nähern, nach etwas greifen«) stehen dem Aversiven (lat. avertere: »sich wegwenden, verschmähen«) gegenüber.

Der dritte Konflikttyp ist die Wahl zwischen Scylla oder Charybdis, Pech oder Schwefel – ein Aversions-Aversions-Konflikt – und führt zu starken Ausweichtendenzen: dem Aus-dem-Felde-Gehen. Ein Beispiel dafür ist in Kap. 9 dargestellt.

Die drei Konfliktarten kommen häufig in Kombination vor, was wir als »Konfliktmelange« bezeichnen (siehe Kap. 6).

Konflikt als Normalfall


Die häufige Frage, warum Entwicklung nicht ohne Konflikte möglich ist, lässt sich aus der lewinischen Perspektive so betrachten: Genau genommen, geht schon individuelles Verhalten nicht ohne Konflikt. Zu jedem Zeitpunkt sind im Lebensraum widerstreitende Kräfte am Werk, die die Person hierhin und dorthin ziehen, zugleich anziehen und abstoßen. Und diese verschiedenen Valenzen erzeugen die Konflikte – in der Person.

Konflikte, bei denen die Feldkräfte schwach sind, setzen die Person weniger unter Spannung als Konflikte von starken Feldkräften (vgl. Lewin 1946d, S. 411). Bei einem Ambivalenzkonflikt (Appetenz als auch Aversion gegenüber der gleichen Sache oder Lebensraumregion) können die Konfliktstärke und die damit verbundene affektive Spannung sehr hoch sein, obwohl die Valenz der Sache oder Region gegen null geht. Deshalb sind Ambivalenzkonflikte ihrerseits zumeist aversiv (vgl. auch Soff u. Stützle-Hebel 2015, S. 79 ff.).

Konfliktfolgen: Lähmung, Flucht oder Kreativität


In einer Ambivalenz zu stecken kann zu verschiedenem Verhalten führen: Manchmal lähmt die Situation, führt zu einer Blockade, raubt die Energie und führt zur Handlungsunfähigkeit. Mit der Folge, dass das Gefühl der Selbstwirksamkeit leidet und der Selbstwert sinkt.

Die andere Konfliktfolge, die man normalerweise als Flucht bezeichnen würde, heißt in der Feldtheorie Aus-dem-Felde-Gehen. Das kann in verschiedenster Form geschehen: tatsächlich den Spannungsraum zeitweise oder dauerhaft körperlich verlassen und fortzulaufen, Ersatzhandlungen vornehmen, in die innere Emigration gehen, einschlafen … (vgl. Lewin 1931a, S. 122 ff.).

Der Konflikt kann aber auch die Kreativität anstoßen, wie es auf einem hübschen Bild unbekannten Ursprungs gezeigt wird. Hier ist es nicht der eine Esel, sondern sind es zwei – die zwei Teile des »inneren Teams« –, die einen Ausweg finden. Wenn eine »Nacheinanderlösung« nicht möglich ist, kann für die einander entgegenstehenden Bedürfnisse nach alternativen Möglichkeiten der Befriedigung gesucht werden (siehe die folgende Fallvignette).

Abb. 8: Lösung eines Appetenz-Appetenz-Konflikts (Quelle unbekannt)

Aus der Beratungspraxis: Ambivalenz lösen – Entscheidungen treffen

Eine komplexe (doppelte) Appetenz-Aversions-Situation hat vielleicht jeder schon in vergleichbarer Weise erlebt: Welche Problemlage entsteht, wenn man in einer Festanstellung ist und ein interessantes Jobangebot bekommt?

Da hat Frau A., eine eher ängstliche und selbstunsichere Frau, sich nun schon lange gewünscht, einen Job zu haben, bei dem sie keinen Schichtdienst und keine langen Anfahrtswege mehr hat, was ihrer Gesundheit sehr zugesetzt hatte. Nun fand sich in Nähe ihres Wohnortes ein solcher, doch nach einer kurzen Freude über diese Chance steckte sie fest und wusste nicht mehr vor noch zurück. Kaum nahm sie ein Argument für den Stellenwechsel in Augenschein, meldete sich ein »Aber«, und genauso kam sofort ein »Aber«, wenn sie dachte, es spreche doch alles für das Bleiben in der alten Stelle.

Schritt 1: Ergründen der Alternativen und ihrer Valenzen

In einer solchen Lage würde Lewin zunächst die tiefer liegenden Kräfte und ihre Konstellation ergründen: Wovon wird die Person angezogen, was stößt sie ab, und wie hängt das mit den genannten Alternativen zusammen?

In dieser Entscheidungsqual wandte Frau A. sich an die Autorin. Ich war weit weg, aber sie musste sich binnen zweier Tage entschieden haben. So bat ich sie, für jede der beiden Alternativen (im alten Job bleiben – den neuen Job anfangen) getrennt voneinander die Pluspunkte und die Minuspunkte aufzuschreiben.

Was sie im alten Job hielt:

Was sie zum neuen Job hinzog:

• nette Kollegen/Kolleginnen

• bekannte Tätigkeit

• verständnisvolle Chefin

• interessante Arbeit

• vielseitige Arbeit (mit Kindern und Eltern)

• vergleichsweise gutes Gehalt

• …

• 5 Minuten mit Rad zur Arbeit

•...

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