Der Begriff Behinderung ist innerhalb des deutschen Rechts erst seit Verkündung des Körperbehindertengesetzes am 27.02.1957 in Gebrauch.[27] Das Gesetz löste einige aus heutiger Sicht unvertretbar lautende Bestimmungen wie das „Preußische Gesetz zur öffentlichen Krüppelfürsorge“ aus dem Jahr 1920 ab.[28] Während es in der Vergangenheit nur sehr wenige Zweige mit dem Bezug zu Behinderungen gab, sind heute viele wissenschaftliche Disziplinen in diesem Bereich präsent (Medizin, Psychologie, Pädagogik, Soziologie), die sich mit dem Begriff der Behinderung auseinandersetzen und diesen in den letzten Jahrzehnten weiterentwickelt haben. Nicht nur aus diesem Grund ist der Begriff der Behinderung heutzutage als sehr komplex zu verstehen. Zu einer Vereinheitlichung im internationalen Sprachgebrauch und fachlichem Verständnis kommt es durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO).[29]
Die WHO, ein Zusammenschluss im Rahmen der Vereinten Nationen, zuständig für die öffentliche Gesundheit, beschloss im Jahr 1980 mit der ICIDH (International Classification of Impairments, Disabilities an Handicaps) einen theoretischen Bezugsrahmen, womit eine systematische Klassifikation für einzelne Behinderungen vorgenommen werden konnte. Konzeptionell wurde der Begriff der Behinderung in der ICIDH nunmehr als Krankheitsfolge verstanden. Was bedeutet, dass aus einer bestehenden Schädigung eine Störung der Fähigkeiten resultiert, die eine Beeinträchtigung der Teilhabe am sozialen Leben zur Folge hat. Auf diesen Erkenntnissen aufbauend wurde im Mai 2001 die ICF beschlossen, in welcher der Begriff der Behinderung erstmals als negative Wechselwirkung zwischen einem Menschen mit einem gesundheitlichen Problem und seinen Umweltfaktoren in Bezug auf die Funktionsfähigkeit und insbesondere der gesellschaftlichen Teilhabe beschrieben wird.[30] Dank dieses sogenannten bio-psycho-sozialen Modells war die Definition von Behinderung in der ICF nicht mehr als reine Krankheitsfolge zu verstehen, sondern eher als Klassifikation von gesundheitlichen Komponenten, welche auch die Partizipation und die Teilhabe an der Gesellschaft umfasst. Für Kinder und Jugendliche wurde durch die WHO ein ICF-ergänzendes Werk geschaffen, das sich speziell den besonderen Lebenswelten und Entwicklungsphasen in Bezug auf die Funktionsfähigkeit und altersentsprechender Partizipation anpasst. Die ICF und die Ergänzung (ICF)-CY (Children and Youth, dt.: Kinder und Jugendliche) sind ausschlaggebend für eine Klassifizierung der Teilhabebeeinträchtigungen und somit für die Beschreibung bzw. Feststellung einer Behinderung.
Ein weiterer Teil der herausgegebenen Klassifikationen der WHO ist die ICD-10[31]. Diese ist relevant für die medizinische Disziplin zur Klassifizierung und Eingruppierung von Krankheitsbildern bzw. sogenannten Störungen (medizinische Diagnose). Diesem System kommt z.B. in der Beschreibung der geistigen Behinderung eine große Bedeutung zu, da die Grundlage zur Beurteilung einer geistigen Behinderung die Feststellung einer Intelligenzminderung nach ICD-10 sein kann (verschiedene Grade F.70-F.79). Aber auch für die Beschreibung von anderen vorliegenden Gesundheitsstörungen wie eine Beeinträchtigung der körperlichen oder seelischen Funktion dient die ICD-10 als Eingruppierungssystem für die medizinische Disziplin.[32]
Eine Behinderung wird laut WHO also definiert über eine Einschränkung der körperlichen, geistigen oder seelischen Funktion und der damit in Verbindung stehenden Aktivitätsbeeinträchtigung und die resultierende Teilhabeeinschränkung an der Gesellschaft. Wohlbemerkt sind es aber auch die Umweltfaktoren und die wechselseitige Beeinflussung der vorgenannten Faktoren, die ausmachen, ob und wie behindert ein Mensch ist bzw. wird.[33]
Wie die vorangegangenen Darstellungen gezeigt haben, wurde das Verständnis von Behinderung stetig weiterentwickelt. Auf diese Entwicklungserkenntnis wird auch in Buchstabe e) in der Präambel der UN-BRK hingewiesen. Demnach ist der Begriff der Behinderung ständig im Prozess der Weiterentwicklung und immer unter Beachtung der Umweltfaktoren und der Teilhabeeinschränkungen zu betrachten. Nach Art. 1 S. 2 der UN-BRK zählen zu den Menschen mit Behinderungen „…Menschen, die langfristige, körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.“ Mit dem damit eingebundenen Psycho-Sozial-Modell der WHO macht die Konvention deutlich, dass Behinderung nicht allein durch die jeweilige Beeinträchtigung entsteht, sondern erst durch die Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren. Wie sehr sich die Beeinträchtigung auswirkt, hängt also entscheidend auch von gesellschaftlichen Bedingungen ab. Die Behinderung ist „…nach dem Verständnis der UN-BRK ein soziales Phänomen, dem durch den Abbau sozialer Barrieren begegnet werden muss.“[34]
Eine genaue bzw. abschließende Definition des Behinderungsbegriffes wird in der UN-BRK nicht explizit ausgewiesen. Lediglich der Personenkreis wird durch Art. 1 S. 2 eingeengt. Das Fehlen einer präzisen Definition in Verbindung mit Buchstabe e) der Präambel lässt erkennen, dass eine starre Struktur, die ggf. zu einem Ausschluss von Menschen mit Behinderungen führen kann, verhindert werden soll.[35] Hier hingegen definiert das SGB IX den Begriff der Behinderung präziser.
§ 2 Abs. 1 SGB IX enthält die Definition von Behinderung, die ähnlich der UN-BRK an den Behinderungsbegriff der WHO anknüpft und für das gesamte Sozialrecht gilt.[36] Danach sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinderungen bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist. Diese Definition findet im deutschen Behindertenrecht eine zentrale Anwendung. [37] Gleichlautend taucht sie auch in § 3 BGG und in den meisten der Behindertengleichstellungsgesetzen der Länder auf. Die Art der Behinderung wird durch den Gesetzgeber in 3 Kategorien eingeteilt – körperliche, geistige und seelische Behinderung. Aber nicht immer lassen sich körperliche, geistige und seelische Behinderungen strikt voneinander trennen, da sie sich überschneiden oder aber auch in Wechselwirkung miteinander auftreten können. Diese Differenzierung ist laut Welti traditionell übernommen worden.[38]
Um entscheiden zu können, ob eine Behinderung im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX vorliegt, muss also zunächst untersucht werden, ob eine körperliche Funktion, eine geistige Fähigkeit oder die seelische Gesundheit von einem auszugehenden Normalzustand abweicht (Störung). Die körperlichen Funktionsstörungen beziehen sich auf den organischen und orthopädischen Gesundheitszustand, wobei hier auch Sinneswahrnehmungen und Empfindungen mit einfließen. Körperliche Beeinträchtigungen, die sich nicht auf Körperfunktionen auswirken, gelten nicht als Störung. Die Kategorie der geistigen Funktionsstörung umfasst vordergründig die intellektuellen und kognitiven Fähigkeiten, nimmt aber auch Rücksicht auf das Bewusstsein und die mentalen Funktionen des Menschen. Beeinträchtigungen in psychisch-funktionalen Fähigkeiten, wie z. B. Persönlichkeit, Belastbarkeit und Emotionen, sowie auch psychische Erkrankungen nach ICD-10 sieht der Gesetzgeber in den seelischen Störungen.[39] Relevant wird die Differenzierung aber letztendlich erst mit der Abgrenzung der Zuständigkeit für die Eingliederungshilfe zwischen dem Sozialhilfeträger im Rahmen des SGB XII und dem Jugendhilfeträger im Rahmen des SGB VIII.[40]
Eingliederungshilfe nach dem Zwölften Sozialgesetzbuch kann laut § 53 Abs. 1 S. 1 SGB XII für Personen geleistet werden, die durch eine Behinderung im Sinne von § 2 Abs. 1 S. 1 SGB IX wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von solch einer wesentlichen Behinderung bedroht sind. In Anlehnung an die Definition von Behinderung der UN-BRK und somit auch an die ICF und den Bezug auf den Behinderungsbegriff des SGB IX liegt in diesem Rechtskreis eine Behinderung nur dann vor, wenn die festgestellte Funktionsstörung zu einer Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft führt.
Die Eingliederungshilfe im Rechtskreis des SGB XII unterliegt der Besonderheit, dass eine Behinderung wesentlich sein muss, was die Voraussetzungen zur Anerkennung einer Behinderung ggü. dem SGB VIII und SGB IX erhöht. Mit dem Erlass der Eingliederungshilfeverordnung durch das Bundesministerium für Jugend, Familie...