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E-Book

Einmal und nie wieder

Lebenserinnerungen

AutorTheodor Lessing
VerlagBooks on Demand
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl552 Seiten
ISBN9783839113806
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis0,99 EUR
Theodor Lessing (8.2.1872 - 31.8.1933) war ein deutsch-jüdischer Philosoph und politischer Publizist.

Theodor Lessing (8.2.1872 - 31.8.1933) war ein deutsch-jüdischer Philosoph und politischer Publizist.

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Leseprobe

Vorrede


Am Ende eines Lebens, das manche Länder gesehen, viel Menschliches durchdacht und viele Nöte, innere wie äußere, bestanden hat, am Ende eines tätigen Lebens, mit Narben bedeckt, wie kaum ein zweites, am Ende eines bewährten, erprobten Lebens also, darf ich schwerlich mehr erwarten, dass die Herausgabe von »Denkwürdigkeiten« am persönlichen Schicksal ihres Verfassers oder an den Vorurteilen der Mitwelt etwas ändern werde. Außer dass man vielleicht, mehr als schon zuvor, geneigt sein wird, einen unbequemen Zeitgenossen totzuschweigen und seine Schriften vorsichtiger zu tadeln, unverbindlicher zu loben, falls Lob und Tadel eben unvermeidlich würden.

Aber die Blätter dieses Buches sind nicht für Mitlebende und nicht in Hinblick auf die Gegenwart geschrieben worden. Sondern, wenn ich beim Schreiben je an Leser gedacht habe, so dachte ich an ferne Enkel und Urenkel oder an einen kleinen Kreis von Eingeweihten und Kennern. Wenig aber bekümmerte mich die sogenannte Weltgeschichte, dieser Totentanz der Machtwechselzufälle, dieser Ozean von Blut, Galle, Schweiß und Tränen und am wenigsten die unergründliche Dummheit der deutschen Zeitereignisse, von welchen ich so viele lehrreiche Proben miterlebt und vor Augen gehabt habe: Einen Bildersaal voll von Betrügern und Betrogenen, geltenden Strohpuppen, brüllenden Bullen, hohlen Nichtswissern. Überspannte unmenschliche Gesichter, die an mir, wie einst an den meinem Wege voranschreitenden Meistern, Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche, keine Vaterlandsschwärmer erzogen haben; haben wir uns doch zu oft schämen müssen, Deutsche zu sein.

Ich warf eine einsame Flaschenpost in das unermessliche Dunkel. Und selbst wenn sie nicht diejenigen Seelen erreicht haben sollte, für welche sie bestimmt gewesen ist, so darf ich wenigstens mit dem Spruche mich getrösten, den ich meiner Jugend der geliebteste Lehrer mir auf den Weg gab:

»Was du dir selber in dir selbst gewesen, 
Das hat kein Buch gesagt, kein Freund gelesen.«

Indes auch dann, wenn mein Glaube ein Wahn gewesen sein sollte, der Glaube, dass in hundert Jahren eine neue Jugend auf meinen Spuren wandern und meine Schriften suchen wird, ja wenn meine gesamte geistige Nachlassenschaft spurlos dahinschwinden sollte (»Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen« – »Untergang der Erde am Geist« – »Wertaxiomatik« – »Philosophie als Tat« – »Naturtrilogie«) – nun! so wird das hier vorliegende Buch zum mindesten fortdauern als eine einzigartige Geschichtsquelle für das Leben erfolgreicherer Zeitgenossen: für die Frühzeit von Stefan George, Max Scheler, Georg Simmel, vor allem aber für den Werdegang von Ludwig Klages, dessen Jugendgeschichte ich mitschreiben musste, wenn ich die meine schreiben wollte.

Wer je den Versuch gemacht hat, die wichtigsten Ereignisse seiner Tage zu Papier zu bringen, der muss mit Verwunderung entdecken, wie ungewiss, ja wie zweifelhaft alle Historik und Biographik ist, die nicht nur das Vergangene nach Lagen und Zuständen aus den Grüften hervorruft, sondern auch verwehte Worte neu tönen macht, ja sogar zu wissen scheint, ob zu jenen Worten von einst der Mond leuchtete oder die Sonne, ob die Amsel sang und welcher Wind die Rosenhecken durchwühlte; indes doch schon die einfache Selbstbeobachtung klar zeigt, dass wo immer wir erleiden und erleben, wir überhaupt nicht von Umwelt und Begleitumständen wissen, dass aber, indem wir beobachten und Wahrnehmungen feststellen, wir schon aus dem Element des Erlebens herausgetreten sind, weil ein Ergriffener nicht begreift und weil niemand zugleich sein kann die Harfe, darauf die Natur spielt und der Künstler, der die Harfe meistert. Ich habe diese Denkwürdigkeiten im Laufe von zwanzig Jahren (1912 bis 1932) dreimal vollständig neu geschrieben. Und habe dreimal sie vernichtet, immer in dem selben selbstquälerischen Zweifel, nicht unpersönlich, nicht redlich genug verfahren zu können. Sondern entweder übertreibend oder verschönernd oder zu verbittert oder zu eitel, zu feige, zu rachsüchtig, zu herzensträge, zu befangen ins Allzumenschliche. Ich habe immer wieder gezweifelt, ob ein Mensch je über sich selber klar und wahr, ja ob er auch nur wahrhaftig zu denken vermag. Denn die schönsten der uns bekannten Eigenlebensgeschichten, die des Plato, Xenophon, Augustinus, Dantes Vita Nuova, Goethes Wahrheit und Dichtung, Nietzsches Ecce Homo, Hebbels Tagebücher, Rousseaus Konfessionen, die Geständnisse August Strindbergs, Leo Trotzkis »Mein Leben« –, sind sie nicht allesamt Schöpfungen eines Mythos? Ja, wenn ich wirklich, wie es in der Gegenwart beliebt ist, schonungslos mich selber entblößen könnte, wäre das von Wert für mich oder für irgendwen? Ist es nicht wichtiger, Leben zu dichten als zu beichten?

Es war aber nicht nur die Scheu vor Selbstpreisgabe, was mich jahrelang schwanken ließ, ob ich recht daran täte, die allzu nahen Erinnerungen ganz oder teilweise fremden Blicken preiszugeben. Nein! Eine lästigere Zweifelsfrage war die folgende.

Hat der Schriftsteller das Recht, Herzen und Taten jener Personen zu entblößen, die seinem Leben schicksalsmäßig verbunden waren? Darf er in ein fremdes Bereich eingreifen, wo er unmöglich mehr gerecht sein kann?

Aber just dieses schmerzlichste aller Bedenken wurde entscheidend, ja wurde allein entscheidend für den Vorsatz, diese Blätter zu veröffentlichen. Schrecklicher nämlich konnte keine Vorstellung quälen, wie die folgende:

»Hier ist ein Schriftsteller, der nie einen Satz anonym veröffentlicht hat, keinen je, den er nicht Auge in Auge, Mensch zu Mensch voll zu vertreten den Wunsch und Willen hatte. Und nun nach seinem Tode erscheinen ›Erinnerungen‹ und erregen den Verdacht: dieser Mann will, nachdem er vom Schauplatz des Lebens abgetreten ist, doch noch Recht behalten, Schlappen schönfärben, Irrwege rechtfertigen, hat vor der Nachwelt sorgsam Staat gemacht, hat aus dem Grabe sich an denen gerächt, die ihn einst gequält oder verunrechtet haben.« – Nein! Ich will Gerichtstag halten über mich und ehrlich meine Überzeugung vertreten, so lange ich das noch kann. Will den natürlichen Rückschlag des Lebens leiden, so lange ich das noch muss.

Das erste Buch, welches der Zwanzigjährige 1892 in die Welt sandte, begann mit einigen kindlichen Versen, die ich an dieser Stelle noch einmal wiederholen will.

»Mein Deutschland, ob ich dich liebe, 
Die Worte sagen es nicht. 
Ersieh's an meinem Liede, 
Am glühenden Zorngedicht.

Ersieh's an meinen Witzen, 
Wahrhaftig, die Witze sind gut, 
Du lachst, du kannst es nicht ahnen: 
Ich schrieb mit Lebensblut.

Du bist mir Vater, Mutter, 
In dir nur wurzelt mein Sein, 
Wärs mir nicht so ernst, hochheilig, 
Es könnte so schmerzlich nicht sein.

Denn meines Hassens Pfeile 
Und meiner Liebe Schaft, 
Beflügelt ein einziger Glaube: 
Der Glaube an deine Kraft.

Bluternst ist in meiner Seele 
Die Flamme der Muse entbrannt. 
O mein Deutschland, heiliges Deutschland, 
Ich liebe dich, Heimatland.«

Viele Enttäuschung musste erlitten werden, ehe diese einfache Liebe erschüttert wurde und Platz machte dem mich heute ganz erfüllenden Ekel vor deutscher Geistigkeit und ihren Führern. Immer schwerer wurde die Last auf den Flügeln; immer seltener der freie Flug. Für die schönen Traumeinblendungen unserer Jugend tauschten wir ein graues Wissen um graue Wirklichkeit. Für das Traumgold der Phantasie die harten Groschen der Erfahrung. Das letzte Ergebnis aber blieb wie das erste: Alle Worte, Werte und Werke der Menschheit sind wie der Geist selber: Lebenswunde und -genesung in eins. Die Menschen, vor allen andern die Deutschen, hassen den Geist. Sie fühlen, dass er durchaus nur ist: Notausgang einer Hemmung oder Schwächung ihres Lebens. Eines aber wissen sie nicht: »Geist allein kann, wie Achilleus Lanze, die Wunde, die er verursacht, schließen und heilen.«

Im ersten Jahre des Krieges, 1914, diente ich als Arzt in einem Erholungsheim für Offiziere, welches die Bestimmung hatte, hochgeborene und hochgestellte Persönlichkeiten aufzunehmen, die an der Kriegsfront Torheiten begingen, Vorrechte missbrauchten, Untergebene quälten, aber infolge ihrer bevorzugten Stellung nicht unschädlich gemacht werden konnten. Man beurlaubte sie in diese Erholungsheime. Es waren Narrenhäuser.

In jedem Bett prahlte ein erlauchter Narr, verteilte Reiche, erlöste Volk, verbesserte Menschheit. Nichts hatten sie durchdacht und erblutet, und ihre »Weltanschauung« ließ sich glatt auf die Formel bringen: »Im Frieden großes Maul, im Kriege starke Faust«. Die ganze Welt schien solch ein Narrenhaus geworden zu sein. Dennoch klappte alles vorzüglich. Darum nämlich, weil die unüberbietbar fühllose Sachlichkeit des militärischen Mechanismus all unsern vaterländischen Helden und sogenannt starken Persönlichkeiten glücklicherweise das Denken abnahm. Unsre Tage regelten sich zwangsläufig. Man brauchte nur einen Hebel zu ziehen oder auf einen Knopf zu drücken.

Damals verfestigte sich in mir die folgende letzte Erkenntnis:

»Alles kommt darauf an, in einem Reich erhabener menschlicher Narrheiten solche Sicherungen zu schaffen, welche, der Willkür der Person entzogen, dafür sorgen, dass kein Mensch fürder an dem andern, keiner an sich selbst Schaden anrichtet.«

Längst ist die Gemeinschaft mit den Dämonen zersprengt. Längst meistern und martern einander tausend hochgesteigerte Willkürwillen. Längst ist die Gemeinschaft der Natur amortisiert. Längst martern und meistern einander zahllose selbstgerechte Individualmächte. Die Sicherheit im Unbewussten ist dahin. Wie kann man die Dauben schlagen, ehe das Fass auseinanderfällt?

Die Sphäre der...

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