Erwachsenen und Kindern ist gemeinsam, daß sie in ihrem Alltag immer wieder kleineren und größeren Belastungen ausgesetzt sind. Diese wirken sich oft in erhöhter Anspannung, innerer und äußerer Unruhe sowie in übersteigerter Empfindlichkeit gegen-über ihrem Umfeld aus. Kann es da verwundern, wenn heute viele Menschen mit Hilfe von Entspannungstechniken innere Ruhe sowie körperliches und seelisches Wohl-befinden zu erreichen suchen? Im folgenden Abschnitt soll geklärt werden, was sich hinter den Schlagwörtern „Streß“ und „Entspannung“ verbirgt sowie welche körperlichen und psychischen Prozesse bei Entspannungsreaktionen ablaufen.
Was ist Streß?
Meist verbinden wir mit dem Wort Streß die negativen Auswirkungen von Reizüber-flutungssituationen. In einer natürlichen Umgebung löst Streß in unserem Körper den „fight-or-flight-response“ (kämpfe oder fliehe) aus. Dieser vorübergehende Alarmzustand wird anschließend in langen Erholungsphasen abgebaut. SCHENK (vgl. 1986, 11) weist darauf hin, daß diese angeborene Reaktion auf Streß in der heutigen Zeit in den seltensten Fällen möglich ist. Andererseits ist aber ein gewisses Maß an Anspannung bzw. Streß, das je nach individueller Ausgangslage sehr unterschiedlich sein kann, für unser Wohl-befinden geradezu erforderlich. Die moderne Streßforschung unterscheidet zwei Streß-formen (vgl. SCHENK 1986, 11):
- der Eustreß, der zur Gesunderhaltung des Gesamtorganismus notwendig und gut ist;
- der Dysstreß, der unser Leib-Seele-Gleichgewicht auf Dauer stören und zu psycho-
somatischen Erkrankungen führen kann.
Je nach Verursachung unterscheidet man körperliche, seelische und soziale Streßreak-tionen, die miteinander in Verbindung stehen. Schon der Gedanke an eine Bedrohung (z.B. eine Prüfung) kann Streß auslösen. Es ist wichtig, daß jeder seine individuelle, optimale Balance zwischen Eu- und Dysstreß erkennt und nutzt. Schaffen wir es, die für uns negativen Reize zu erkennen, können wir auch unseren Umgang damit verändern. Dysstreß kann dann zwar nicht in seiner Entstehung verhindert werden, jedoch in seinen negativen Einflüssen durch rechtzeitiges „Abschalten“ gelindert werden. Eine erlernbare und gezielte Entspannung wäre damit ein Ausgleich für den täglich anfallenden Dysstreß.
Was ist Entspannung?
Der Begriff der Entspannung hat mehrere Bedeutungen: Zunächst bedeutet er das Auf-suchen von Situationen, in denen der Mensch ein Gegengewicht zu den Belastungen des Alltags findet. Schwimmen, Spazierengehen, Musikhören oder Lesen bezeichnet LANGE (vgl. 1992, 24) als naive Entspannungstechniken, die durch die persönliche Erfahrung legitimiert sind. Wissenschaftlich wird Entspannung durch die Veränderung psycho-physiologischer Größen beschrieben, die durch den Effekt der Generalisierung und der Ganzheitlichkeit von Körper und Seele auf das Gesamtbefinden des Menschen einwirken (vgl. LANGE 1992, 24). Bahnung und Stabilisierung einer Entspannungsreaktion erfolgt bei allen Entspannungsmethoden durch regelmäßiges Üben. Anzeichen für effektives Üben ist die konditionierte Entspannungsreaktion, d.h., daß der Übende in der Lage ist, diese Reaktion auf einen konditionierten Reiz hin (z.B. Körperhaltung, Objekt, Selbstin-struktion) in den verschiedensten Situationen hervorzurufen (vgl. VAITL 1993, 26). Entspannung ist ein mehrschichtiges Phänomen, d.h. es kann ein Prozeß (sich ent-spannen) oder ein Zustand (entspannt sein) gemeint sein.
Unter Anspannung verbraucht der Mensch vermehrt Energie und seine Leistungsfähig-keit ist eingeschränkt. Für alle Organsysteme ist aber ein optimales dynamische Gleich-gewicht zwischen An- und Entspannungsphasen lebenswichtig. Spannung und Entspan-nung spielen sich auf verschiedenen Ebenen ab: körperliche Reaktionen, Verhaltens-weisen, Emotionen und Kognitionen. Deshalb sind Entspannungsverfahren auch nur dann dauerhaft attraktiv, wenn sie sich außer mit körperlichen Reaktionen auch mit mentalen Übungen beschäftigen (vgl. VAITL 1993, 25f). Entspannung beginnt immer mit einer Sensitivierung für körperliche Vorgänge, die durch die fokussierte Aufmerksamkeit auf den Körper im Zustand vollkommener Passivität begünstigt wird. Danach folgt die De-somatisierung, bei der nicht mehr die physiologischen Prozesse im Vordergrund stehen, sondern die kognitiven Veränderungen. Nun kann es zum Erwerb von Fertigkeiten und Verhaltensweisen kommen, die einen neuen Umgang mit psychophysiologischen Störungsformen erlauben (vgl. VAITL 1993, 20).
Die unterschiedlichen Empfindungen bei einer Entspannnungsreaktion resultieren aus verschiedenen Faktoren, wie z.B. Vorerfahrungen, Lernfähigkeit, physiologische Aus-gangssituation und vegetative Komponenten. SCHENK (vgl. 1986, 13ff) betont, daß alle negativen Gefühle weitgehend inkompatibel seien mit den positiven, eine Entspanntheit kennzeichnenden Gefühlen. Wichtig bei Entspannungsprozessen seien die Formatio Reticularis[2] mit dem afferenten Aktivierungssystem sowie das limbische System[3]. Nach neueren Erkenntnissen bestehe während Entspannungsübungen meist ein Gleichgewicht zwischen dem sympathischen und dem parasympathischen Nervensystem. Im allgemei-nen ist das sympathische Nervensystem für den Energieverbrauch zuständig und steuert u.a. die Gefäßverengung, das Schwitzen, die erhöhte Herz- und Atemfrequenz, die Absonderung von Adrenalin und Noradrenalin sowie erhöhten Blutdruck und unterdrückt Verdauung. Das parasympathische System sorgt für den Erholungsprozeß und es kommt daher zu einem umgekehrten Ablauf (vgl. FRIEDRICH & FRIEBEL 1998, 15). Die Wir-kung der neurovegetativen Regulationssysteme hängt von der Anzahl, der Funktionstüch-tigkeit und Empfindlichkeit der Rezeptoren in den Effektor-Organen ab (vgl. VAITL 1993, 57).
Nach längerem Training haben Entspannungsverfahren folgende positive psychologische Effekte (vgl. VAITL 1993, 27):
- affektive Indifferenz, d.h. Affekte und Emotionen lassen sich kaum noch provozieren;
- mentale Frische; nach den Übungen stellt sich ein Gefühl des Ausgeruhtseins sowohl
in körperlicher als auch in geistiger Hinsicht ein; und
- Erhöhung der Wahrnehmungsschwelle; im Laufe der Übungen verlieren Außen-
reize immer mehr die Fähigkeit, eine Reaktion auszulösen.
LANGE (vgl. 1992, 3) beurteilt die physiologischen Veränderungen der Entspannung als wichtige, weil objektivierbare Aspekte. Die einzelnen Erscheinungen müssen allerdings als Bestandteil einer einzigen Reaktion betrachtet werden. Ihr Ziel ist nicht die isolierte Reaktion, sondern die Übertragung der Entspannungsreaktion auf den gesamten Orga-nismus. Die folgende Darstellung der physiologischen Seite von Entspannungsreaktionen orientiert sich überwiegend an den Ausführungen von LANGE (1992,24-27) und VAITL (1993, 27-54):
- Neuromuskuläre Veränderungen
Bei Entspannungsübungen wird die Skelettmuskulatur, die für die aufrechte Haltung und Bewegung verantwortlich ist, beeinflußt. Der Muskeltonus sinkt ebenso wie die Sensibilität der Muskelspindeln. Durch das Liegen wird erreicht, daß die afferenten Signale aus der Stützmotorik (vor allem der Bein- und Rumpfmuskulatur) reduziert werden, wodurch auch die efferenten Impulse aus den motorischen Regionen des Hirnstamms und damit die Spannung der Bein- und Rumpfmuskeln reduziert werden. Die Veränderungen im Tonus der Rumpfmuskulatur beeinflussen die anderen Muskeln.
Neuromuskuläre Entspannung läßt sich nur in einer konzertierten Aktion erreichen, d.h., daß stimulierende, sympathische Einflusse auf das motorische System reduziert und gleichzeitig dämpfende, parasympathische Einflüsse verstärkt werden. Der wissen-schaftliche Nachweis der Entspannung wird elektromyographisch (EMG) erbracht. Der Übende selbst erlebt die Tonusregulierung als Schwereempfindung. Die Mehrheit aller Autoren - mit Ausnahme der Vertreter des Autogenen Trainings - ist sich dahingehend einig, daß „Entspannung“ nicht als ein totales muskuläres Erschlaffen anzusehen sei. Eine Grundspannung, Restaktivität genannt, wird nicht unterschritten und manchmal durch einzelne Muskelkontraktionen aufrechterhalten. Die Reizintensitätsschwelle steigt an, was zur Abschwächung der Reflexstärke führt. Die Bewegungsamplituden sind bei elektrischer und mechanischer Stimulation verringert.
- Kardiovaskuläre Veränderungen
Als Folge der körperlichen Entspannung kommt es zu einer Gefäßerweiterung, die vom Übenden als Wärme empfunden wird. Während die Körpertemperatur zu Beginn der Übung leicht sinkt, verstärkt sich anschließend die Durchblutung und damit die Wärme-entwicklung in der...