1 Grundlagen der Elektrokardiografie
M. Gass
1.1 Grundlagen der Elektrophysiologie
Wie in allen erregbaren Zellen besteht in den Herzmuskelzellen an der Zellmembran eine Potenzialdifferenz, die auf der Basis einer unterschiedlichen Ionenverteilung zwischen Extra- und Intrazellulärraum beruht. Beim sog. Ruhepotenzial liegt im Intrazellulärraum gegenüber dem Extrazellulärraum eine 20- bis 40-fach höhere Kaliumkonzentration vor. Andererseits ist die extrazelluläre Natriumkonzentration ca. 10-mal höher als die intrazelluläre. Aufgrund dieser Ionendifferenz und der im Ruhezustand höheren Membranpermeabilität für Kaliumionen im Vergleich zu Natriumionen ist die Zellmembran polarisiert: Das Ruhepotenzial beträgt −90 mV. Die Aufrechterhaltung des Konzentrationsgradienten für Natrium- und Kaliumionen wird durch ein aktives Transportsystem, die ATP-abhängige (ATP: Adenosintriphosphat) Natrium-Kalium-Pumpe, gewährleistet.
Kommt es durch eine elektrische Erregung oder durch langsame, spontane Depolarisation der Zelle zu einem Anstieg des Zellmembranpotenzials auf −70 mV, ändert sich mit Erreichen des sog. Schwellenpotenzials schlagartig die Permeabilität der Zellmembran gegenüber den positiv geladenen Natriumionen. Diese strömen, dem Diffusionsgradienten folgend, ins Zellinnere und führen zu einer Potenzialumkehr auf Werte von +30 mV. Dies entspricht der Phase 0 des Aktionspotenzials ( ▶ Abb. 1.1).
Im Anschluss daran folgt die Phase 1, in der die überschießende positive Potenzialdifferenz abgebaut wird.
Die Phase 2 ist schließlich durch ein Membranpotenzial um 0 mV gekennzeichnet. Dieses Plateau entsteht durch die sinkende Leitfähigkeit der Membran gegenüber Natrium- und Kaliumionen.
Es folgt in Phase 3 die Repolarisation durch einen massiven Kaliumaustritt aus der Zelle, mit Absinken der Potenzialdifferenz auf −90 mV.
Damit ist wieder der Status des Ruhepotenzials erreicht, auch Phase 4 genannt.
In den Phasen 0–2 besteht eine absolute Refraktärität gegenüber weiteren elektrischen Reizen. In der Phase 3 kann ab einer Potenzialdifferenz von −70 mV ein erneuter elektrischer Impuls ein neues Aktionspotenzial auslösen. Dies entspricht der relativen Refraktärperiode oder vulnerablen Phase.
Gegenüberstellung von Oberflächen-EKG-Ableitung (oben) und intrazellulär abgeleitetem Aktionspotenzial (unten).
Abb. 1.1
Die Aktionspotenziale der einzelnen Herzmuskelzellen lassen sich als Summationsvektor im Oberflächen-EKG darstellen. Die Depolarisation der Ventrikel in Phase 0 wird zusammen mit Phase 1 als QRS-Komplex bezeichnet.
Phase 2 und 3, die Repolarisation, wird durch die ST-Strecke und die T-Welle abgebildet.
Phase 4, Ruhepotenzial oder elektrische Diastole genannt, entspricht der TQ-Strecke.
Die genannten elektrischen Abläufe lassen sich im Prinzip auf alle Herzmuskelzellen anwenden. Der Hauptunterschied zwischen Zellen des Arbeitsmyokards und den Zellen des spezifischen Reizleitungssystems liegt in der Fähigkeit dieser Zellen zur automatischen spontanen Depolarisation. Sowohl die Zellen des Sinusknotens als auch die Zellen des AV-Knotens und des His-Purkinje-Systems sind als Schrittmacherzellen zur spontanen Depolarisation direkt nach der Repolarisation befähigt. Dies ist bedingt durch eine Abnahme der Kaliumleitfähigkeit während Phase 4. Bei Erreichen des Schwellenpotenzials wird ein neues Aktionspotenzial erzeugt. Da die Geschwindigkeit der spontanen Depolarisation in Phase 4 vom Sinusknoten bis zum His-Purkinje-System abnimmt, wird in der Regel die Erregung mit der höchsten Taktfrequenz vom Sinusknoten aus die untergeordneten automatischen Zellen vor deren eigener Spontandepolarisation depolarisieren ( ▶ Abb. 1.2).
Anatomie des Reizleitungssystems und Darstellung der Spontandepolarisation seiner einzelnen Anteile.
Abb. 1.2
1.2 Anatomie des Reizbildungs- und Erregungsleitungssystems
Vom Arbeitsmyokard abzugrenzen ist das spezifische Reizleitungssystem. Hier finden sich die automatisch tätigen, sog. Schrittmacherzellen mit ihrer Fähigkeit zur Spontandepolarisation. Der subepimyokardial gelegene Sinusknoten als oberstes Schrittmacherzentrum des Herzens liegt im Sulcus terminalis, am Übergang von Vena cava superior in den rechten Vorhof. Er hat eine ovale Form in der Größe eines Reiskorns (0,5–1,5 mm). Vom Sinusknoten aus breitet sich die elektrische Erregung im Vorhof über mehr oder weniger präformierte Bahnen mit einer Geschwindigkeit von 1,5–1,8 m/s aus.
In den Vorhöfen konnte kein eindeutig abgrenzbares Leitungssystem wie in den Ventrikeln nachgewiesen werden. Die elektrische Verbindung zwischen rechtem und linkem Vorhof erfolgt durch Fasern des anterior gelegenen Bachmann-Bündels. Bedingt durch die intraatriale Leitungszeit wird der linke Vorhof ca. 20–30 ms nach dem rechten Vorhof erregt. In der Regel erreicht der vom Sinusknoten ausgehende Impuls die AV-Knotenregion nach 20–40 ms (intraatriale Leitungszeit).
Der AV-Knoten liegt subendokardial am unteren Rand des interatrialen Septums in unmittelbarer Nähe zum Trikuspidalklappenanulus und dem Ostium des Koronarvenensinus. Er besteht aus 2 verschiedenen Zonen mit histologisch und elektrophysiologisch unterschiedlichen Zellen:
Zum einen gibt es hier die transitionalen Zellen, die den Vorhofimpuls an den kompakten AV-Knotenanteil in der Spitze des Koch-Dreiecks weiterleiten.
Zum anderen finden sich im kompakten AV-Knoten sog. Nodalzellen, die die Möglichkeit zur Spontandepolarisation besitzen und somit bei Ausfall des Sinusknotens mit einer niedrigeren Ersatzfrequenz arbeiten können.
Im AV-Knoten wird der elektrische Impuls des Vorhofs verzögert und mit einer Leitungsgeschwindigkeit von 5–10 cm/s an das His-Bündel weitergeleitet. Diese „Leitungsverzögerung“ bewirkt einen intrinsischen Schutz vor einer hochfrequenten Überleitung von Vorhoftachykardien auf die Kammern.
Das His-Bündel verläuft in der Pars membranacea des Ventrikelseptums und teilt sich kurz danach in die beiden Tawara-Schenkel auf; die Leitungsgeschwindigkeit beträgt 2–3 m/s. Der distale AV-Knoten mit dem Übergang in das His-Bündel stellt im Normalfall die einzige elektrische Verbindung zwischen den Vorhöfen und den Herzkammern dar.
Der rechte Tawara-Schenkel ist die Verlängerung des His-Bündels und verläuft bis zum vorderen Papillarmuskel unverzweigt intramyokardial.
Der linke Tawara-Schenkel zweigt kurz nach Durchtritt des His-Bündels durch die Pars membranacea ab und verzweigt sich im Interventrikularseptum in 2 Faszikel: der linksanteriore Faszikel verläuft zur Vorderwand, der linksposteriore zur Hinterwand.
Die Leitungsgeschwindigkeit in den Tawara-Schenkeln beträgt 2–4 m/s. Die Tawara-Schenkel enden beidseits im Purkinje-Fasersystem.
Das Purkinje-Fasersystem stellt den Übergang des spezifischen Reizleitungssystems zum Arbeitsmyokard dar. Die Purkinje-Zellen haben die Fähigkeit zur spontanen Depolarisation mit einer Frequenz von ca. 20/min; die Leitungsgeschwindigkeit beträgt 2–4 m/s. Dank dieser hohen Leitungsgeschwindigkeit können alle Regionen des Kammermyokards mit nur geringer Verzögerung erregt werden.
Die arterielle Blutversorgung der einzelnen Strukturen des Reizleitungssystems erfolgt durch die Koronararterien. Die Sinusknotenarterie wird in 55–60% von der rechten Koronararterie und in 40–45% vom R. circumflexus der linken Koronararterie versorgt. Der AV-Knoten wird zu 80% von der rechten Koronararterie und zu 20% über den R. circumflexus der linken Koronararterie mit Blut versorgt.
1.3 Einflüsse des vegetativen Nervensystems auf die Steuerung des Herzens
Die efferente Innervation des Herzens erfolgt durch sympathische Fasern. Dadurch kann der autonom arbeitende Sinusknoten auf unterschiedliche Anforderungen des Organismus reagieren. Eine sympathische (adrenerge) Stimulation hat folgende Auswirkungen:
Anstieg der Herzfrequenz (positive Chronotropie)
Beschleunigung der elektrischen Überleitung im AV-Knoten (positive Dromotropie)
Steigerung der Kontraktilität (positive Inotropie)
Demgegenüber bewirkt eine cholinerge Stimulation über den Parasympathikus eine negativ chronotrope und dromotrope Reaktion. Die Einflüsse des vegetativen Nervensystems sind am Sinusknoten am ausgeprägtesten, deutlich geringer im Vorhofgewebe und im AV-Knoten.
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