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Emile oder über die Erziehung

Band 1&2 - Bildungsroman: Pädagogische Prinzipien

AutorJean-Jacques Rousseau
Verlage-artnow
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl180 Seiten
ISBN9788026819295
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis1,99 EUR
Dieses eBook: 'Emile oder über die Erziehung' ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Emile oder über die Erziehung ist das pädagogische Hauptwerk Jean-Jacques Rousseaus aus dem Jahr 1762. Emile, Rousseaus Zögling, ist ein gesunder, durchschnittlich begabter Junge aus reichem Hause mit Jean-Jacques (Rousseaus Alter Ego) als seinem einzigen Erzieher. Dieser hat für ihn zwei Ziele festgesetzt: Zum einen soll Emile als erwachsener Mensch in der Lage sein, in der Zivilisation zu bestehen, ohne an seiner Person Schaden zu nehmen, zum anderen soll er bereit sein, den Gesellschaftsvertrag zu schließen. Dieser Vertrag soll die politische Ordnung sichern, und ihm müssen alle Mitglieder einer Gesellschaft zustimmen. Um den Gesellschaftsvertrag schließen zu können, muss Emile die Freiheit erfahren haben, er muss wissen, was es heißt, er gehorche sich selbst, wenn er einem Gesetz gehorcht - denn dieses wird im Gesellschaftsvertrag mit Blick auf das Glück eines jeden beschlossen. Er darf nicht Sklave von Ehrgeiz, falschen Bedürfnissen und der Meinung anderer sein, da er sonst nicht imstande wäre, den Gesellschaftsvertrag bei einer Verletzung desselben zu kündigen und seine ursprünglichen Rechte wieder einzunehmen - dafür muss er vorher die natürliche Freiheit kennengelernt haben. Hartmut von Hentig fasst Rousseaus Erziehungslehre in sieben 'pädagogischen Prinzipien' zusammen. Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) war ein französischsprachiger Schriftsteller, Philosoph, Pädagoge, Naturforscher und Komponist der Aufklärung. Rousseau hatte großen Einfluss auf die Pädagogik und die politische Theorie des späten 18. sowie des 19. und 20. Jahrhunderts in ganz Europa. Er war ein wichtiger Wegbereiter der Französischen Revolution. Sein Werk ist unlösbarer Bestandteil der französischen und europäischen Literatur- und Geistesgeschichte.

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Leseprobe

Zweites Buch.


Mit Beginn der zweiten Lebensperiode, in welche jetzt das Kind eintritt, hat eigentlich die Kindheit schon ihr Ende erreicht, denn die Wörter infans und puer sind nicht gleichbedeutend. Das erstere ist unter dem zweiten mit einbegriffen und bedeutet ein Kind, welches noch nicht sprechen kann, weshalb auch der Ausdruck des Valerius Maximus » puer infans« seine volle Berechtigung hat. Allein ich werde mich unserem Sprachgebrauche anschließen und mich des Wortes Kindheit nach wie vor bis zu dem Lebensalter bedienen, für welches unsere Sprache bezeichnendere Benennungen hat.

Wenn die Kinder zu sprechen beginnen, weinen sie weniger. Dieser Fortschritt ist natürlich; eine Sprache verdrängt die andere. Warum sollten sie wohl, wenn sie mit Worten auszudrücken vermögen, daß sie leiden, zum Schreien ihre Zuflucht nehmen, falls ihre Schmerzen nicht zu heftig sind, als daß sie sich durch Worte ausdrücken lassen? Fahren sie dann doch noch zu weinen fort, so liegt die Schuld an den Personen ihrer Umgebung. Hat Emil erst einmal gesagt: »Mir ist unwohl«, so werden ihm fortan nur die heftigsten Schmerzen Thränen auszupressen im Stande sein.

Wenn das Kind schwächlich und empfindlich ist, so daß es von Natur um nichts in Geschrei ausbricht, so suche ich diese ewige Thränenquelle dadurch zu verstopfen, daß ich es sich vergeblich abschreien lasse. So lange es weint, gehe ich unter keinen Umständen zu ihm; ich eile aber zu ihm, sobald es sich beruhigt hat. Bald wird es sein Betragen ändern und mich durch Schweigen oder höchstens dadurch rufen, daß es einen einzigen Schrei ausstößt. Nur nach der wahrnehmbaren Wirkung beurtheilen die Kinder die Bedeutung der Zeichen, für sie gibt es keine andere Art und Weise. Mag sich ein Kind noch so wehe thun, so wird es doch, wenn es allein ist und keine Hoffnung hat gehört zu werden, in höchst seltenen Fällen weinen.

Wenn es fällt, sich den Kopf stößt, Nasenbluten bekommt oder sich in die Finger schneidet, werde ich ihm durchaus nicht mit bestürzter Miene sofort zu Hilfe eilen, sondern mich wenigstens eine Zeit lang ruhig verhalten. Das Uebel ist einmal geschehen, das Kind muß den Schmerz aushalten; all mein Eifer würde nur dazu dienen, es noch mehr zu erschrecken und seine Empfindlichkeit zu vermehren. Im Grunde genommen wird der Schmerz, den man bei einer Verletzung empfindet, weniger von der Wunde als von der Furcht erregt, die uns der Anblick derselben einflößt. Diese letztere Bangigkeit werde ich ihm wenigstens ersparen; denn sicherlich wird es sich in der Beurtheilung seines Schadens nach mir richten. Sieht es mich unruhig herbei eilen, um es zu trösten und es zu beklagen, so wird es sich für verloren halten; sieht es mich dagegen meine Kaltblütigkeit bewahren, so wird es auch die seinige bald wieder gewinnen und den Schaden für geheilt halten, sobald es den Schmerz nicht mehr empfindet. Unter solchen Erfahrungen entwickelt sich schon in diesem Alter in der Brust des Kindes Muth und Unerschrockenheit; durch furchtloses Ertragen leichterer Schmerzen lernt man stufenweise auch die großen ertragen.

Weit entfernt, meinen Emil sorgfältig vor jeder Verletzung, die er sich zufügen könnte, zu behüten, würde es mir vielmehr höchst unlieb sein, wenn er sich niemals wehe thäte und aufwüchse, ohne den Schmerz kennen zu lernen. Leiden und dulden ist das Erste, was er lernen muß, und was zu verstehen ihm am nöthigsten sein wird. Es hat fast den Anschein, als ob die Kinder nur klein und schwach wären, um diesen wichtigen Unterricht ohne Gefahr erhalten zu können. Fällt das Kind der ganzen Länge nach hin, so bricht es sich doch nicht das Bein; schlägt es sich mit einem Stocke, so bricht es sich doch nicht den Arm, greift es nach einem scharfen Messer, so packt es doch nicht fest zu und verwundet sich deshalb auch nicht tief. Mir ist kein Beispiel bekannt, daß man je ein sich selbst überlassenes Kind sich hat tödten, zum Krüppel machen oder einen erheblichen Schaden zufügen sehen, vorausgesetzt, daß man es nicht leichtsinniger Weise an erhöhte Plätze oder ohne Aufsicht in die Nähe des Feuers gesetzt oder gefährliche Instrumente in seinem Bereiche gelassen hat. Was soll man wol zu diesem Arsenal künstlicher Mittel sagen, mit denen man ein Kind umschanzt, um es auf alle Weise gegen den Schmerz zu waffnen, und durch die man nichts Anderes erreicht, als daß es, wenn es erwachsen ist, demselben ohne Muth und ohne Erfahrung Preis gegeben ist, sich beim ersten Nadelstich schon für eine Beute des Todes hält und ohnmächtig wird, sobald es einen einzigen Blutstropfen vergießt?

Ein Beleg für unsere pedantische Lehrwuth ist der leidige Umstand, daß wir uns nicht einmal enthalten können, den Kindern selbst das beizubringen, was sie aus sich selbst weit besser lernen würden, und daß wir darüber das verabsäumen, was wir allein sie lehren können. Gibt es wol etwas Thörichteres als die Mühe, die man sich gibt, sie gehen zu lehren? Hat man etwa schon je einen Erwachsenen gesehen, der deshalb nicht hätte gehen können, weil ihn seine Wärterin einst vernachlässigt hatte? Wie viele Leute sieht man dagegen, die lebenslang einen schlechten Gang behalten, den man ihnen schon am Gängelbande beigebracht hat.

Emil wird weder Fallhüte, noch Laufkörbe, noch Kinderwagen, noch solche Gängelbänder bekommen; von dem Augenblicke an, wo er einen Fuß vor den andern setzen kann, wird man ihn nur noch an gepflasterten Stellen halten und ihm schnell darüber hinweghelfen.32

Anstatt ihn in ungesunder Stubenluft verkümmern zu lassen, wird man ihn täglich mitten auf eine Wiese führen. Dort mag er laufen und sich lustig umhertummeln; meinetwegen mag er alle Tage hundertmal dabei hinfallen, das ist nur desto besser, denn dadurch wird er um so eher wieder aufstehen lernen. Das wohlthuende Gefühl der Freiheit wiegt viele Wunden auf. Mein Zögling wird sich gewiß oft stoßen, aber gleichwol wird er immer fröhlich und guter Dinge sein. Wenn die Eurigen sich weniger oft wehe thun, so sind sie dafür auch nie Herren ihres eigenen Willens, sind stets gefesselt, fühlen sich stets gedrückt. Ich zweifle, daß der Vortheil auf ihrer Seite liegt.

Auch noch ein anderer Fortschritt, nämlich die Entwickelung und Zunahme ihrer eigenen Kräfte, nöthigt sie jetzt weniger oft zum Weinen. Da sie jetzt mehr durch sich selbst vermögen, bedürfen sie fremder Hilfe desto weniger. Mit ihrer Kraft entwickelt sich gleichzeitig die Einsicht, die ihnen die Fähigkeit verleiht, dieselbe richtig zu leiten. Auf dieser zweiten Stufe beginnt eigentlich erst das individuelle Leben; nun erst gelangt das Kind zum Bewußtsein seiner selbst. Die Erinnerung erweitert die Empfindung der Identität über alle Augenblicke seines Daseins; es wird nun in Wirklichkeit ein einheitliches Wesen, das sich stets als dasselbe fühlt, und wird folglich jetzt erst des Glückes und Elendes fähig. Es ist deshalb von Wichtigkeit, daß man es von nun an als ein moralisches Wesen betrachte.

Obgleich man über das äußerste Ziel des menschlichen Lebens, so wie über die Wahrscheinlichkeit, die man in jedem Lebensalter hat, dieses Ziel zu erreichen, annähernde Berechnungen besitzt, so ist doch nichts ungewisser als die Lebensdauer jedes einzelnen Menschen; dieses höchste Lebensziel erreichen nur sehr wenige. Gerade bei seinem Beginne ist das Leben den größten Gefahren ausgesetzt; je kürzere Zeit man gelebt hat, desto weniger darf man hoffen, sein Leben zu erhalten. Von allen Kindern, die geboren werden, erreicht höchstens die Hälfte das Jünglingsalter, und euer Zögling wird also wahrscheinlich das Mannesalter nicht erreichen.

Was soll man also von der jetzigen barbarischen Erziehung denken, welche die Gegenwart einer ungewissen Zukunft opfert, die einem Kinde allerlei Fesseln anlegt und es gleich vom ersten Augenblicke an unglücklich macht, um ihm in weiter Ferne ich weiß nicht was für ein vermeintliches Glück zu bereiten, das es vermuthlich nie genießen wird? Wie könnte man, selbst für den Fall, daß diese Erziehung hinsichtlich ihres Zweckes vernünftig wäre, es ohne Unwillen mit ansehen, wie diese armen unglücklichen Wesen einem unerträglichen Joche unterworfen und gleich Sträflingen zu ununterbrochenen Arbeiten verurtheilt sind, ohne sich der sicheren Hoffnung hingeben zu können, daß sie dereinst aus diesen vielen Mühen auch Nutzen ziehen werden? Die Jahre des Frohsinnes vergehen ihnen unter Thränen, Züchtigungen, Drohungen, kurzum in voller Sklaverei. Man peinigt das unglückliche Kind um seines Wohles willen und will nicht einsehen, daß man dadurch den Tod herbeiruft, dessen Beute es mitten unter diesen traurigen Vorkehrungen werden wird. Wer vermag zu berechnen, wie viel Kinder als Schlachtopfer der überspannten Weisheit eines Vaters oder eines Lehrers dahinsterben? Glücklich sind alle zu preisen, welche solcher Grausamkeit entgehen! Der einzige Vortheil, den sie aus den ihnen zugefügten Leiden ziehen, liegt darin, daß sie sterben, ohne den Verlust eines Lebens zu beklagen, von dem sie nur die Qualen kennen gelernt haben.

Menschen, seid menschlich, das ist eure erste Pflicht; seid es gegen alle Stände, gegen alle Lebensalter, gegen Alles, was der menschlichen Natur eigen ist. Kennt ihr noch eine Weisheit außer der Humanität? Liebet die Kindheit, begünstigt ihre Spiele, ihre Vergnügungen, ihren liebenswürdigen Instinct. Wer von euch hätte sich nicht bisweilen nach diesem glücklichen Alter zurück gesehnt, wo das Lächeln stets auf den Lippen schwebt und Ruhe und Frieden die Seele erfüllt? Weshalb wollt ihr diese...

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