Einleitung
Der Holocaust war noch nie so allgegenwärtig wie heute. Noch nie ist er so intensiv untersucht, so verbreitet gelehrt und so häufig zum Thema von Romanen und Spielfilmen gemacht worden. Am 1. November 2005 erklärte die Vollversammlung der Vereinten Nationen den 27. Januar zum Internationalen Holocaust-Gedenktag, so dass man seiner jetzt nahezu weltweit gedenkt als Inbegriff des Bösen, ultimative Verletzung der Menschenrechte und größtes Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Der siebzigste Jahrestag der Befreiung von Auschwitz und der Konzentrationslager wurde mit Feiern begangen, an denen neben den inzwischen gebrechlichen Überlebenden Staatsoberhäupter und Kirchenführer teilnahmen.1
Dennoch besteht eine große Kluft zwischen dem aktuellen Forschungsstand und dem allgemeinen Wissen über das Thema, was kaum überrascht, wenn man bedenkt, dass die meisten Menschen ihr Wissen über die NS-Vergangenheit und das Schicksal der Juden aus Romanen, Spielfilmen und gutgemeintem, aber wenig fundiertem Schulunterricht beziehen, der sich oftmals auf fiktive, an junge Erwachsene gerichtete Darstellungen oder deren filmische Umsetzung stützt. Weiter gestärkt werden die falschen Vorstellungen durch die geglätteten, instrumentalisierten Versionen dieses Kapitels der Geschichte, die im Rahmen unterschiedlichster Kampagnen sowie von Bildungs- und Gedenkorganisationen verbreitet werden. Trotz bester Absichten dienen diese Anstrengungen einem äußeren Zweck, sei es dem Wunsch, eine inklusive nationale Identität zu fördern, oder dem lobenswerten Kampf gegen Antisemitismus, Rassismus, Homophobie und andere Formen politischer, religiöser oder ethnischer Intoleranz. Manche stützen sich aus Bequemlichkeit auf überholte Forschungsergebnisse, andere ziehen die neuesten Erkenntnisse heran, spielen ihnen lästige Aspekte aber herunter.2
Es ist leichter, Tagesausflüge nach Auschwitz-Birkenau zu organisieren, wo schätzungsweise 960 000 Juden ermordet wurden, als nach Treblinka, wo in einem kürzeren Zeitraum rund 860 000 Juden den Tod fanden, ganz zu schweigen von den verstreuten, aber allerorts zu findenden Mordstätten in Weißrussland und der Ukraine, wo etwa anderthalb Millionen Juden erschossen wurden. Gewissenhafte Erzieher, die solche flüchtigen Besuche in Auschwitz und Birkenau vorbereiten und begleiten, werden sich bemühen, die Konzentrations- und Vernichtungslager in den größeren historischen Zusammenhang des Völkermords an den Juden zu stellen, aber die emotionale Kraft, dank derer sich die historischen Fakten dem Gedächtnis einprägen, wird unweigerlich vom unmittelbaren Eindruck dieser einen Stätte ausgehen. Trotz aller Vorbereitung werden die anderen Orte, an denen die meisten Juden litten, starben und zu Tode gebracht wurden, schemenhaft bleiben. Die Folge ist ein verzerrtes Bild. Weil das Schwergewicht auf den Deportationen in die Vernichtungslager liegt, insbesondere aus Westeuropa und insbesondere nach Auschwitz, erhält das Geschick der Juden in den polnischen Ghettos weit weniger Aufmerksamkeit. Doch die Zahl der 1940/41 in den Ghettos von Warschau und Lodz eingesperrten Juden überstieg diejenige der damals in Frankreich, Belgien und den Niederlanden lebenden. In Warschau starben mehr Juden, als aus Frankreich in die Mordstätten in Osteuropa deportiert wurden. Am 29. und 30. September 1941 wurden in Kiew, nur einen Katzensprung von ihren Häusern entfernt, mehr Juden erschossen, als in belgischen Durchgangslagern in Viehwaggons gepfercht und auf die schreckliche fünftägige Fahrt zu den Vernichtungslagern in Polen geschickt wurden. Dennoch ist ein auf einem Gleisstück stehender Viehwaggon eines der verbreitetsten Denkmäler zur Erinnerung an den Holocaust.3
In der öffentlichen Wahrnehmung stechen Aussagen von Überlebenden wissenschaftliche Darstellungen allemal aus. Zeitzeugen mögen nur einen Bruchteil der historischen Tragödie aus eigener Erfahrung beleuchten können, aber sie waren dabei, was ihren Worten großes Gewicht verleiht. Doch lenken ihre Aussagen in Bildungs- und Gedenkzusammenhängen den Blick auf eine kleine Gruppe, deren Erlebnisse nicht repräsentativ sind.
Dass diese Zeitzeugen als Überlebende nicht typisch sind für die große Mehrheit der Juden und ihr Schicksal unter der NS-Herrschaft, liegt auf der Hand. Relevanter ist die Feststellung, dass die meisten, bedenkt man den Zeitabstand, die NS-Jahre als Kinder und Jugendliche erlebt haben. Sie haben die Dilemmas von Erwachsenen beobachtet und können nur aus zweiter Hand berichten, was ihren Müttern, Vätern, Großeltern und älteren Verwandten widerfahren ist. Wie es sich anfühlte, als Mensch mittleren Alters mit Verfolgung und Todesdrohung konfrontiert zu sein, können sie nicht bezeugen. Sie können lediglich ein Echo dessen wiedergeben, was es für die Erwachsenen bedeutete, ihre Häuser und Geschäfte zu verlieren – all das, wofür sie und womöglich Generationen vor ihnen ein Leben lang gearbeitet hatten. Von jenen schweren Auseinandersetzungen, die das Leben in den jüdischen Gemeinden prägten, waren Kinder und Jugendliche abgeschottet oder nahmen nicht direkt an ihnen teil. Die Gemeindevorstände standen unter dem erbarmungslosen Druck, Unterscheidungen zu treffen, die über Leben und Tod entschieden: zwischen Arbeitsfähigen und Arbeitsunfähigen, zwischen Begüterten und Mittellosen, zwischen jenen mit Beziehungen zu den Behörden und denjenigen, die keine Patronage genossen. Sie erlebten dies zwar mit, verspürten aber nicht, was Erwachsene fühlten, die ihre Familien zu retten versuchten, empfanden nicht die Verzweiflung und Wut angesichts von Hilflosigkeit und Verderben.
Überlebende sind im Gegenteil wunderbare Beispiele dafür, dass in der Jugend erlittene Traumata überwunden werden können. Sie zeigen, dass es möglich ist, innerhalb einer Generation wiederaufzubauen, was in der vorangegangenen gnadenlos zerstört wurde. Solche inspirierenden Aussagen vermitteln unweigerlich eine Heilsbotschaft. Wie unangenehm und ungeschminkt ihre Geschichte auch sein mag, so umgibt die Erzähler aufgrund ihres Alters und des Muts, den sie durch die Erinnerung an entsetzliche Zeiten beweisen, eine heroische Aura. Sie sind Abgesandte einer schrecklichen fernen Vergangenheit, die eine hoffnungsvolle Botschaft überbringen: dass Überleben und Neuanfang möglich sind, trotz alledem.4
Gedenkveranstaltungen – insbesondere solche, an denen Überlebende teilnehmen – werden selbstverständlich so gestaltet, dass sensible und umstrittene Punkte nicht berührt werden. Erscheinungen wie die Korruption in den Ghettos und der moralische Verfall von Lagerinsassen bleiben ausgeklammert. Unangenehme Themen wie die erzwungene Zusammenarbeit mit deutschen Stellen oder vorsätzliche Racheakte werden gemieden. Fälle von freiwilliger Kindstötung, sexueller Ausbeutung unter Juden, Vergewaltigung und sogar Kannibalismus werden mit gnädigem Schweigen übergangen. Doch all dies gab es in den Ghettos und Lagern, den städtischen Verstecken und Zufluchtsorten in den Wäldern. Bildungsprogramme haben in Bezug auf solch heikle Themen mehr Spielraum und Ehrgeiz, aber da sie darauf abzielen, Rassismus zu bekämpfen, liegt ihr Schwerpunkt auf den Verbrechen der Deutschen, ihrer Verbündeten und Komplizen sowie der Gleichgültigkeit der »Zuschauer«. Auf die schrecklichen Dinge einzugehen, die von Juden begangen wurden, wäre so, als würde man »den Opfern die Schuld geben«, was eine Variante eben jenes vorurteilsvollen Denkens wäre, welches die »Holocausterziehung« ausmerzen soll. Ironischerweise liegt aber gerade hier der Themenbereich, der gegenwärtig von verantwortungsbewussten Forschern untersucht wird.5
Die Begrifflichkeit selbst ist in zunehmendem Maß störend. Der Begriff »Holocaust« – ursprünglich eingeführt, um weniger die historischen Ereignisse, auf die er sich vorgeblich bezieht, als vielmehr die kulturelle Konstruktion zu bezeichnen – meint mittlerweile ein einzigartiges Ereignis, das durch ein systematisches Täterhandeln und eine einheitliche Opfererfahrung gekennzeichnet ist. Neuere Darstellungen heben jedoch die Unterschiede hervor, die zwischen verschiedenen Ländern, Regionen und sogar Nachbardörfern bestanden. Sie nehmen die Veränderungen im Lauf der Zeit wahr, indem sie einzelne Schauplätze und Phasen betrachten, deren jeweilige Eigenheiten die Überlebenschancen vergrößern oder verkleinern konnten. Nach Ansicht mancher Historiker fanden innerhalb des Holocaust mehrere, einander überlappende Genozide statt. Rumänien zum Beispiel unternahm eine mörderische ethnische Säuberung gegen Juden, um nationale Ziele zu erreichen, die sich von den deutschen Absichten unterschieden und diesen sogar zuwiderliefen. Die Perspektive auf die Katastrophe verändert sich, doch dies wird angesichts der permanenten Wiederholung eines anerkannten, aber veraltenden Narrativs kaum berücksichtigt.6
Das vorliegende Buch entstand aus einem Unbehagen über das Missverhältnis zwischen der Beschwörung des Holocaust in der Populärkultur sowie im Bildungs- und Gedenkwesen einerseits und den Erkenntnissen von Forschern vieler Disziplinen andererseits. Bedenklich wurde diese Kluft seit den 1990er Jahren dank des enormen Aufschwungs der Forschung nach dem Ende des Kalten Krieges und der Öffnung osteuropäischer Archive. Der Zugang zu diesen Archiven ermöglichte es den Wissenschaftlern, Bereiche wie die jüdische Zwangsarbeit und den Verbleib jüdischen Eigentums zu erkunden. Mehr als ein Dutzend Länder bildeten Historikerkommissionen, um Vorwürfe in Bezug auf ihr Verhalten im Krieg zu untersuchen. Ähnliche Anstrengungen von Banken und Industrieunternehmen folgten. Das Ergebnis war...