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E-Book

Endurance

Mein Jahr im Weltall

AutorScott Kelly
VerlagC. Bertelsmann
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl480 Seiten
ISBN9783641211899
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
340 Tage im All - eine überirdische Abenteuergeschichte
Ein Jahr lebte Scott Kelly ohne Unterbrechung im Weltraum, auf der ISS, viermal flog er ins All. Jetzt blickt er zurück auf ein Leben voller Gefahren und Abenteuer - mit der Hoffnung, dass der blaue Planet zu retten ist: »Ich habe begriffen, dass Gras wunderbar riecht und dass Regen ein Wunder ist.« Aus der kalten Ferne des Universums und der Internationalen Raumstation hat der Raumfahrt-Veteran Scott Kelly wie kein anderer gefühlt, wie kostbar das Refugium Erde ist. In seiner persönlichen Geschichte nimmt er den Leser mit in eine lebensfeindliche Welt; er erzählt von den Herausforderungen eines Langzeitflugs im All und den dramatischen Folgen für Körper und Seele. Doch im Zentrum stehen die überwältigenden Eindrücke und Erlebnisse, die Begeisterung und der Wille, mit denen Menschen ihre Träume verwirklichen. Mit dieser Kraft können sie, so mahnt Kelly, auch die Schönheit ihres einmaligen Heimatplaneten bewahren.

Scott Kelly war zunächst Militär- und Testpilot, bevor er viermal ins All flog, dreimal Kommandant von Flügen zur ISS und dann Mitglied der einjährigen Mission auf der ISS war. Er ist der NASA-Astronaut, der die meiste Zeit im All ohne Unterbrechung verbrachte.

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Leseprobe

KAPITEL 1

20. Februar 2015

Man muss ans Ende der Erde fahren, um sie zu verlassen. Nun, da die Spaceshuttles 2011 außer Dienst gestellt wurden, sind wir auf die Russen angewiesen, wenn wir ins All wollen. Wir müssen zuerst zum Kosmodrom Baikonur in der Steppe von Kasachstan fahren. Ich fliege von Houston nach Moskau, ein vertrauter Flug von elf Stunden Dauer, von dort aus geht es dann in einem Kleinbus weiter nach Swjosdny Gorodok, Russland, eine Fahrt von rund siebzig Kilometern, die ein bis vier Stunden dauert, je nach dem Moskauer Verkehr. Swjosdny Gorodok ist das russische Pendant zum Johnson Space Center, der Ort, an dem die Kosmonauten seit fünfzig Jahren ausgebildet werden (und in neuerer Zeit auch die Astronauten, die sich mit ihnen ins All begeben).

Swjosdny Gorodok ist eine Stadt mit eigenem Bürgermeister, einer Kirche, Museen und Wohnblocks. Es gibt ein riesiges Standbild von Juri Gagarin, der 1961 als erster Mensch ins All flog – es zeigt ihn, wie er demütig einen sozialistisch-realistischen Schritt nach vorne macht und dabei einen Blumenstrauß hinter seinem Rücken hält.

Vor Jahren hat die russische Raumfahrtbehörde einige Reihenhäuser erbaut, speziell für uns Amerikaner. Wenn man dort wohnt, hat man das Gefühl, sich in einer Filmkulisse zu befinden, die nach den typischen russischen Stereotypen von der Lebensweise der Amerikaner gestaltet ist. Es gibt zwar riesige Kühlschränke und Fernsehapparate, aber irgendwie ist alles ein bisschen daneben. Ich habe viel Zeit in Swjosdny Gorodok verbracht, unter anderem als Einsatzleiter der NASA, aber ich komme mir dort noch immer fremd vor, besonders im tiefsten russischen Winter. Nach ein paar Wochen Training bekomme ich immer wieder Sehnsucht, nach Houston zurückzukehren.

Von Swjosdny Gorodok fliegen wir 2600 Kilometer nach Baikonur in Kasachstan, einst die geheime Abschussbasis für das sowjetische Weltraumprogramm. Manchmal behaupten die Leute von einem Ort, er liege »mitten im Nirgendwo«, aber ich sage das nie mehr, wenn ich nicht von Baikonur spreche. Tatsächlich wurde die Abschussbasis in einem Dorf namens Tjuratam gebaut, das seinen Namen einem Nachkommen von Dschingis Khan verdankt, wurde aber aus Gründen der Geheimhaltung immer als Baikonur bezeichnet, das einige hundert Kilometer entfernt liegt. Heute ist das ehemalige Tjuratam der einzige Ort, der Baikonur heißt. Früher nannten die Sowjets ihre Abschussbasis auch Swjosdny Gorodok, um die Vereinigten Staaten noch mehr zu verwirren. Ein Amerikaner, der gegen Ende des Kalten Krieges aufwuchs und zum Marineflieger ausgebildet wurde, wird es nie als völlig normal empfinden, dass er ins Epizentrum des sowjetischen Raumfahrtprogramms eingeladen und in dessen Geheimnisse eingeweiht wird. Die Einwohner von Baikonur sind heute überwiegend Kasachen, Nachkommen von Mongolen- und Turkstämmen; hinzu kommt eine Minderheit ethnischer Russen, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hier hängen geblieben sind. Russland mietet die Einrichtung von Kasachstan. Der russische Rubel ist die Hauptwährung, und alle Fahrzeuge haben russische Nummernschilder.

Von oben betrachtet, scheint Baikonur willkürlich über die öde Hochsteppe ausgestreut worden zu sein. Es ist eine seltsame Ansammlung von hässlichen Betongebäuden, entsetzlich heiß im Sommer und bitterkalt im Winter, dazwischen Berge rostender, kaputter Maschinenteile. Dazu Rudel wilder Hunde und Kamele im Schatten von Raumfahrtzubehör, die um Futter betteln. Es ist ein trostloser und roher Ort, aber der weltweit einzige Weltraumbahnhof für die bemannte Raumfahrt, der in Betrieb ist.

Die Tupolew 134, ein altes Transportflugzeug des russischen Militärs, befindet sich im Anflug auf Baikonur. Möglicherweise war diese Maschine mit Aufhängepunkten für Bomben ausgerüstet gewesen und hätte, als Bestandteil des von den Sowjets im Kalten Krieg zum Zweck eines Angriffs auf mein Heimatland entwickelten Arsenals, notfalls als Bomber dienen können. Jetzt befördert es internationale Mannschaften von Raumfahrern – Russen, Amerikaner, Europäer, Japaner und Kanadier. Wir sind zu Bordkameraden gewordene ehemalige Feinde und befinden uns auf dem Weg zu einer Raumstation, die unsere Länder gemeinsam gebaut haben.

Der vordere Teil ist für die Kernmannschaft reserviert (meine beiden russischen Bordkameraden und mich) und eine Reihe von VIPs. Gelegentlich gehe ich in den hinteren Teil, in dem ich bei früheren Gelegenheiten nach Baikonur geflogen bin. Alle trinken, seit wir heute Morgen in Swjosdny Gorodok abgeflogen sind. Hier hinten läuft eine eigene Party der jüngeren russischen Crewmitglieder. Russen trinken nie, ohne etwas dazu zu essen, daher gibt es zu Wodka und Cognac Tomaten, Käse, Würstchen, saure Gurken, salzige Fisch-Chips und gesalzenen Schweinespeck in Scheiben, russisch Salo. Im Jahr 2000, auf meinem ersten Flug nach Kasachstan, kämpfte ich mich durch die Party im hinteren Teil des Flugzeugs, um zur Toilette zu gelangen, als man mich anhielt und nötigte, ein paar Gläser Samogon zu trinken, russischen Selbstgebrannten. Die jungen Burschen waren so betrunken, dass sie unter dem Einfluss von Turbulenzen und Alkohol herumtaumelten und das Zeug über sich selbst und auf den Boden des Flugzeuges verschütteten, was sie aber nicht davon abhielt, sich eine Zigarette nach der anderen anzustecken. Wir hatten Glück, dass wir heil nach Kasachstan kamen, ohne in einem riesigen Feuerball von Kerosin und Selbstgebranntem zu explodieren.

Auch heute wird wieder heftig getrunken, und wir haben tüchtig geladen, als wir aus den Wolken auf die ebene, gefrorene Steppe hinuntergehen, um auf Baikonurs einziger Rollbahn aufzusetzen. Wir klettern hinaus, blinzeln in die Kälte und treffen auf ein Empfangskomitee: offizielle Vertreter von Roskosmos, der russischen Weltraumorganisation, und von Energia, dem Unternehmen, das die Sojus-Raumschiffe baut. Eines von ihnen wird uns in die Umlaufbahn befördern und an der Internationalen Raumstation andocken. Der Bürgermeister von Baikonur ist mit einigen örtlichen Würdenträgern erschienen. Mein russischer Bordkamerad Gennadi Padalka tritt einen Schritt vor und spricht ein paar feierliche Worte, während wir nur mit halber Aufmerksamkeit zuhören: »My gotowy k sledujuschtschim schagam naschei podgotowki.« (»Wir sind bereit für die nächsten Schritte unserer Vorbereitung.«)

Das ist ein Ritual, das man in der Raumfahrt häufig antrifft. Die Amerikaner haben ähnliche zeremonielle Anlässe in ähnlichen Phasen der Startvorbereitung. Es ist nur ein schmaler Grat, der Ritual und Aberglauben voneinander trennt, und in einem so lebensbedrohlichen Geschäft wie der Raumfahrt kann Aberglaube selbst für Ungläubige tröstlich sein.

Am Ende des Rollfeldes bietet sich uns ein seltsamer, aber willkommener Anblick: eine Gruppe kasachischer Kinder, kleine Botschafter vom Ende der Welt. Sie haben runde Gesichter, schwarze Haare und überwiegend asiatische Züge. Sie tragen helle, staubige Kleidung und halten fröhlich lächelnd Luftballons in den Händen. Der russische Flugmediziner hat uns angewiesen, den Kontakt mit ihnen zu meiden: Man befürchtet den Ausbruch einer Masernepidemie in dieser Region. Würde sich einer von uns anstecken, könnte das ernste Folgen haben. Wir sind alle geimpft, aber die russischen Flugmediziner sind äußerst vorsichtig; niemand möchte mit Masern ins All fliegen. Normalerweise halten wir uns an die Ratschläge des Arztes, zumal er die Befugnis hat, uns von dem Flug auszuschließen. Doch Gennadi marschiert ohne zu zögern auf die Gruppe zu.

»Wir müssen die Kinder begrüßen«, sagt er entschlossen auf Englisch.

Ich kenne Gennadi ebenso wie unseren dritten Mann, Michail Kornienko (»Mischa«), seit Ende der 90er-Jahre, als ich erstmals nach Russland ging, um an dem gemeinsamen Projekt Raumstation unserer beiden Länder mitzuarbeiten. Gennadi hat dichtes weißes Haar und ein scharfes Auge, dem nicht viel entgeht. Er ist sechsundfünfzig und Kommandant unserer Sojus. Er ist der geborene Führer, gibt, wenn nötig, laut und barsch seine Befehle, hört aber immer aufmerksam zu, wenn ein Mitglied seiner Crew einen anderen Blickwinkel hat. Er ist ein Mensch, dem ich instinktiv vertraue. In Moskau habe ich einmal erlebt, dass er sich unweit des Kremls von einer Gruppe anderer Kosmonauten trennte, um einem Oppositionspolitiker die letzte Ehre zu erweisen, der an dieser Stelle ermordet worden war, möglicherweise von Wladimir Putins Leuten. Für einen Kosmonauten, einen Angestellten der Regierung Putins, eine gefährliche Geste. Die anderen Russen der Gruppe schienen sich zu scheuen, das Thema überhaupt anzusprechen – nicht so Gennadi.

Mischa, der ein Jahr lang mein Mitreisender sein wird, ist vierundfünfzig und ganz anders als Gennadi – locker, ruhig und nachdenklich. Mischas Vater war Hubschrauberpilot beim Militär und arbeitete beim Kosmonauten-Rettungsdienst. Als Mischa fünf Jahre alt war, starb sein Vater bei einem Hubschrauberabsturz. Doch dieser unfassbare Verlust trug lediglich dazu bei, ihn in seinen frühen Träumen von Weltraumflügen noch zu bestärken. Nachdem er seinen Militärdienst als Fallschirmjäger absolviert hatte, brauchte er einen Ingenieurabschluss des Moskauer Luftfahrtinstituts, um eine Stelle als Flugingenieur zu bekommen. Allerdings wurde er nicht angenommen, weil er nicht im Oblast Moskau wohnte. Also wurde er Polizeibeamter in Moskau, konnte dann dort seinen Wohnsitz nehmen und durfte an dem Institut studieren. 1998 wurde er als Kosmonaut ausgewählt.

Wenn Mischa Sie mit seinen hellen blauen Augen ansieht, haben Sie das Gefühl, für ihn gebe es nichts Wichtigeres,...

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