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E-Book

Engel der Notaufnahme

Ärzte kämpfen um das Leben

AutorRobert Lesslie
VerlagSCM Hänssler im SCM-Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783775172165
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis3,99 EUR
Eine 15-Jährige hat furchtbare Bauchschmerzen - aber ihre Mutter will nicht wahrhaben, dass sie schwanger ist. Eine zerstrittene Familie versöhnt sich am Sterbebett des Vaters. Der einsame Slim wollte nur etwas Essen, Wärme und Gesellschaft; und ein betrunkener Bürgermeister blamiert sich ziemlich: Sie alle waren in der Notaufnahme des Krankenhauses von Rock Hill. Freude und Trauer, Alltag und Wunder, Leben und Tod liegen hier eng beieinander. Dr. Lesslie erzählt Begebenheiten aus dem Alltag der Notaufnahme, die zum Schmunzeln anregen, berühren und immer wieder auf die grundlegenden Fragen hinweisen.

Robert Lesslie war mehr als 25 Jahre Arzt in der Notaufnahme eines Krankenhauses von Rock Hill, South Carolina (USA) und ist inzwischen Miteigentümer und medizinischer Direktor einer Notfallklinik. Er hat mehrere Bücher verfasst, ist gemeindlich und ehrenamtlich sehr engagiert und lebt mit seiner Frau in South Carolina.

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Kapitel 2


Stammgäste


Denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich war durstig, und ihr gabt mir zu trinken. Ich war ein Fremder, und ihr habt mich in euer Haus eingeladen. Ich war nackt, und ihr habt mich gekleidet. Ich war krank, und ihr habt mich gepflegt. Ich war im Gefängnis, und ihr habt mich besucht.

MATTHÄUS 25,35-36

Die Notaufnahme bedeutet allen möglichen Menschen alles Mögliche, doch zu ihren wichtigsten Aufgaben gehört es, die Menschen aufzufangen, die sonst nirgends hingehen können. Mitunter ist sie der einzige Ort, an dem sich überhaupt jemand um sie kümmert.

Es scheint schwer vorstellbar, dass jemand die Notaufnahme als einen Ort des Trostes und der Gemeinschaft betrachtet, doch gerade das erleben wir jedes Jahr an Weihnachten. Die meisten Menschen wollen diese Tage zu Hause oder mit Angehörigen und Freunden verbringen, und eine Fahrt in die Notaufnahme wäre für sie ein notwendiges Übel, das man nur auf sich nehmen würde, wenn man ernstlich krank oder verletzt wäre. Doch für einen großen und weitgehend unsichtbaren Teil unserer Gesellschaft ist das anders. Jahr für Jahr kommt bis zum späten Vormittag eine stetig steigende Zahl von Menschen zu uns, die eigentlich gar nichts bei uns zu suchen haben.

Sie haben niemanden, mit dem sie Weihnachten verbringen können, nur das Personal, das das Pech hat, an diesem Tag Dienst zu haben. Für diese Menschen gibt es keinen anderen Ort, an dem sie ein Weihnachtsessen bekommen könnten, auch wenn es noch so schlicht und bescheiden ausfällt. Und wenn man genauer hinschaut und sich vorstellt, was für ein Leben dieser Mann oder diese Frau wohl führt, und wenn man sich dann überlegt, was man sagen oder tun soll, dann kommt man ziemlich in Verlegenheit.

Es war zwei Uhr nachmittags an einem kalten, klaren Dienstag im Februar.

»Hallo, Rettungswagen 1, Ende.«

Ich erkannte Dentons Stimme und nahm das Krankenwagentelefon ab. Denton Roberts war einer der leitenden Rettungsassistenten des Notfalldienstes des Krankenhauses. Er war Mitte dreißig, intelligent und dynamisch, und man konnte sich auf seine Einschätzung der Lage verlassen. Er hatte ein paar Jahre lang studiert und sogar daran gedacht, Arzt zu werden. Doch kaum hatte er mit der Arbeit als Rettungsassistent begonnen, wusste er, dass er seinen Platz gefunden hatte.

»Rettungswagen 1, hier ist Dr. Lesslie, was gibt’s?«, antwortete ich.

Es knisterte kurz im Empfänger. »Dr. L., wir bringen einen 65-jährigen Mann mit Unterleibsschmerzen.« Dann eine kurze Pause. »Es ist Slim.«

Mehr brauchte er nicht zu sagen. Ich schaute mich um und prüfte, wo noch ein Bett frei war. »Bringen Sie ihn in Zimmer 2, Denton. Um wie viel Uhr kommen Sie voraussichtlich an?«

»In etwa fünf Minuten«, antwortete er. »Also Zimmer 2.«

Ich legte das Telefon in die Ladestation zurück.

Seit ich im Allgemeinen Krankenhaus Rock Hill arbeitete, war Slim Brantley einer unserer »Stammgäste«. Je nach Jahreszeit sahen wir ihn ein- oder zweimal pro Woche. Bei schönem Wetter verging manchmal ein ganzer Monat, bevor er einen Krankenwagen rief und uns besuchte. Wir befanden uns mitten in einem Kälteeinbruch, und dies war sein dritter Besuch innerhalb der letzten neun Tage.

Lori ging gerade mit einer Patientenakte in der Hand zur Schwesternstation.

»Wir erwarten wieder einen Freund«, informierte ich sie.

»Slim?«, riet sie und ordnete die Akte ein.

»Genau«, lachte ich. »Mal wieder.«

»Nun, es ist schon zwei Tage her. Also wird es wieder Zeit. Unterleibsschmerzen?« Sie kannte die Antwort.

»Bingo!«

Lori Davidson arbeitete seit sieben oder acht Jahren in der Notaufnahme. Sie hatte drei Kinder, einen Jungen und zwei Mädchen. Sie war ruhig und bescheiden und strahlte dabei so viel Zuversicht und Mitgefühl aus, dass die Patienten sofort ihre Nervosität verloren. Ich freute mich immer, wenn sie Dienst hatte.

»Ich mache das Zimmer für Slim fertig«, sagte sie.

Es gehört etwas dazu, den erhabenen Rang eines »Stammgastes in der Notaufnahme« zu erhalten. Nicht jeder erreicht diesen hohen Status. Wahrscheinlich hatten wir immer nur zehn oder zwölf Menschen, die sich zu diesem Personenkreis zählen durften. Einfach nur oft in die Notaufnahme zu kommen, bedeutet nicht, dass man Stammgast ist. Wir haben Medikamentenabhängige, die genau das tun und trotzdem keine Stammgäste für uns sind. Das ist etwas ganz anderes. Unsere Stammgäste kommen immer und immer wieder mit denselben Beschwerden in die Notaufnahme. Es kann sich um Unterleibsschmerzen handeln wie bei Slim oder um Alkoholprobleme oder Rückenschmerzen oder Krampfanfälle. Es kann alles Mögliche sein. Doch jeder unserer Stammgäste hat seinen eigenen einzigartigen Vorwand gefunden.

Zu unseren liebsten und häufigsten Stammgästen gehörte jahrelang eine Frau namens Sarah May. Sie war ein bisschen über 60 und lebte mit ihrer älteren Schwester zusammen. Irgendwann war sie zu der Überzeugung gelangt, dass ein Kräuterarzt, der in Rock Hill praktizierte (ich weiß nicht, ob er als Facharzt für dieses Spezialgebiet zugelassen war), eine Schlange in ihren Körper eingeschleust hatte. Jedenfalls war sie felsenfest davon überzeugt, dass eine Schlange in ihrem Bauch herumkroch. Sie krümmte sich immer auf der Krankentrage, rieb ihren Bauch und bat uns inständig, die Schlange aus ihr herauszuholen. Wie soll man mit so etwas umgehen? Jedes Mal kam sie im Krankenwagen in die Notaufnahme, meistens kurz nach Mitternacht. Die Rettungsassistenten riefen dann immer an: »Wir haben eine Frau ohne offensichtlichen Befund. Wir sind in der Pine Street 100.« Mehr brauchten wir nicht: Es war ihre Anschrift.

»Es ist wieder Sarah May«, dachte jeder. Eine Viertelstunde später wurde sie auf der Trage in die Notaufnahme gefahren.

Im Lauf der Jahre hat sich bei Sarah einiges geändert. Mehrmals hatte ich sie zur Untersuchung in eine psychiatrische Klinik in Columbia überwiesen. Doch nach ein oder zwei Wochen war sie immer wieder zu Hause. Dort gefiel es ihr ganz und gar nicht, und sie mochte es überhaupt nicht, wenn ich sie in eine psychiatrische Anstalt einliefern ließ. Offensichtlich gelang es den Ärzten dort genauso wenig wie uns, die Schlange aus ihrem Körper zu entfernen. Schließlich kam sie auf die Idee, in der Notaufnahme anzurufen, bevor sie den Krankenwagen rief.

»Hat Dr. Lesslie heute Abend Dienst?«, fragte sie die Sekretärin. Wenn diese bejahte, gab es eine kleine Pause, einen schwachen Seufzer, ein »Ach so …«, und dann legte sie auf. An diesem Abend besuchte sie uns nicht. Doch ansonsten kam sie sehr oft in die Notaufnahme, immer wegen dieser Schlange.

Aus irgendeinem Grund hatte Slim Brantley sich Unterleibsschmerzen als Vorwand gewählt. Oder vielleicht hatten die Unterleibsschmerzen auch ihn gewählt. Obwohl er unzählige Male gründlich untersucht worden war, konnte der Grund für die Schmerzen nie gefunden werden. Slim hatte jedoch eine andere wirkliche Krankheit. Zu viel Alkohol und drei Schachteln Zigaretten am Tag forderten ihren Tribut. Seine Lungenkapazität war gering, und er war sehr anfällig für Lungenentzündungen. In letzter Zeit hatte er auch Herzprobleme, die sich in periodisch auftretendem Herzrasen und Schwindelanfällen äußerten. All das war echt, seine Bauchschmerzen jedoch nicht. Sie waren seine Eintrittskarte in die Notaufnahme, wo er ein Bett bekam. Normalerweise erhielt er dann bald auch eine warme Mahlzeit. Nach ein oder zwei Stunden waren die Schmerzen vergangen, er fühlte sich wohler und konnte wieder nach Hause gehen.

Oft habe ich mich gefragt, wo Leute wie Slim wohnen. Eines Abends saßen Denton Roberts und ich in der Schwesternstation. Aus irgendeinem Grund kamen wir auf Slim zu sprechen, und Denton erzählte mir, wie er ihn einmal unter einer Brücke abgeholt hatte. Es war mitten im Sommer, und Slim hatte sich aus Kartons eine Art Unterstand gebaut. Aufgrund des Abfalls im Umfeld dieser improvisierten Behausung war ersichtlich, dass er sich mehrere Tage lang von Bohnen aus der Dose und billigem Fusel ernährt hatte. Ein anderes Mal hatte Denton ihn in einer Garage aufgefunden, wo er auf einem schäbigen Feldbett zwischen zwei kaputten Rasenmähern schlief. Der Hauseigentümer hatte ihm diese Unterkunft gegen ein paar Gelegenheitsarbeiten geboten, die Slim noch erledigen konnte.

Ich hatte keine Ahnung, was er tat, wenn es wirklich kalt war. Anscheinend hatte er ein paar Freunde, die ihn beherbergten, bis er ihnen auf die Nerven ging oder im Keller ein Feuer machte und sie ihn hinauswarfen.

Wir versuchten alles Mögliche mit Slim: Sozialamt, Wohlfahrtsorganisationen und mehrmals eine Entziehungskur. Einmal wiesen wir ihn sogar in eine psychiatrische Klinik ein. Doch alles war erfolglos. Es dauerte nie lange, bis er wieder in der Notaufnahme landete.

Und heute Nacht war er wieder unterwegs zu uns. Wir hatten viel zu tun, aber es würde nicht lange dauern, bis wir Slim untersucht und versorgt hatten. Doch gerade an diesem Punkt musste ich aufpassen. Wenn Medizinstudenten oder Assistenzärzte im ersten Jahr im Rahmen ihrer Ausbildung die Notaufnahme durchliefen, musste ich ihnen ständig einschärfen, dass auch unsere »Stammgäste« krank sein können und dass man bei der Diagnose genauso sorgfältig sein muss wie bei allen anderen Patienten, vielleicht sogar noch sorgfältiger. Auch ich muss mir das immer vergegenwärtigen. Die Versuchung ist natürlich groß, zu denken: Kennen wir schon …, und sich schnell anderen Patienten zuzuwenden, die wirklich Hilfe benötigen. Manchmal kann das verhängnisvoll enden. Das...

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