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Enthospitalisierung und Empowerment: Möglichkeiten von Sozialarbeit und Sozialpädagogik bei der Assistenz geistig behinderter Menschen

AutorJochen Amsink
VerlagDiplomica Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl105 Seiten
ISBN9783959342971
FormatPDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis34,99 EUR
Noch in den 60er Jahren wurden geistig behinderte Menschen als Schwachsinnige eingestuft und in Anstalten gesperrt, um sie außerhalb der Gesellschaft ignorieren zu können. Zogen sie doch Aufmerksamkeit auf sich, wurden sie in Psychiatrien verlegt und mit Medikamenten ruhiggestellt. Geistig Behinderten wurde kein Eigentum, keine Arbeit, keine Privatsphäre, kein Rückzugsort und kein Recht auf eigene Wünsche zugestanden. Um 1975 wurde beschlossen, dass geistige Behinderung eher ein Fall für heilpädagogisch-sozialtherapeutische Betreuung ist; Defizite sollten durch eine Sonderbehandlung ausgeglichen werden. Die Behinderten wurden nicht mehr weggesperrt, um die Gesellschaft vor ihnen, aber immer noch, um sie vor der Gesellschaft zu beschützen. Ab den 90ern kam in Deutschland der Gedanke der Normalisierung von Mikkelsen und Nirje an, der sich in Dänemark, Schweden und den Niederlanden bereits durchgesetzt hatte: Beeinträchtigte Menschen sollen ein Leben führen, das so normal wie möglich ist, was nur dadurch geschehen kann, wenn die dabei eingesetzten Methoden so normal wie möglich sind. Umgesetzt ist dieser Gedanke jedoch noch nicht so weit, wie er es sein könnte, was in diesem Buch genauer aufgeführt werden soll. Zudem zeigt es Möglichkeiten von Sozialarbeit und -pädagogik auf, das Empowerment geistig behinderter Menschen besser auszubauen und umzusetzen: für die Chance eines normalen Alltags, gestützt durch Begleitung und Assistenz.

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Leseprobe
Textprobe: Kapitel 6.1 Selbstbestimmung: Selbstbestimmung für Menschen mit einer geistigen Behinderung in möglichst vielen Bereichen des Lebens durchzusetzen und zu ermöglichen, muß die wesentliche Aufgabe der Behindertenhilfe werden. „Die Forderung nach Selbstbestimmung bezieht sich auf verschiedene Dimensionen menschlichen Zusammenlebens. Sie spricht ebenso scheinbar winzige Alltagserscheinungen an - etwa die Auswahl von Speisen, Kleidung oder den Zeitpunkt des Schlafengehens - als auch die großen Entscheidungen der Lebensplanung: Ausbildung, Beruf, Familienstand“ (NIEHOFF, 1997a, 59). Ähnlich argumentiert auch FRÖHLICH (vgl. 1996, 336f.).Er nennt acht Thesen zum Selbstbestimmten Leben. Selbstbestimmt leben heißt für ihn: 1 seine Grundbedürfnisse befriedigen zu können 2 im Fühlen und im Denken frei zu sein 3 sich selbst zu akzeptieren und zu vertreten 4 sich in der Begegnung mit anderen Menschen gleichwertig zu fühlen 5 seine eigenen Ziele verwirklichen zu können 6 ein Leben zu führen, in dem man frei ist, eigenverantwortliche Entscheidungen zu treffen, und in dem man sich für die daraus folgenden Konsequenzen entscheiden kann 7 in und mit der Gesellschaft zu leben 8 ein politisches Wesen zu sein. Diese Thesen stimmen mit den Forderungen des Empowerment überein, denn die Durchsetzung dieser Ziele wird die Selbstbemächtigung des Menschen ermöglichen und helfen, den eigenen Lebensbereich zu kontrollieren. Gerade im Wohnbereich ist es wichtig, Raum und Möglichkeit zu schaffen, wo selbstbestimmt gehandelt werden kann. „Selbstbestimmt leben bedeutet auch Umweltkontrolle. Die eigene Wohnung ist noch immer für die meisten Menschen der Bereich, in dem sie Kontrolle ausüben und selbst bestimmen können, mit wem sie welche Kontakte und in welcher Intensität pflegen wollen. Die Wohnung ist auch der Lebensraum zur Befriedigung intimer sexueller Bedürfnisse“ (Österwitz 1996, 203). „Erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung haben ihre unverwechselbare Persönlichkeit entwickelt und bleiben im wesentlichen ‘unverändert’ - wie andere erwachsene Menschen auch“ (NIEHOFF 1997b, 10). Auch wollen Menschen mit einer Behinderung nicht immer und ständig etwas lernen müssen und den Erwartungen nach Persönlichkeitsveränderungen ausgesetzt sein, sondern sie wollen, wie jeder andere Mensch auch, zunächst einmal so akzeptiert werden, wie sie sind. Auch für schwer- und schwerstbehinderte Menschen kann selbstbestimmtes Handeln möglich sein. THEUNISSEN (1998a, 92) hat eine Auflistung von Erkundungsfeldern erstellt, mit deren Hilfe deutlich wird, daß auch die kleine’ Lebenswelt, in der der Mensch mit geistiger Behinderung lebt, Möglichkeiten der Selbstbestimmung bietet. Ich habe diese Liste als Anlage dieser Arbeit beigefügt. Die Erkundungsfelder bieten die Chance, jedem Menschen mit Behinderung Alltagserfahrungen zu verschaffen. Jedes Feld kann nahezu unendlich differenzierte Handlungen geteilt werden, so daß der Mensch mit Behinderung im Rahmen seiner Fähigkeiten selbstbestimmte, erfolgreiche Aktivitäten und Erfahrungen sammeln kann. Eine große Schwierigkeit besteht darin, die Grenzen der Selbstbestimmung abzustecken. Ein Übermaß an Fremdbestimmung bei zu viel Einmischung des Betreuers als auch grenzenlose Selbstbestimmung in Form von rücksichtslosem Egoismus bei überhaupt keiner Grenzziehung sind die Pole, in deren Mitte irgendwo das ‘richtige’ Maß gefunden werden muß. WALTHER (vgl. 1997, 77ff.) hat dazu den Begriff der Selbstverantwortung hinzugefügt, um anschließend einige Thesen anzubieten. Selbstverantwortung bedeutet, für sich, für die eigenen Angelegenheiten Verantwortung übernehmen zu dürfen und diese Dinge auch selbst tun zu dürfen. „Selbstverantwortung würde nach dieser Definition als erstes darauf verweisen, daß es um die Aufgabe des eigenen Lebensentwurfs geht, zweitens, daß für diese Aufgabe die Person selbst Zuständigkeit hat und drittens, daß die Instanz der Rechtfertigung wiederum nur das Selbst sein kann und nicht eine andere äußere Instanz“ (WALTHER 1997, 77). Mit der Forderung nach Selbstverantwortung sollen aber darum nicht die sozialen Bedeutungen von Verantwortung unterschlagen werden. Wenn das eigenen Handeln Auswirkungen auf andere hat, wird man sich für sein Handeln verantworten müssen vor den Anderen und vor sich selbst! Selbstverantwortung meint in erster Linie die Verantwortung und die Zuständigkeit für einen eigenen Lebensentwurf bei dem Handelnden. WALTHER schlägt für Begleiter (Assistenten) vor, daß deren Verantwortungsgefühl sich ausschließlich auf die Begleitung richtet. „Nicht der Person selbst und deren Lebensentwürfen soll unser Verantwortungsgefühl gelten, sondern der Tatsache, daß wir unsere Begleitungsaufgabe erfüllen, daß wir ausreichend Beratung, Unterstützung und Angebote bereitstellen, wie sie behinderte Menschen fordern. Wir sind verantwortlich für das Erfüllen unserer Aufgabe“ (WALTHER 1997, 78). Der Reibepunkt zwischen Selbstverantwortung des Menschen mit einer Behinderung und Verantwortung der Begleiter ist ein Problem, deren Lösung sich WALTHER mit fünf Thesen zu nähern versucht: (1) Mit der Ausübung von Selbstverantwortung verbunden ist die Bereitschaft, Risiken einzugehen. Jedes Handeln hat unüberschaubare Risiken, die ausgehalten werden müssen. Von daher kann der Begleiter Selbstverantwortung nur wegen der Risikovermutung nicht ablehnen (2) Selbstverantwortung muß sich nicht an vorhandenem Wissen orientieren. „Insofern Menschen Selbstverantwortung ausüben können, wird man ihnen immer auch einräumen müssen, daß sie - wie wir alle - auf der Grundlage ihres je eigenen Wissens- und Erfahrungshorizonts handeln (und Fehler machen dürfen)“ (WALTHER 1997, 79). (3) WALTHER trennt die Folgen der Selbstverantwortung, inwieweit sie den Handelnden selber treffen und andere Personen betroffen sind. Im Falle alleiniger Selbstbetroffenheit hat der Begleiter erst einmal keine Notwendigkeit, sanktionierend einzugreifen. Wer die Folgen seiner Fehler „ausbaden“ muß, hat die besten Lernchancen, denn er erlebt die Folgen selber. Die Verknüpfung Selbstverantwortung - Sebstbetroffenheit bietet die Chance eigener Kompetenz, Mächtigkeit und Würde. Das eigene Handeln hat Wirkung! Wem alle Risiken abgenommen werden, erlebt sich als ohnmächtig, inkompetent und wertlos. (4) Die wirklichen Grenzen von Selbstverantwortung treten da auf, wo bewußt Gefahren für Leib und Leben eintreten (können). Grundsätzlich hat der Mensch das Recht, sich zu schädigen (z.B. Rauchen, ungesundes Essen etc.), niemand lebt ewig und Genuß ist ein wichtiger Teil menschlichen Wohlbefindens. Es gibt aber extreme Grenzen, in denen der Handelnde Risiken eingeht, die er nicht überblicken kann (in die Steckdose greifen, Reinigungsmittel trinken, bei Rot über die Ampel gehen), deren Folgen er zwar ggf. sogar beabsichtigt, die aber irreversibel sind (Suizid) und häufig als „Ruf nach Hilfe“ gedacht sind. Das sind allerdings Situationen, in denen jeder Mensch, professioneller Helfer oder auch Außenstehender, eingreifen muß! Hier geht es nicht um Selbstbestimmung und Selbstverantwortung, sondern um Nothilfe. In diesen Situationen herrscht zusätzlicher therapeutischer Hilfebedarf, der vorher nicht erkannt wurde. (5) Sind andere Personen vom Handeln des einzelnen betroffen, ist die Lösung einfacher. Der Handelnde muß sich seiner Verantwortung stellen und mit Einschnitten der Selbstbestimmung rechnen: „..in der Auseinandersetzung mit dem anderen und der Abwägung des eigenen mit dem fremden Willen muß sich Selbstverantwortung einer sozialen Verantwortung, einer Mitverantwortung stellen. Dann werden Verträge gemacht“ (WALTHER 1997, 80). Selbstbestimmung ist von Selbständigkeit zu trennen. Selbständig bedeutet, etwas alleine zu regeln. Menschen mit Behinderung können bestimmte Dinge behinderungsbedingt nicht alleine regeln. Sie benötigen Assistent, bei der sie aber die selbstbestimmte Persönlichkeit bleiben dürfen! 6.2 Chancengleichheit und Gerechtigkeit sowie demokratische Partizipation: Der Empowerment-Gedanke beinhaltet aber nicht nur die Möglichkeit der Selbstbestimmung, sondern umfaßt auch die Forderung der Chancengleichheit und Gerechtigkeit für Menschen mit geistiger Behinderung. Im Gegensatz zu den körperlich Behinderten und anderen Benachteiligten, die selber intellektuell in der Lage sind, ihre Forderungen zu formulieren, haben Menschen mit geistige Behinderung gerade hier Probleme. Sie sind in der Lage, ihre eigene persönliche Lebenswelt zu gestalten. Doch wenn es darum geht, Chancengleichheit und Gerechtigkeit einzufordern, sind sie auf Hilfe angewiesen. Der Assistent, der gesetzliche Betreuer oder der Freund haben die Aufgabe, hier einzuspringen. Gerade der durch das Gericht eingesetzte Betreuer hat die Aufgabe, seinen Klienten auf dieser Ebenen zu vertreten. Das Betreuungsgesetz (BGB §1897 Abs. 1) fordert persönliche Betreuung für den zu Betreuenden. Als Vertreter hat er dafür zu sorgen, daß Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen, z.B. Treppen am Eingang zu öffentlichen Gebäuden, gestoppt werden. Hier ist eine Aufgabe für den professionellen Assistenten ,in der er seine Fachlichkeit zugunsten des Klienten nutzen kann. Um Diskriminierungen und Benachteiligungen zu erkennen, bedarf es z.B. guter Rechtskenntnisse. Zudem hat er die Aufgabe, für den Betroffenen passende Selbsthilfegruppen zu finden bzw. mit ihm zusammen aufzubauen, in denen er aufgeklärt wird, welche Rechte und Möglichkeiten er hat. Dazu gehört auch, ein Diskriminierungsverbot, wie es z.B. in den USA besteht, durchzusetzen. Die besondere Erwähnung im Artikel 3 des Grundgesetzes scheint nicht auszureichen, um Diskriminierungen zu verhindern (wie bereits erwähnt: die Gerichtsurteile von Kiel bzw. Köln). Ein Diskriminierungsverbot bietet die Möglichkeit, Benachteiligungen anzuzeigen, und somit Änderung einzufordern. Um ein solches Gesetz durchzusetzen, braucht man allerdings die Unterstützung der Gesetzgeber, die nur entsprechende Gesetze machen, wenn genug Druck erzeugt wird. Druck entsteht, wenn die Öffentlichkeit informiert ist und ein solches Gesetz fordert.
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