Seit der kommunikativen Wende im Fremdsprachenunterricht wird dem Lesen als Sinnentnahme mehr Aufmerksamkeit gewidmet. Lesen wird nicht mehr als ,,passive“ Fertigkeit betrachtet (vgl. Lutjeharms 2011, S.976). Das Verstehen von Texten setzt nicht nur Fähigkeiten zur Dekodierung von Buchstaben, Wörtern und syntaktischen Strukturen voraus, Texte zu verstehen heißt auch die Bedeutung und die Zusammenhänge zwischen Phrasen, Sätzen, Absätzen und Textteilen oder innerhalb eines ganzen Textes konstruieren zu können. In diesem Kapitel soll das zweitsprachliche Lesen als kognitiver und metakognitver Prozess im Hinblick auf die Lehrperspektive dargestellt werden. Dabei soll es nicht Ziel sein, den Leseprozess in L2 in seiner Vollständigkeit zu präsentieren, sondern Annahmen über das Lesen in L2 verständlich darzulegen, um einen Einblick in die Komplexität der Sprachverarbeitung zu gewähren. Zunächst wird dabei ein kurzer Überblick über die kognitiven Prozesse gegeben, die an der Konstruktion eines mentalen Modells und einer propositionalen Textbasis beteiligt sind. Danach werden aktuelle Studien vorgestellt, die entweder das Strategienbewusstsein und den wahrgenommenen L2-Lesestrategieneinsatz fokussieren oder die Steuerung und Kontrolle des L2-Leseprozesses thematisieren. Aus den beschriebenen kognitiven und metakognitiven Prozessen werden jeweils Empfehlungen für den fremdsprachlichen Leseunterricht abgeleitet.
Lesen ist kein passiver Wissenstransfer, sondern ein aktiver Prozess der Bedeutungskonstruktion. Um die Komplexität der Sprachverarbeitung beim Lesen fremdsprachiger Texte beschreiben zu können, bezieht sich die fremdsprachliche Leseforschung auf die psycholinguistischen Modelle zum muttersprachlichen Lesen. In Schnotzs (1994) Schema zum Textverstehen als dynamische mentale Modellkonstruktion sind verschiedene Ebenen des Textverstehens enthalten.
Abb. 1: Schema zum Textverstehen als dynamische mentale Modellkonstruktion
(Schnotz 1994: S.214)
In diesem Schema werden drei wichtige Aspekte des aktiven Prozesses dargestellt (vgl. Schramm 2006, S.25).
1. Das mentale Modell[1] wird von dem Leser aufgebaut.
2. Um das mentale Modell aufzubauen, braucht der Leser das Vorwissen (das inhaltliche, topic-spezifische Wissen und das Sprachwissen).
3. Der Leser braucht eine propositionale Textbasis zum Aufbau des mentalen Modells, die durch die Interaktion des Sprachwissens und des Textes erreicht wird.
1.1.1.1 Prozesse beim Aufbau eines mentalen Modells
Die Aktivierung von topic-spezifischem Vorwissen spielt eine sehr wichtige Rolle bei der Konstruktion eines mentalen Modells (vgl. Schramm 2006, S.26, Ehlers 1999, S.126). Die Grundthese lautet (s. auch Taylor 1979; Stevens 1982; Karcher 1988): Je mehr Hintergrundwissen ein Leser in Bezug auf den Inhaltsbereich eines Textes hat, desto mehr und besser versteht er (vgl. Ehlers 1999, S.126). Der positive Einfluss des Vorwissens wird in der L2-Leseforschung vor allem mit drei top-down-Prozessen in Verbindung gebracht: dem intendierten Inferieren, dem Elaborieren und dem Hypothesenbilden. Rickheit & Strohner (1990:533) definieren eine Inferenz als ,,die Bildung neuer semantischer Information in einem gegebenen Kontext“. Man unterscheidet intendierte Inferenzen, die zur Bildung der Textbasis dienen, und elaborative Inferenzen, die darüber hinausreichen. Intendierte Inferenzen können auf Wort-, Satz- und Diskursebene gebildet werden. Rickheit & Strohner (1990:537) führen entsprechende Beispiele aus verschiedenen Forschungsarbeiten auf:
- Auf Wortebene kann ein abstrakter Oberbegriff wie ,,Fisch’’ in einem bestimmten Kontext wie ,,The fish attacked the swimmer.’’ konkret spezifiziert und als ,,Hai’’ verstanden werden.
- Auf Satzebene ist beispielsweise die Inferenz von Werkzeugen (z.B. Kamera) bei einer genannten Tätigkeiten (z.B. Fotografieren) oder von naheliegenden Folgen (z.B. Verbrennen) von Ereignissen (z.B. ins Feuer werfen) untersucht worden.
- Auf Diskursebene ist u.a. von Interesse, ob im Text erwähnte Situationen (z.B. Gerichtsverhandlung) so vollständig inferiert werden, dass für die Situation typische Personen, die im Text nicht erwähnt werden (z.B. Rechtsanwalt), hinzugedacht werden.
Elaborative Inferenzen unterscheiden sich nach Mandl (1981:8) von intendierten Inferenzen dadurch, dass sie über den Text hinausgehen und diesen in Verbindung mit verschiedenen Wissensbeständen des Lesers bringen. Sie seien für das einfache Verstehen nicht unbedingt erforderlich, führten aber zu einem tieferen Verstehen. Wolff (1990:615) beschreibt in ähnlicher Weise Elaborationen als eine besondere Art von Inferenzen, ,,die den durch die Sprachstimuli vorgegebenen Verarbeitungsrahmen sprengen und deklaratives Sprach- und vor allem Weltwissen freisetzen, das weit über den Inhalt des Textes hinausgeht.” (Vgl. Schramm 2001, S.70)
Die inhaltliche Hypothesenbildung ist für die L2-Forschung von besonders großem Interesse, weil dabei unsicheres Wissen über die weiteren im Text enthaltenen Informationen generiert wird, das die Entnahme der propositionalen Gehalte erleichtert und die Aufmerksamkeit steuert. Sie geht von dem jeweils aufgebauten Textverständnis bzw. mentalen Modell aus und ist in der oben abgebildeten schematischen Darstellung des Lesens von Schnotz darum der Informationserwartung zuzuordnen, während Inferieren und Elaborieren direkte Prozesse zum Aufbau des mentalen Modells sind. Insofern beruht die inhaltliche Hypothesenbildung u.a. auch auf der durch Inferieren und Elaborieren in das mentale Modell integrierten Information (vgl. ebda., S.71).
Entscheidend ist also nicht nur, dass der Leser über das Wissen verfügt, dass er zum Verstehen des Textes benötigt, sondern dass er dieses Vorwissen auch tatsächlich aktiviert. Die Untersuchungen von Lee (1986) und Roller & Matambo (1992) lassen erkennen, dass die spezifischen Schwierigkeiten von L2-Lesern weniger im Abruf als vielmehr in der Aktivierung des Vorwissens liegen. Nach Bransford & Johnson (1972:724) zeigen die Ergebnisse, dass vorhandenes Vorwissen allein noch keine Hilfe beim Verstehen garantiert, sondern dass es dazu erst als semantischer Kontext aktiviert werden muss (vgl. Schramm 2001, S.76). Die Studie von Finkbeiner (2005) hat gezeigt, dass auf Interessen basiertes fremdsprachliches Lesen sowohl in der Schule als auch in der Freizeit relevant ist, da es über die Aktivierung von Elaborationsstrategien als Mediator zur Tiefenverarbeitung führt (vgl. Finkbeiner 2005, S.453).
Leserorientierte didaktische Maßnahmen zur Förderung inhaltlicher top-down-Prozesse können darin bestehen, vor dem Lesen das für das Thema eines Textes relevante Hintergrundwissen aufzubauen und vorhandenes Wissen zu aktivieren. Carrell (1988) schlägt dafür Verstehensinstruktionen und eine Reihe von prereading activities vor, wie vor dem Lesen Filme, Dias und Bilder zu zeigen, Besichtigungen zu machen, anschauliche Demonstrationen durchzuführen, die Lerner authentische Erfahrungen sammeln zu lassen, Diskussionen oder Debatten anzuregen, Rollenspiele zu initiieren oder Übungen zur Assoziation von Schlüsselwörtern bzw. –konzepten durchzuführen (vgl. Schramm 2001, S.73; Ehlers 1999, S.126). Diese Aktivitäten dienen der Vorentlastung. Die Vorentlastung zu einem Text ist sehr wichtig. Auf diese Weise werden die Lernenden gedanklich auf das Thema vorbereitet und durch den Einbezug ihres Vorwissens dazu motiviert, sich mit dem Text auseinanderzusetzen. Diese Phase kann mündlich oder schriftlich erfolgen.
Neben dem Aufbau neuen Wissens vor dem Lesen ist die Förderung der Hypothesenbildung der zweite entscheidende Punkt einer leserorientierten Didaktik in Bezug auf inhaltliche top-down-Prozesse. Westhoff (1987) hat für den DaF-Unterricht dazu eine Reihe von Übungsformen entwickelt. Beim sogenannten ,,Voraussagetext’’ wird die Lektüre in mehrere Abschnitte unterteilt. Die Lerner erhalten den Text nur abschnittsweise zum Lesen und werden danach jeweils aufgefordert, Hypothesen über dessen weiteren Inhalt zu bilden. Ähnlich verläuft die Arbeit mit dem ,,Anfang und Ende von Absätzen“. Die Lerner erhalten dabei einen Text, in dem nur die ersten und letzten Sätze der Absätze abgedruckt sind, und werden auch hier zur Hypothesenbildung aufgefordert. Unter ,,konzentrischem Lesen’’ versteht Westhoff das Lesen eines Textes in mehreren Runden, bei dem jeweils verschiedene Aspekte des Texts zur Hypothesenbildung genutzt werden. Erste Hypothesen lassen sich bereits aufgrund der Quelle, des Autors, des Umfangs und des Titels bilden und vergleichen. Im Anschluss daran betrachten die Lerner die ersten zehn Zeilen, Schlagzeilen, Zwischentitel sowie fettgedruckten Textpassagen und tauschen dann wiederum Hypothesen aus. Weitere...