Den Gegenstand der vorliegenden Arbeit bildet das klinische Risikomanagement. Dementsprechend gilt es, dessen Gestaltungsrahmen zu untersuchen, soweit es für die Entwicklung des Reifegradmodells von Bedeutung ist. Aus den gewonnenen Erkenntnissen sind Anforderungen an das zu entwickelnde Reifegradmodell abzuleiten.
Im ersten Abschnitt werden das Grundverständnis für den Begriff ‚Risiko‘ erarbeitet und die Risikoarten in kleinen und mittleren Gesundheitsorganisationen erläutert. Aufbauend auf diesen Erkenntnissen erfolgt im zweiten Abschnitt eine Einführung in das klinische Risikomanagement. Nach Erläuterung des Begriffs und des Nutzens wird der Entwicklungsstand des klinischen Risikomanagements analysiert. Im Hinblick auf die Formulierung der Anforderungen werden die ordnungspolitischen Rahmenbedingungen identifiziert und im dritten Abschnitt ausgewählte Referenzmodelle im Risikomanagement überblicksartig vorgestellt.
Der Begriff ‚Risiko‘ wird in sehr vielen Anwendungsbereichen unterschiedlich verwendet, weshalb er ein großes Bedeutungsspektrum aufweist. Im Folgenden wird daher zunächst der Begriff ‚Risiko‘ allgemein definiert und abgegrenzt. Anschließend werden Grundarten von Risiken in der Gesundheitsversorgung kleiner und mittlerer Gesundheitsorganisationen näher betrachtet, um einzuschränken, was klinische Risiken sind. Aufbauend auf dem Grundverständnis von klinischen Risiken erfolgt die Betrachtung des Begriffs ‚Patientensicherheit‘.
Die Begriffe ‚Gefährdung‘ (im Englischen hazard) und ‚Risiko‘ (im Englischen risk) werden nicht nur im allgemeinen Sprachgebrauch oft unterschiedlich verstanden, angewendet und definiert, sondern auch in der wissenschaftlichen Literatur. Dabei stellen sie jedoch streng genommen unterschiedliche Ausprägungen dar.[23] Hinzu kommt, dass für beide Begriffe eine semantisch korrespondierende Beziehung zum Begriff ‚Sicherheit‘ (im Englischen safety) besteht. Aus dieser Situation heraus ist für das Verständnis dieser Arbeit eine einführende Abgrenzung der drei genannten Begriffe notwendig.
Eine einheitliche terminologische Basis der Begriffe ‚Gefährdung‘, ‚Risiko‘ und ‚Sicherheit‘ liefert, zumindest für den Anwendungsbereich auf Medizinprodukte, die internationale Norm DIN EN ISO 14971.[24] Die genannten Begriffe werden in der Norm wie folgt definiert:
Gefährdung als „potentielle Schadensquelle“ (nach Kapitel 2.3)
Risiko als „Kombination der Wahrscheinlichkeit des Auftretens eines Schadens und des Schweregrades dieses Schadens“ (nach Kapitel 2.16)
Sicherheit als „Freiheit von unvertretbaren Risiken“ (nach Kapitel 2.24)
Die Übertragung der normbasierten Definitionen aus DIN EN ISO 14971 auf das folgende, selbst formulierte Beispiel soll in anschaulicher Weise die Begriffe Gefährdung, Risiko und Sicherheit erklären und ihre korrespondierende Beziehung abschließend verdeutlichen:
Von elektrischer Spannung geht für den Menschen eine generelle Gefährdung aus. Zum Beispiel in Form eines Stromschlags, aufgrund einer Berührung von elektrischer Spannung. Das Risiko eines Stromschlags, ausgedrückt in der Wahrscheinlichkeit einer solchen Berührung, ist in Abhängigkeit von der konkreten Situation größer oder kleiner. Durch technische, organisatorische und/oder personelle Maßnahmen kann jedoch die Wahrscheinlichkeit einer Berührung so weit verlässlich gemindert werden, dass der Mensch vor der elektrischen Spannung weitestgehend in Sicherheit ist. Ein zu akzeptierendes Restrisiko für eine Berührung von elektrischer Spannung wird jedoch immer bestehen bleiben.
Bislang wurden die oben genannten Begriffe sehr allgemeingültig betrachtet. Da der Schwerpunkt des zu entwickelnden Reifegradmodells auf dem klinischen Risikomanagement liegt, werden nachfolgend Grundarten von Risiken in Gesundheitsorganisationen näher beleuchtet.
Bei der Betrachtung und Systematisierung von Risiken können die aus der betriebswirtschaftlichen Sicht geprägten Funktionsbereiche einer Organisation herangezogen werden. Als allgemein geltende Beispiele seien das Personalmanagement, das Finanzmanagement oder das Marketing aufgeführt. Ein weiteres Unterteilen der Funktionsbereiche findet in vielen Organisationen statt.
In Anlehnung an DIN 13080[25] können Gesundheitsorganisationen, insbesondere kleine und mittlere, in drei klassische Hauptfunktionsbereiche gegliedert werden. Abgeleitet vom jeweiligen Funktionsbereich lassen sich verschiedene Einzelrisiken zu übergeordneten Risikoarten einer Gesundheitsorganisation zusammenfassen – die folgende Abbildung zeigt diese.
Abbildung 4: Klassische Funktionsbereiche und Grundarten von Risiken
Quelle: Eigene Darstellung.
Für das grundlegende Verständnis des klinischen Risikomanagements und des zu entwickelnden Reifegradmodells ist es wichtig, dass die oben genannten Risikoarten an dieser Stelle der Arbeit eindeutig voneinander abgegrenzt und definiert werden. Eine weitere Untergliederung der aufgeführten Risikoarten ist möglich und bei größeren Gesundheitsorganisationen durchaus sinnvoll. Die Gliederungstiefe lässt sich somit nicht allgemeingültig bestimmen, sondern ist an die jeweiligen Bedürfnisse der Organisation anzupassen.
Die nachfolgend aufgezeigten Beispiele zu den Funktionsbereichen und Risikoarten dienen lediglich zum besseren Verständnis und stellen keine abschließende Aufzählung dar.
Betriebswirtschaftliche Risiken
Bezogen auf den Funktionsbereich „Verwaltung“ findet sich in der Literatur kein einheitliches Verständnis für den Begriff ‚betriebswirtschaftliche Risiken‘. Eine mögliche Herleitung kann aus § 91 Absatz 2 Aktiengesetz[26] erfolgen. Der Paragraph verpflichtet den Vorstand einer Aktiengesellschaft zu: „(…) hat geeignete Maßnahmen zu treffen, insbesondere ein Überwachungssystem einzurichten, damit den Fortbestand der Gesellschaft gefährdende Entwicklungen früh erkannt werden.“. Zu diesen bestandgefährdenden Entwicklungen „gehören insbesondere risikobehaftete Geschäfte, Unrichtigkeiten der Rechnungslegung und Verstöße gegen gesetzliche Vorschriften, die sich auf die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der Gesellschaft oder des Konzerns wesentlich auswirken.“.[27]
Beispiel: Liquiditätsengpass in Gesundheitsorganisationen infolge einer verzögerten Vergütung von bereits erbrachten Gesundheitsdienstleistungen.
Technische Risiken
Bezogen auf den Funktionsbereich „Technische Anlagen“ findet sich eine Definition für den Begriff ‚Technisches Risiko‘ beim Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe. Dieses definiert den Begriff ‚Technisches Risiko‘ als unerwarteten Ausfall von normal funktionierenden technischen Anlagen oder Einrichtungen. Infolgedessen kann es zu negativen Auswirkungen auf Gebäude, andere technische Anlagen, Personen oder die Umwelt kommen.[28]
Beispiel: Ausfall der primären Energieversorgung einer Gesundheitsorganisation. Im Gegensatz zu Krankenhäusern, werden in Organisationen der ambulanten Gesundheitsversorgung selten sekundäre Energieversorgungen (z.B. Notstromaggregate) vorgehalten.
Klinische Risiken
Bezogen auf den Funktionsbereich „Gesundheitsversorgung“ findet sich in der Norm DIN EN 15224 eine Definition für den Begriff ‚klinisches Risiko‘. „Das klinische Risiko bezeichnet jedes Risiko, das negative Auswirkungen auf die Ergebnisse einer der Qualitätsanforderungen haben könnte. Die Risikofaktoren könnten nichtklinisch sein, das Risiko wird aber als ein klinisches Risiko angesehen, wenn ein negativer Einfluss auf eine der Qualitätsanforderungen bestehen könnte.“
Der Zusatz ‚klinisch‘ bezieht sich dabei nicht hauptsächlich auf das Risikomanagement in Krankenhäusern (umgangssprachlich Kliniken), sondern soll vielmehr eine Abgrenzung zu anderen Betrachtungsbereichen des Risikomanagements schaffen. DIN EN 15224 definiert im Kapitel 3.1 den Begriff klinisch als „Kontext, in dem Patienten und Personal der Gesundheitsversorgung hinsichtlich eines Gesundheitsproblems aufeinander einwirken“. In der zugehörigen Anmerkung wird ergänzend formuliert: „Der Begriff „klinisch“ wird ungeachtet des Typs der beteiligten Dienstleistung, Organisationen oder Ebene der Gesundheitsversorgung benutzt.“
Beispiel: Unbeabsichtigte Verwechslung von Arzneimitteln, die entweder gleich aussehen (look-alike) oder gleich klingen (sound-alike).
In Bezug auf die dargestellten...