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E-Book

Erben des Holocaust

Leben zwischen Schweigen und Erinnerung

AutorAndrea von Treuenfeld
VerlagGütersloher Verlagshaus
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783641208677
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
»Es sind die kleinen Facetten des Furchtbaren, die so erschüttern.« (Andrea von Treuenfeld)
Welche Erfahrungen machten die Kinder jener Menschen, die den Holocaust überlebten? Wie prägend waren die Erinnerungen der Eltern an Flucht, Konzentrationslager und die ermordete Familie? Und was bedeutete deren Neuanfang im Land der Täter für das eigene Leben?
Andrea von Treuenfeld hat prominente Söhne und Töchter befragt. Marcel Reif, Nina Ruge, Ilja Richter, Andreas Nachama, Sharon Brauner, Robert Schindel und andere berichten von der Herausforderung, mit dem Ungeheuerlichen leben zu müssen.
Ein wichtiges und berührendes Buch!
  • Das Trauma des Holocaust und seine Folgen für die Zweite Generation
  • Die Nachkommen der Opfer brechen ihr Schweigen
  • Mit den Geschichten von Marcel Reif, Nina Ruge u.v.a.


Andrea von Treuenfeld, hat in Münster Publizistik und Germanistik studiert und nach einem Volontariat bei einer überregionalen Tageszeitung lange als Kolumnistin, Korrespondentin und Leitende Redakteurin für namhafte Printmedien, darunter Welt am Sonntag und Wirtschaftswoche, gearbeitet. Heute lebt sie in Berlin und schreibt als freie Journalistin Porträts und Biografien. Im Gütersloher Verlagshaus erschienen bereits ihre Bücher 'In Deutschland eine Jüdin, eine Jeckete in Israel', 'Zurück in das Land, das uns töten wollte', 'Erben des Holocaust', 'Israel. Momente seiner Biografie' und 'Leben mit Auschwitz'.

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Leseprobe

Ich war sechseinhalb, als die Klamotten gepackt wurden, und dann ging es nicht zur Oma nach Schlesien in die Sommerferien wie sonst immer. Sondern mit dem Zug und einem Schiff in eine völlig andere Welt. Die antisemitische Stimmung in Polen hatte sich verschärft, für meinen Vater war das sofort der Auslöser, das Land zu verlassen. Er hatte den Holocaust überlebt. Ich nehme an, er hat sich gar nicht gefragt, ob und wann er geht, sondern nur wie. Der Hausrat wurde verkauft, das Motorrad mitgenommen und weg.

Die Ankunft in Israel, 1956, daran hab ich sehr klare Erinnerungen. Erst waren wir bei Freunden meiner Eltern in winzigen Abstellkammern, nur um zu übernachten. Dann ging es nach Akko* in ein Barackenlager, feste Baracken auf rotem Sand. Unendlich viel roter Sand. Das Meer war nicht weit. Es war unfassbar heiß. Und dann war da noch ein Pappkarton, in dem waren Kartoffeln, ein paar Grundnahrungsmittel und Kaugummis. Wenn man die kaute, waren sie rötlich und hatten einen bestimmten Geschmack. Diesen Geschmack werde ich nie, nie vergessen.

Wir hatten Verwandte in Tel Aviv, Tante, Onkel und Cousine, sodass es wenigstens Anknüpfungspunkte gab. Dann fand sich eine Wohnung, ein Schuster gab uns einen Unterschlupf in einem weißen Haus mit kleinem Innenhof. Sicher keine Villa, aber immerhin ein festes Haus. Zu dem fahre ich noch heute immer wieder hin. Ich weiß nicht, warum. Es liegt in der jetzt arabischen Ecke, Richtung Jaffa*, aber eher landeinwärts, Richtung Florentin*. Das war sehr orientalisch, ist es heute noch. Ich fand das aufregend. Da war ein Kolonialwarenladen in einer unbefestigten Straße und drinnen gab es alles. Auch einen Geruch – nein, tausend Gerüche, die kann ich gar nicht beschreiben. Die sind fest gebrannt in meine Erinnerung.

Mein Vater konnte, wenn überhaupt, nur ganz wenig Ivrit*. Aber in Israel gab es damals sehr viele Jeckes*, und daher kamen meine Eltern gut über die Runden. Mein Vater sprach Jiddisch, meine Mutter nicht, sie war Katholikin, aber sie verstand es. Sie war eine Warschauerin, zwitscherte dieses Wellensittich-Polnisch, wunderschön. Die Madame und mein Vater, die beiden feinen Pinkel, gerieten in Tel Aviv in dieses Viertel.

Ich kam in die Grundschule ohne ein Wort Hebräisch. Es wurde ein fürchterliches Desaster. Absehbar, eigentlich. Bis heute verstehe ich nicht, was da bei meinen Eltern im Kopf vorging. Sie nahmen mich wieder raus, und ich wurde nach Jaffa geschickt in ein Internat belgischer Mönche, Unterricht in Französisch oder Flämisch. Ich konnte beides nicht. Ich will das nicht so hoch hängen, aber in dieser Ecke bin ich traumatisiert. Ich fahre heute da hin, das Gebäude steht zwar noch, aber was da drin ist, kann ich mir nicht vorstellen. Ich drehe mich um, sehe den kleinen Platz, an dem mein Vater mich Freitagabend abholte. Einen Falafel*-Stand gab es da und einen mit Sabres*. Und dann guck ich wieder auf die Schule, guck durch das Gitter – so lange, bis jemand fragt: »Was wollen Sie hier?« Da ist nichts. Nur ein schwarzes Loch, völlig schwarzes Loch. Deswegen sage ich, traumatisiert. Es war nicht etwa Kindesmissbrauch. Aber es hatte etwas von Kindesmisshandlung.

Ich bin in Waldenburg geboren, Niederschlesien. Wir – meine Schwester ist drei Jahre jünger als ich – verbrachten die Hälfte des Jahres bei meiner großartigen Oma und der wundervollen Urgroßmutter in Schlesien auf dem Land, phantastisch. Meine Eltern waren in Warschau, die kamen an den Wochenenden. Als ich schulpflichtig wurde, ging es dann vorwiegend nach Warschau. Das war alles sehr harmonisch, Kindheit war schön.

Großväter gab es nicht. Der katholische Großvater, Vater meiner Mutter, hatte offenbar Westsender gehört und wurde auf der Straße verhaftet. Und nie wieder gesehen. Meine Urgroßmutter wurde immer sehr, sehr traurig, wenn das Thema auf ihren Sohn kam. Sie wurde älter, dementer, aber sie blieb immer hinreißend. Zum Schluss so groß wie eine peruanische Mumie. Aber wenn sie meine Hand nahm, wusste ich, jetzt kann mir nicht viel passieren. Sie hat mich immer getröstet, bei Liebeskummer und ähnlichen Katastrophen. »Ich bin dir gut« war eine Formulierung von ihr, eine alte wunderschöne Formulierung.

Auch der väterliche Großvater hat dieses Tausendjährige Reich nicht überlebt. Ich glaube, Auschwitz*. Aber ist mir nicht wichtig, wo. Ich bin auch nie in Auschwitz gewesen. Was soll ich da? Warum soll ich mir die Bilder angucken? Ich kann auch keine NS-Dokumentationen ansehen, da schalte ich sofort weg. Ich brauche die Anekdoten nicht, ich brauche die Bilder nicht. Die Leichenberge, da stelle ich mir vor, dass da obendrauf mein Großvater liegt. Ich weiß doch, was war. Das reicht mir. Da muss ich doch nicht noch hinfahren. Hat mich nie interessiert. Nie.

Wahrscheinlich habe ich mich als Kind gefragt, warum die anderen Großväter haben und ich nicht. Aber ich habe das verdrängt. Die Eltern habe ich schon mal gar nicht gefragt. Oder vielleicht doch, und ich glaube nicht, dass man mich belogen hat. Sie werden es mir homöopathisch beigebracht haben, altersgerecht. Und dann, mit zunehmendem Alter, wurde das Bild deutlicher: Die wollen nicht drüber sprechen. Es war so absolut. Es war völlig apodiktisch. Wie ein großes Haus, in dem es ein, zwei Räume gibt, die sind für dich als Kind sowieso verschlossen. Als ich erwachsen wurde und mich intensiver mit dem Holocaust beschäftigte, da war mir klar: Du wusstest es, oder du hast es geahnt, aber jetzt ist es klar, was da war. Und danach war es gut. Oder eben nicht gut. Aber damit hatte es sich.

Als ich acht war, gingen wir nach Deutschland. Weil es in Israel 50 Grad hatte und der Sand durch die Ritzen wehte. Das war Orient und nicht die Welt meiner Warschauer Mutter und des feinen Herrn Reif. Die wollten weder im Zelt leben noch mit Kamelen durch die Wüste reiten. Das muss für sie unerträglich fremd gewesen sein. Und in Deutschland waren inzwischen die Mutter meiner Mutter und ihre Großmutter und Freunde, enge Freunde. Deswegen war Deutschland eine Option und Amerika nicht. Dort hätten sie die Sprache nicht gekonnt, hatten auch kein Affidavit*. Sie wären sicher am liebsten direkt aus Warschau nach Deutschland gesiedelt. Aber das war völlig undenkbar, Kalter Krieg und Eiserner Vorhang. Also ging es nur über Israel. Ausreisen durften sie ja, die Polen waren froh, dass die Juden sich vom Acker machten – weg mit dem Pack! Außerdem: Ein anständiger Jude muss es ja wenigstens versucht haben!

Und dann war eben Deutschland das völlig natürliche Ziel. Außer man machte sich zu viele Gedanken. Aber mein Vater war Pragmatiker, dem war das Hemd näher als der Rock. Die Familie muss durchkommen, der Familie muss es gut gehen. Er hat gearbeitet wie ein Ochse, hat alles gemacht, um Geld zu verdienen. Und als er es geschafft hatte, hat er sich sehr wohl ein Auto geleistet, das ihm angemessen war. Und Hemden und Schuhe. Meine Mutter sagte immer: »Der hat einen Schuhtick«. Antwort: »Lass ihn, Mama. Ich finde, er sieht super aus.« Mein Vater, dem muss nichts Menschliches fremd gewesen sein. Er hat gern gelebt, in allen Dingen. Hat gut gegessen, gut getrunken, hat an allem Spaß gehabt. Ich kann mir vorstellen, warum der besonders viel Spaß hatte. Der hatte nachzuholen. Aber das ist natürlich Spekulation.

Mein Vater hat es nicht thematisiert. Nie. Es war kein Gesprächsthema. Das Thema Holocaust wurde bei uns nicht besprochen. Warum nicht? Das kann ich mir heute nur zusammenreimen. Es gab ja Juden, die klagten und redeten. Und es gab Juden, die haben es verschwiegen. Nicht aus Angst, sondern weil es ihre Art des Umgangs damit war. Mein Vater gehörte zu der zweiten Klientel. Dazu kam, dass die Entscheidung, nach Deutschland zu gehen, keine einfache war. Denn es gab die Nachfrage der anderen: »Warum ins Land der Täter? Das ist doch nicht euer Ernst!« Wenn du aber dahin gehst und hast zwei kleine Kinder, fragst du dich, was ist gut für deren Wohl. Entweder ich hänge denen einen Judenstern an und sage: »Ihr werdet jetzt euer Leben lang durch dieses Land marschieren und anklagen«. Oder ich sage: »Das Thema erspare ich euch, sodass ihr nicht in jedem Busfahrer, Müllkehrer und Arzt einen Täter sucht«.

Mein Vater schwieg also und meine Mutter war eine Mitbewahrerin der schrecklichen Geheimnisse. Die war verhaftet worden von meinem Vater, dieses Thema nicht vorwärtszutreiben. Sie machte oft mir gegenüber eine Handbewegung, die so viel bedeutete wie »Hör auf, du hast ja keine Ahnung, du weißt ja gar nichts«. Mir war klar, entweder wir machen mal eine Grundaufarbeitung oder ich nehme das als ein «Nicht dein Thema! Du verstehst es nicht, die Tragweite, also hör auf!« Ich hätte sagen können, dass ich es aber verstehen will. Habe ich aber nicht, weil ich ahnte, es würden Anekdoten des Grauens kommen. Würden Belege für das kommen, was ich wusste: Meine Großväter waren ermordet worden und auch viele andere Verwandte. Das reichte mir als Tatsache.

Nach dem Abitur erste Flugreise, erstes Mal wieder Israel. Ich komme an, bin bei meiner Cousine. Sie ist die Tochter einer Schwester meines Vaters, die, wie auch einer der Brüder, überlebt hat. Nach dem Krieg sind sie ganz schnell aus Polen weg und ins Gelobte Land.

»Heute Abend essen wir hier«, sagte sie nach meiner Ankunft, »da kommen Freunde und die würden den Sohn vom schönen Leon auch gerne sehen.« Mein Vater wurde »der schöne Leon« genannt. Ich hab frühe Fotos von ihm gesehen – zum Niederknien! Ein Beau. Und meine Mutter war eine bildschöne Blondine. Diese zwei wurden dann ein Paar im katholischen Schlesien! Und meine Großmutter war eine Betschwester jener Kategorie des Katholizismus, wie er in Sizilien, in Irland oder...

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