Sie sind hier
E-Book

Erinnerungskriege

Der Erste Weltkrieg, Österreich und die Tiroler Kriegserinnerung in der Zwischenkriegszeit

AutorOswald Überegger
VerlagUniversitätsverlag Wagner
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl304 Seiten
ISBN9783703009044
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis24,99 EUR
KRIEGSERINNERUNG DER ZWISCHENKRIEGSZEIT IN POLITISCH GOUTIERTEN BAHNEN Zur Heroisierung und Ästhetisierung des Krieges in Kunst, Dichtung und Geschichtsschreibung und der Prägung des Bildes vom 'gefallenen Helden'. In der Ersten Republik kommt es zu keiner wissenschaftlich-kritischen Auseinandersetzung mit dem Krieg. Die Erinnerung an die Kriegsjahre wird im zwischenkriegszeitlichen Österreich als zutiefst traumatisch empfunden. Mit der Kriegsgeschichtsschreibung befassen sich fast ausschließlich militärische Kreise, deren Abwehrhaltung gegen Schuldzuweisungen bald aggressiven Rechtfertigungspositionen Platz macht. Nicht genuin militärischen Aspekten wie sozialen oder ökonomischen Faktoren kommt lediglich marginale Bedeutung zu. Diese 'Offiziersgeschichtsschreibung' bewegt sich ganz im Rahmen der allgemeinen politischen Entwicklung der Ersten Republik und dem damit verbundenen 'ideologischen Mainstream'. Die schleichende konservative Restauration, die ab Anfang der zwanziger Jahre auch nachhaltige Auswirkungen auf das offizielle Geschichtsbild des Ersten Weltkriegs zeitigt, schafft das ideologische Fundament, das die öffentliche Kriegserinnerung in uniforme, stereotype und politisch goutierte Bahnen lenkt. Auch die Denkmal-Kultur, Filme und zahlreiche historischen Romane sind Ausdruck dieser Interpretation, in der Heroisierung und Ästhetisierung das Bild bestimmen und der getötete Soldat zum 'gefallenen Helden' wird. Oswald Überegger analysiert in diesem Buch die Konstituenten des Kriegsgeschichtsbildes in Österreich und Tirol in der Zwischenkriegszeit.

Kaufen Sie hier:

Horizontale Tabs

Leseprobe

2. Erinnerter Krieg und mediale Öffentlichkeit: Schlüsselmythen und -legenden im politisch-militärischen Kriegsdiskurs


Der am 3. November 1918 geschlossene Waffenstillstandsvertrag von Villa Giusti formalisierte die Niederlage der österreichisch-ungarischen Armee an der Südwestfront. Die Auflösung der Habsburgermonarchie verkörperte auch für breite Segmente der Tiroler Gesellschaft einen quasi „traumatischen Ort“1, der eine „katastrophische Krise“ nach sich zog, die „eine positive Konstitution oder Entwicklung historischer Identität“ verhinderte und die Möglichkeit ausschloss, „Identität auf einem werthaften Ereignis zu begründen, das im Zusammenhang mit der zu bewältigenden Krise geschehen ist“.2 Die Revolution stellte politische und gesellschaftliche Gewissheiten radikal und nachhaltig in Frage. Die künftige Regierungsform, die staatsrechtliche Zugehörigkeit Tirols (Österreich, Deutschland oder Freistaat) und die territoriale Integrität des Landes (Landeseinheit oder Brennergrenze) avancierten u. a. zu zentralen Fragen im regionalen politischen Nachkriegsdiskurs.3

Neben der Konfrontation mit den dringlichen politischen und gesellschaftlichen Problemlagen der revolutionären Umbruchsphase und des frühen Nachkrieges4 ordnete der im Krieg stattgehabte mentale Transformationsprozess allerdings auch die psychosoziale Konstitution der Gesellschaft neu. Umso erstaunlicher erscheint es, dass gerade diese für das Verständnis der Geschichte der Ersten Republik zentralen mentalen und psychosozialen Transformationsprozesse von der Geschichtsschreibung bisher – sieht man von der klassischen Frage nach der österreichischen Identität einmal ab – kaum thematisiert worden sind.5 Abseits der Diskussionen über politische, staatsrechtliche und gesellschaftliche Zukunftsfragen nahmen der auch auf regionaler Ebene als ‚Urkatastrophe‘ verortete Krieg und seine verarbeitende Deutung eine zentrale Position innerhalb der individuellen und kollektiven Erinnerung an eine – im wörtlichen Sinne – „gegenwärtige Vergangenheit“6 ein. Diese im frühen Nachkrieg omnipräsente jüngste (Kriegs-) Vergangenheit beförderte die Fragen nach der Schuld am Kriegsausbruch und seinem katastrophalen Ende an die Oberfläche und rückte gruppenspezifische Erklärungs- und Rechtfertigungsvarianten ins Zentrum, die sich nach der Logik unterschiedlicher Thematisierungs-, Bewältigungs-, Verdrängungs- und Tabuisierungsstrategien richteten. So verschiedenartig all diese Strategien auch gewesen sein mögen, wirkungsgeschichtlich analysiert kreisen sie um den Versuch, das Trauma des Krieges und der Niederlage auf ihre je eigene Art und Weise zu überwinden. Insofern zieht „traumatische Erfahrung“ immer „einen schweren Kampf um Interpretation“ nach sich. „Sie muß so gedeutet werden, daß sie Sinn macht, d. h. in die wirksamen Verstehens- und Interpretationszusammenhänge der praktischen Lebensorientierung paßt.“ Ein solcher Sinn werde dadurch geschaffen, so Jörn Rüsen treffend, „daß alles das an der traumatischen Erfahrung unterdrückt wird, was die Wirksamkeit und Sicherheit dieser Deutungsmuster gefährdet. Lebensnotwendige Sinnbildung über Traumata bedeutet zunächst einmal eine Verfremdung, ja Verfälschung von Erfahrung in der Absicht, mit ihr zu Rande zu kommen“.7 Diese Versuche zur ‚Historisierung‘ eines Traumas kennzeichneten insbesondere den konservativen politischen Diskurs, der den Krieg als Reaktion auf die als unangenehm empfundene Thematisierung der Verwerfungen des Krieges schon Anfang der 1920er Jahre als „alte verschollene Sache“8 oder als „alte Walze“9 bezeichnete.

Die als Überwindungsversuche traumatischer (Kriegs-)Erfahrung zu verstehenden und die (Kriegs-)Erinnerung manipulierenden Verformungsfaktoren gegenwärtiger Vergangenheit konstituierten mehrere, genau genommen vier große „Erinnerungsfiguren“10, die den öffentlichen politisch-militärischen Erinnerungsdiskurs der Zwischenkriegszeit dominierten, und die im Folgenden näher beleuchtet werden sollen. Es handelt sich um die vieldiskutierten Fragen nach Schuld und Unschuld im Rahmen der regionalen Kriegsschuld- und Dolchstoßdebatten, um den im Kontext der Wahrnehmungsverweigerung der Niederlage entstandenen Topos von ‚im Felde unbesiegt‘ und um die vor allem im militärischen Diskurs präsenten Anschuldigungen an die vermeintlich ‚undankbare Heimat‘.11 In Ergänzung zur Analyse dieser zentralen Nachkriegsmythen und -legenden geht es im Folgenden vor allem auch um die „Kritik, Kontrolle und Rückführung der Verformungen auf eine ursprüngliche Wahrnehmung und wirkliche Sachverhalte“, die Johannes Fried eindringlich als „das vordringlichste Ziel der geschichtswissenschaftlichen Memorik“ bezeichnet hat.12 Inwiefern basierte also der Gehalt der angesprochenen Topoi auf realen Gegebenheiten?

Die angesprochenen Erinnerungsfiguren nahmen in jeweils unterschiedlichen Interpretationsvarianten, in differenter Weise und Intensität eine zentrale Position innerhalb der verschiedenen Gruppengedächtnisse ein, die als parteipolitisch verortete milieu- und gruppenbezogene Funktionsgedächtnisse zu charakterisieren sind.13 Im Rahmen des sich als autoritatives öffentliches Gedächtnis14 etablierenden Funktionsgedächtnisses der auch noch nach 1918 hegemonialen katholisch-konservativen Tiroler Gesellschaftssegmente erscheinen die genannten Erinnerungsfiguren als Konsequenz einer kontrapräsentischen Erinnerung, die „von Defizienz-Erfahrungen der Gegenwart“ ausging und „in der Erinnerung eine Vergangenheit“ rekonstruierte, „die meist die Züge eines heroischen Zeitalters“15 annahm. Den zu Mythen und Legenden verdichteten Erinnerungsfiguren kam in dieser politischen Erinnerungsstrategie neben Rechtfertigungsabsichten zweifellos eine Orientierungsfunktion zu.16 Im Prinzip handelte es sich um „programmatische Erinnerungen“17, die – unter dem prioritären Ziel der Herrschaftslegitimierung und -sicherung infolge neuer Verhältnisse und veränderter Rahmenbedingungen – der Tradierung von Kontinuität, der Identitätsvergewisserung, der Stabilisierung einer althergebrachten politisch-kulturellen Ordnung und der Re-Etablierung eines konventionellen Wertehaushalts dienten. In diesem Sinne ist Gedächtnis „ebenso retrospektiv wie prospektiv: es beansprucht in der Gegenwart einen Bezug zur Vergangenheit für die Zukunft herzustellen“.18 Diese Praxis des kollektiven Erinnerns ist deshalb „eng verbunden mit kreativen Konstruktionsprozessen“. Wie Astrid Erll treffend schreibt, ist „das Gedächtnis weniger auf die Vergangenheit [ausgerichtet], als auf gegenwärtige Bedürfnisse, Belange und Herausforderungslagen von sozialen Gruppen oder Gesellschaften“.19

Im Rahmen einer erinnerungshistorischen Perspektivierung ist es demnach sinnvoll, zwischen verschiedenen öffentlichen Funktionsgedächtnissen (partei-) politischer Kollektive und gesellschaftlicher Milieus zu differenzieren, die sich sukzessive als „Leiterinnerungen“20 etablierten: auf der einen Seite das in erinnerungshegemonialer Weise sedimentierende (katholisch)-konservative Funktionsgedächtnis, dessen fundierende Erinnerungsfiguren die regionale Mythomotorik des vergangenen Krieges beherrschten; auf der anderen Seite mehrere nicht-hegemoniale kritisch-subversive Funktionsgedächtnisse21, von denen das sozialdemokratische den konservativen Deutungen wohl am entschiedensten entgegengesetzt war.

Der Weg hin zur erinnerungshegemonialen Bedeutung des konservativen Funktionsgedächtnisses vollzog sich in mehreren Phasen.22 Aufgrund der evidenten Aktualität des Themas und des großen Konfliktpotentials, das der Krieg damals noch darstellte, war die Konkurrenzsituation verschiedener Leiterinnerungen in der revolutionären Phase der unmittelbaren Nachkriegszeit am ausgeprägtesten. Mit zunehmender zeitlicher Distanz zum Krieg und infolge der Konsolidierung der politischen Verhältnisse gewannen die Interpretationen des konservativen Funktionsgedächtnisses in der Öffentlichkeit zunehmend an autoritativer Bedeutung und Wirkmacht. Die Vergangenheitskonstruktionen des austrofaschistischen Staates verliehen der heldisch verbrämten konservativen Deutung des Krieges schließlich mehr oder weniger den Status eines öffentlichen „Erinnerungsoktroi[s]“.23

Im Folgenden geht es um die mehrdimensionale Analyse jener Erinnerungsfiguren, die im politisch-militärischen Vergangenheitsdiskurs der Zwischenkriegszeit eine herausragende Stellung einnahmen. Dabei wird zunächst auf die konkrete inhaltliche Gestalt der Erinnerungsfiguren eingegangen; anschließend sollen die Deutungen der unterschiedlichen Gruppen-Funktionsgedächtnisse in Bezug zur jeweiligen Erinnerungsfigur analysiert werden, um die...

Blick ins Buch

Weitere E-Books zum Thema: Europa - Geschichte und Geografie

Faschistische Selbstdarstellung

E-Book Faschistische Selbstdarstellung
Eine Retortenstadt Mussolinis als Bühne des Faschismus Format: PDF

Unter dem italienischen Faschismus wurden südlich von Rom neue Städte in den ehemaligen Pontinischen Sümpfen gegründet. Diese faschistischen Retortenstädte verknüpften neue sozialpolitische Modelle…

Faschistische Selbstdarstellung

E-Book Faschistische Selbstdarstellung
Eine Retortenstadt Mussolinis als Bühne des Faschismus Format: PDF

Unter dem italienischen Faschismus wurden südlich von Rom neue Städte in den ehemaligen Pontinischen Sümpfen gegründet. Diese faschistischen Retortenstädte verknüpften neue sozialpolitische Modelle…

Faschistische Selbstdarstellung

E-Book Faschistische Selbstdarstellung
Eine Retortenstadt Mussolinis als Bühne des Faschismus Format: PDF

Unter dem italienischen Faschismus wurden südlich von Rom neue Städte in den ehemaligen Pontinischen Sümpfen gegründet. Diese faschistischen Retortenstädte verknüpften neue sozialpolitische Modelle…

Faschistische Selbstdarstellung

E-Book Faschistische Selbstdarstellung
Eine Retortenstadt Mussolinis als Bühne des Faschismus Format: PDF

Unter dem italienischen Faschismus wurden südlich von Rom neue Städte in den ehemaligen Pontinischen Sümpfen gegründet. Diese faschistischen Retortenstädte verknüpften neue sozialpolitische Modelle…

Spätmoderne

E-Book Spätmoderne
Lyrik des 20. Jahrhunderts in Ost-Mittel-Europa I Format: PDF

Der Sammelband „Spätmoderne" bildet den Auftakt zur Reihe „Lyrik des 20. Jahrhunderts in Ost-Mittel-Europa" und widmet sich zuvorderst osteuropäischen Dichtwerken, die zwischen 1920 und 1940…

Spätmoderne

E-Book Spätmoderne
Lyrik des 20. Jahrhunderts in Ost-Mittel-Europa I Format: PDF

Der Sammelband „Spätmoderne" bildet den Auftakt zur Reihe „Lyrik des 20. Jahrhunderts in Ost-Mittel-Europa" und widmet sich zuvorderst osteuropäischen Dichtwerken, die zwischen 1920 und 1940…

Weitere Zeitschriften

Baumarkt

Baumarkt

Baumarkt enthält eine ausführliche jährliche Konjunkturanalyse des deutschen Baumarktes und stellt die wichtigsten Ergebnisse des abgelaufenen Baujahres in vielen Zahlen und Fakten zusammen. Auf ...

bank und markt

bank und markt

Zeitschrift für Banking - die führende Fachzeitschrift für den Markt und Wettbewerb der Finanzdienstleister, erscheint seit 1972 monatlich. Leitthemen Absatz und Akquise im Multichannel ...

küche + raum

küche + raum

Internationale Fachzeitschrift für Küchenforschung und Küchenplanung. Mit Fachinformationen für Küchenfachhändler, -spezialisten und -planer in Küchenstudios, Möbelfachgeschäften und den ...

Demeter-Gartenrundbrief

Demeter-Gartenrundbrief

Einzige Gartenzeitung mit Anleitungen und Erfahrungsberichten zum biologisch-dynamischen Anbau im Hausgarten (Demeter-Anbau). Mit regelmäßigem Arbeitskalender, Aussaat-/Pflanzzeiten, Neuigkeiten ...

DHS

DHS

Die Flugzeuge der NVA Neben unser F-40 Reihe, soll mit der DHS die Geschichte der "anderen" deutschen Luftwaffe, den Luftstreitkräften der Nationalen Volksarmee (NVA-LSK) der ehemaligen DDR ...

VideoMarkt

VideoMarkt

VideoMarkt – besser unterhalten. VideoMarkt deckt die gesamte Videobranche ab: Videoverkauf, Videoverleih und digitale Distribution. Das komplette Serviceangebot von VideoMarkt unterstützt die ...

Euro am Sonntag

Euro am Sonntag

Deutschlands aktuelleste Finanz-Wochenzeitung Jede Woche neu bietet €uro am Sonntag Antworten auf die wichtigsten Fragen zu den Themen Geldanlage und Vermögensaufbau. Auch komplexe Sachverhalte ...