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E-Book

Eros, Wollust, Sünde

Sexualität in Europa von der Antike bis in die Frühe Neuzeit

AutorFranz X. Eder
VerlagCampus Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl536 Seiten
ISBN9783593439853
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis52,99 EUR
Regiert 'König Sex' die Welt? Und war das schon immer so? Wie gestalteten sich vor dem 18. Jahrhundert sexuelle Beziehungen vor, in und außerhalb der Ehe? Welche Probleme warfen Verhütung und Geschlechtskrankheiten auf? Wie ging man mit Prostitution und Pornografie um? Welche Möglichkeiten gleichgeschlechtlichen und queeren Begehrens und Handelns gab es in der Vormoderne? Dieses Buch gibt erstmals einen weitgespannten Überblick über die Geschichte der europäischen Sexualkulturen von der Antike bis zur Frühen Neuzeit. Anhand zahlreicher Beispiele und Quellen zeigt Franz X. Eder, dass das Sexualleben in früheren Jahrhunderten einen elementaren Stellenwert für das Zusammenleben von Paaren und Gemeinschaften, für die Selbst- und Fremdsicht der Individuen und für die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Ordnung hatte. Er spannt dabei den Bogen von der Politisierung und Sozialisierung des Eros in der griechisch- römischen Antike über den skeptischen Umgang mit dem Sexuellen im frühen Christentum und die ambivalente Sexualwelt des Mittelalters bis zu deren Regulierung und Disziplinierung während und nach der Reformation.Franz X. Eder ist Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien. Er forscht zur Geschichte der Familie, der Arbeitsorganisation und des Konsumierens, des Körpers und der Sexualität.Vorwort 7 1. Einleitung: Sexualität historisch erforschen 9 2. Regentschaft des Phallus: Griechische Antike 31 2.1 Eros und oikos 31 2.2 ?Prostituierte? und ?Pornografie? in der Polis? 47 2.3 Ein Himmel für Schwule und Lesben? 65 3. Infamia und pudicitia: Römische Antike 79 3.1 Koitus als Bürgerpflicht 79 3.2 Im Bordell und auf der Straße 107 3.3 Tribas, cinaedus und die Zweigeschlechtlichkeit 117 4. Wie der ?böse? Stachel in das Fleisch kam: Judentum und frühes Christentum 129 4.1 Damit Euch Satan nicht in Versuchung führt 129 4.2 Sodom und porneia 159 5. Widersprüchliche Sexualwelten: Mittelalter 173 5.1 Auf dem Weg zur Verkirchlichung: Bußbücher und erotische Rätsel 173 5.2 Ein ehlich weip soll die mynne regelmäßig vollziehen 183 5.3 Byzantinische, christlich-orthodoxe, muslimische und jüdische Sexualkulturen 225 5.4 Gemeine Frauen und öffentliche Bordelle 240 5.5 Schamlose Augen- und Ohrenlust 265 5.6 Die Sünde wider die Natur 277 6. Reformation und Disziplinierung: 15. bis 17. Jahrhundert 297 6.1 Fleischeslust - gerichtlich, anatomisch und philosophisch betrachtet 297 6.2 Von sündlichem Samen und unfletigem Fleisch - Reformatio vitae 317 6.3 Fornicatio, Übermächtigung und Geheimnisse der Frauen 338 6.4 Das Sexualleben der ?Wilden? und ?Ungläubigen? 358 6.5 Gottlose Hurenhäuser und Franzosenkrankheit 364 6.6 Blick- und Schamregime in Kunst und Literatur 399 6.7 Abscheuliche Sünder auf dem Scheiterhaufen 424 7. Ausblick 443 8. Literatur 445 Personen-, Orts- und Sachregister 511

Franz X. Eder ist Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien. Er forscht zur Geschichte der Familie, der Arbeitsorganisation und des Konsumierens, des Körpers und der Sexualität.

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Leseprobe
1. Einleitung: Sexualität historisch erforschen 'Jeder von uns ist demnach nur eine Halbmarke von einem Menschen, weil wir zerschnitten, wie die Schollen, zwei aus einem geworden sind. Daher sucht denn jeder beständig seine andere Hälfte. Soviele nun unter den Männern ein Schnittstück von jener gemischten Gattung sind, welche damals mannweiblich hieß, die richten ihre Liebe auf die Weiber, und die meisten Ehebrecher sind von dieser Art, und ebenso wiederum die Weiber, welche mannsüchtig und zum Ehebruch geneigt sind. Soviele aber von den Weibern ein Schnittstück von einem Weibe sind, die richten ihren Sinn nur wenig auf die Männer, sondern wenden sich weit mehr den Frauen zu, und die mit Weibern buhlenden Weiber stammen von dieser Art. Die Männer endlich, welche ein Stück von einem Mann sind, die gehen dem Männlichen nach. [...] Auf Ehe und Kindererzeugung dagegen ist ihr Sinn von Natur nicht gerichtet.' (Platon 2016: 25f.) 'O, nenn' es Liebe nicht! die Lieb' entfloh Zum Himmel ja, seit Wollust Liebe heißt, Als Liebe frische Schönheit kostet - roh Beschimpfend noch, wo gierig sie zerreißt; Stets nur bedenkend, wie sie schänd' und raube - Der Raupe gleich, die schwelgt im ersten Laube. Die Lieb' erquickt, wie Sonnenstrahl nach Wettern; Die Wollust wirkt wie Sturm nach Sonnenschein; Der Liebe Lenz prangt stets in frischen Blättern, Der Wollust Winter bricht vor Herbst herein. Die Lieb' hält Maß, die Lust hat nie genug; Die Lieb' ist Wahrheit ganz, die Lust ganz Lug.' (Shakespeare 1849: 151) Platon und Shakespeare brachten poetisch zum Ausdruck - der eine im Symposion (380 v. Chr.), der andere in Venus und Adonis (1593) -, was Menschen früherer Epochen an der Sexualität gleichzeitig faszinierte und erschreckte. Wie Platon empfanden sie das Sexuelle als eine Kraft, die den Menschen dazu brachte, sich mit dem anderen 'Schnittstück' zu vereinen und mit dem bzw. der Begehrten auf Dauer zusammen zu sein und Kinder in die Welt zu setzen. Damit erfüllten sie auch den gesellschaftlichen Anspruch an die Ehe und stabilisierten das soziale Gefüge. Für andere ging es primär um die körperliche Realisierung des Begehrens und die Lust an der ?Vereinigung? - beides in wechselnden Konstellationen. Nach Platon strebte Eros noch ein weiteres, ?höheres? Ziel an - eine ästhetische und ethische Lebensführung (Soble 2009: 107ff.). Shakespeare vertauschte die traditionellen Geschlechterrollen und ließ Venus als begehrende Liebhaberin und Adonis als verweigernden Geliebten auftreten. Durch den Tod des jungen Mannes fand die Göttin - und damit auch der Leser und die Leserin - allerdings zu keiner Erfüllung des Begehrens (Trapp 2003: 54ff.). Der englische Dramatiker machte auch deutlich, dass es bei sexuellen Kontakten häufig um Macht und Ohnmacht zwischen den Geschlechtern, aber auch zwischen sozialen Gruppen oder wie hier zwischen Menschen und Göttern ging. Mit der Gegenüberstellung von Liebe und Wollust - die eine zu Mäßigung und Wahrheit neigend, die andere zu Unersättlichkeit und Lüge führend - wies er zudem auf die dunklen Seiten des Sexuellen hin. Ohne den Einfluss von Gesetz, Norm und Disziplin käme es zur Zerstörung von Ehe und Familie und zur Untergrabung der gesellschaftlichen und politischen Ordnung. Mehr noch als bei anderen Emotionen verspürten auch die Menschen früherer Jahrhunderte, dass sie angesichts der sexuellen Begierde nicht immer 'Herr im eigenen Haus' (Freud 1940-1955: 11) waren - sei es, weil sich die Wollust gegenüber dem rationalen Denken und freien Willen durchsetzte, sexuelle ?Seitensprünge? das Gemeinwesen zerrütteten oder der unbezwingbare Geschlechtsdrang sogar die Gottesbeziehung bedrohte. Wenn Dichter, Theologen und Philosophen über die menschliche Sexualität nachdachten, stießen sie auf existentielle Fragen des Lebens und der Überwindung des Todes durch Fortpflanzung, der Überschreitung der eigenen Körperlichkeit, der Differenz von Eigenem und Fremdem/Anderem, der unmöglichen Verschmelzung zweier Menschen, der Differenz von Liebe und Sexualität und anderes mehr. Sie mussten sich mit Aggression und Gewalt, mit Schmerz und Leid ebenso wie mit Abhängigkeit und Unterwerfung beschäftigen, die mit manchen Sexualformen und -beziehungen einhergingen. Irritationen riefen auch die von der Moral abweichenden Erscheinungen des Sexuellen hervor. Zwar dachten die meisten Zeitgenossen bei Eros und Lust primär an sexuelle Beziehungen zwischen geschlechtsreifen Frauen und Männern, doch wussten sie auch, dass die ?fleischliche? Begierde zu gleichgeschlechtlichen und noch ?skandalöseren? Handlungen drängen konnte. Neben der vaginalen Penetration zwischen Mann und Frau mittels Penis kamen dann allenfalls weitere Körperregionen wie der Anus, die Hände und der Mund ins ?sexuelle Spiel?. Auch wenn die antiken, mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaften heteronormativ ausgerichtet waren, zeigten sich hier die Grenzen dieses Paradigmas. Nicht alle Menschen folgten der Norm, die zwei polare Geschlechter und ein sexuelles Verlangen vorsah, das nur auf das jeweils andere gerichtet war und am besten in eine lebenslange Paarbeziehung mündete. Jene Personen, die sich als geschlechtlich uneindeutig erwiesen oder durch nicht-heterosexuelle ?Taten? aus der Norm fielen, gerieten deshalb in die Fänge der Verfolgungs- und Bestrafungsapparate. An den Abweichungen zeigte sich allerdings auch, dass die moralische und strafrechtliche Bewertung devianter Sexualhandlungen davon abhing, welche Personen sie in welcher Situation und mit wem begingen. Zwischen Männern und Frauen herrschten dabei ebenso große Unterschiede wie zwischen Angehörigen verschiedener sozialer Schichten (Traub 2008: 23f.). All dies waren Gründe dafür, dass alle behandelten Gesellschaften das Sexuelle mehr oder weniger umfangreich regulierten, Vorgaben für erwünschte und verbotene Beziehungen und Handlungen machten und damit die Sinn- und Bedeutungsgebung sexueller Praktiken sowie die Ausformung sexueller Fantasien und Wünsche beeinflussten. Keine der Gesellschaften war dabei ausschließlich pro- oder antisexuell eingestellt, sondern versuchte die produktiven, nützlichen und erfreulichen Seiten des Sexuellen zu befördern und die gefährlichen, schädlichen und erschreckenden in Schach zu halten. Das soziale Konstrukt Sexualität Anders als heute wurde das Sexualleben in früheren europäischen Gesellschaften nicht primär als ein privates oder persönliches Verhältnis zweier oder mehrerer Personen (miss-)verstanden, sondern als ein elementares Regulativ der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Ordnung gesehen. Im ehelichen Koitus kumulierten die vielfältigen Ansprüche an die Sexualität. Mit der Heirat erwarben beide Geschlechter - bei Männern tolerierte man dies meistens auch schon zuvor - das Recht auf Geschlechtsverkehr, der dem Zeugen von Nachkommen ebenso diente wie der Bindung zwischen den Eheleuten. Durch die sinnliche Zuwendung und den regelmäßigen Koitus sollten Intimität, Liebe und Vertrauen entstehen und mit jenen für eine gemeinsame leibliche Beziehungskultur und die Beständigkeit der Ehe gesorgt werden. Die eheliche Beiwohnung hatte zudem die legitime Generationen- und Erbfolge zu garantieren und so den Anspruch auf Besitz und Rechte sowie die ?Altersversorgung? zu sichern. Funktionierende eheliche Sexualbeziehungen stabilisierten das sozioökonomische Gefüge und dienten in den höheren sozialen Schichten oft auch politischen Zielen, etwa der dynastischen Nachfolge, Erbansprüchen und der Weitergabe von Geburtsprivilegien. Für die Eheanbahnung existierten deshalb Sitten und Gebräuche, religiöse Riten, gesetzliche Bestimmungen und soziale Institutionen, die eine reguläre Eheschließung gewährleisteten. Eltern, ?Peer Group? und Gemeinde sollten unerwünschte sexuelle Kontakte vor der Ehe verhindern, Zuwiderhandlungen sanktionieren und devianten Personen zumindest mit Schimpf und Schande begegnen. In allen vergangenen Kulturen Europas kam der geschlechtlichen ?Vereinigung? der Eheleute die elementare Aufgabe zu, den Ehebund und die Familienbande zu stabilisieren, die Treue der Gatten zu gewährleisten und der außerehelichen ?Unzucht? entgegenzuwirken. Wo Liebe und Zuneigung bereits vor der Ehe aufkamen oder bei der Auswahl der zukünftigen Gatten sogar den Ausschlag gaben, bildete der eheliche Beischlaf samt Fortpflanzung einen der von Dichtern und Denkern gepriesenen Höhepunkte des ehrbaren und gottgefälligen Lebens. Wurden Ehen primär aus wirtschaftlichen oder politischen Gründen und ohne vorherige positive (Liebes-)Gefühle geschlossen, erwartete man, dass durch den Koitus das intime Band geknüpft oder zumindest ein ?kameradschaftlicher? Bund zwischen Mann und Frau gestiftet wurde (Wiesner-Hanks 2000: 256). Sexuelle Beziehungen sollten gemäß der Geschlechtscharaktere vor sich gehen. Bis zur endgültigen ?Verwissenschaftlichung? der Geschlechterdifferenz im 18. Jahrhundert erwiesen sich die psychophysiologischen Festschreibungen von männlichen und weiblichen Eigenschaften freilich als relativ offen (Flemming 2000; Fenster/Lees 2002; Farmer/Pasternack 2003; D'Ambra 2007). Die Humorallehre und ihre auf Säfte- und Temperaturniveaus aufbauende Zuteilung von männlichen und weiblichen Eigenschaften blieben anschlussfähig für die individuelle Lebenswelt, die Ernährungsgewohnheiten und den sozialen und medizinischen Umgang mit dem Körper. Nach der Säftelehre sollte der Mann in sexuellen Belangen grundsätzlich mit mehr ratio (Verstand und Vernunft) handeln, die Frau hingegen von der sensualitas (Gefühl und Triebhaftigkeit) bestimmt sein. Die christliche Moraltheologie unterstützte eine solche geschlechtertypische Determinierung des Menschen und brachte sie mit dem von Eva initiierten Sündenfall in Verbindung. Eine, wenn auch pointierte Einschätzung der Sexualität von Mann und Frau könnte demnach folgendermaßen lauten: Initiative, aktive und gleichzeitig ihrem Willen und der Vernunft unterworfene Männer handelten an - und nicht gemeinsam mit - ihren Frauen. Letztere waren dabei die eigentlichen Verführerinnen und wurden als von ihrer Wollust getriebene, passive ?Objekte? imaginiert (Halperin 1990: 29ff.; Karras 2003: 82). In Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit gestalteten sich die Diskurse und Praktiken der Sexualität allerdings komplexer, als dies die normativen Quellen suggerieren. Viele zeitgenössische Autoren und wenige Autorinnen wiesen darauf hin, dass die Geschlechter ambivalent oder sogar konträr zu diesen polaren Bildern agierten und die Realität entsprechend plural ausfiel. Berücksichtigt man die ganze Breite der überlieferten Text- und Bildgattungen, so stößt man allerorten auf Männer, die ihre sexuelle Begierde nicht unter Kontrolle hatten, und auf Frauen, denen im Sexualleben der ?zivilisatorische? Part zufiel. Gerade in Eheschriften wurden nicht die sexuelle Herrschaft und Dominanz des Mannes propagiert, sondern gegenseitige Rücksichtnahme und Toleranz gegenüber den Schwächen und Stärken des anderen gefordert (Schnell 2017: 329ff.). Macht und Herrschaft waren auch zentrale Kategorien in den sexuellen Beziehungen zwischen Angehörigen unterschiedlicher sozialer Gruppen und Schichten. Fanden sexuelle Kontakte über deren Grenzen hinweg statt, waren Faktoren wie Stand und Besitz, Ansehen und Abstammung, Geschlecht und Alter einer Person zu berücksichtigen. Aufgrund der Akkumulation sozialer, materieller und kultureller Kapitalien besaßen Männer dabei meist einen deutlich größeren Handlungsspielraum. Wenn Abhängigkeiten zwischen ?Sexualpartnern? existierten - sei es zwischen Hausvätern und Haushaltsmitgliedern, Ehemännern und Ehefrauen, Arbeitgebern und Gesinde, Besitzern und Sklaven, Siegern und Besiegten etc. -, so stieg die Wahrscheinlichkeit von sexueller ?Übermächtigung?, von ?Übergriffen? und Vergewaltigungen. Sexuelle und sexualisierte Gewalt gegenüber Frauen, Kindern, Unfreien, Gefangenen etc. gehört zu den strukturellen Eigenschaften von Gesellschaften, in denen Macht und Herrschaft ungleich verteilt waren - und ist nach wie vor ein wenig erforschtes Feld der Sexualitätsgeschichte. Heiratsverbote waren ein weiterer Grund, warum man manche Gruppen von legitimem Geschlechtsverkehr ausschloss - etwa Lehrlinge, Gesellen und Mägde während ihrer Dienstbotenzeit, Mönche und Nonnen, Fremde und Sklaven. Aufgrund des zentralen sozialen Imperativs sollten sexuelle Beziehungen und Kontakte von der griechischen Antike bis in die Frühe Neuzeit primär innerhalb der Institution der Ehe stattfinden - was allerdings nicht hieß, dass vor, außerhalb und neben der Ehe keine vielfältigen sexuellen Konstellationen existierten. Manche von ihnen wurden toleriert und akzeptiert, andere von religiösen und weltlichen Autoritäten verboten, verfolgt und bestraft oder zumindest durch schlechte Nachrede und Ehrverlust desavouiert. Die zahlreichen religiösen und weltlichen Ge- und Verbote konnten aber weder Männer noch Frauen davon abhalten, solche kurz- oder längerfristigen Beziehungen einzugehen. Handelte es sich um potentielle Heiratskandidaten oder Verlobte, so wurde dies als weniger gravierend angesehen. Ehebruch hingegen galt meistens als ein Kapitalverbrechen, das insbesondere dann streng bestraft wurde, wenn die Abstammung eines Kindes in Zweifel stand oder eine Ehe in die Brüche ging. Eine zwiespältige Sexualmoral zeigte sich allerdings, wenn außereheliche Sexualkontakte unterschiedlich sanktioniert wurden. In den Oberschichten pflegten nicht wenige Männer regelmäßigen Kontakt zu Hetären und Mätressen oder ?hielten? sich Konkubinen und Nebenfrauen. Solche Gewohnheiten brachte Männern der mittleren und unteren Schichten - und umso mehr den Frauen - üblen Nachruf, Schimpf und Schande ein oder konnte sogar die Existenz oder das Leben kosten. Prostituierte waren in aller Regel ebenfalls nicht gerne gesehen, gehörten aber - unter mehr oder weniger legalen Umständen - zum gängigen ?sexuellen Angebot?. Dabei war schon in der Antike bekannt, dass sie auch die Hauptquelle für die Verbreitung venerischer Krankheiten darstellten. In Populationen, in denen generell und früh geheiratet sowie nicht verhütet wurde, brachten Frauen während ihrer fertilen Jahre um die zwölf Kinder zur Welt - so die höchste, jemals gemessene durchschnittliche Kinderzahl bei amerikanischen Huttererfamilien (Coale/Treadway 1986: 34). Eine derart große Kinderschar war selbst für Gruppen, die auf familiäre Arbeitskräfte angewiesen waren, eindeutig zu hoch. Praktiken zur Vermeidung von Schwangerschaften kamen deshalb in allen hier untersuchten Gesellschaften zum Einsatz. Dies gilt auch für die Verringerung und Einstellung des Geschlechtsverkehrs ab einem bestimmten Alter. Bei vor- und außerehelichen Sexualkontakten spielte naturgemäß die Vermeidung von Schwangerschaften eine existentielle Rolle. Durch Abtreibungsverbote versuchten frühere Gesellschaften das Sexualverhalten ihrer Mitglieder ebenfalls mit der herrschenden sozialen, wirtschaftlichen und politischen Ordnung in Einklang zu bringen. Wie groß der Spielraum für soziale Inklusion oder Exklusion war, zeigte sich am Umgang mit nicht-heterosexuellen Praktiken und Begehrensformen. Hier reichte die Palette vom Hohelied auf die paiderastia im antiken Griechenland bis zur Verbrennung von 'Sodomiten' in der Frühen Neuzeit. Als ebenfalls umstritten erwies sich die moralische und gesetzliche Sanktionierung des erotischen Körpers und der ?pornografischen? Bilderwelt. Der historische Längsschnitt ergibt, dass die verschiedenen Sexualformen (Lautmann 2002: 171ff.) nur in Relation zueinander verstanden werden können. So gingen beispielsweise die Akzeptanz und Toleranz, aber auch die Verfolgung und Bestrafung gleichgeschlechtlicher Sexualakte mit jenen Normen einher, die man der ?normalen? Heterosexualität zwischen Mann und Frau zugrunde legte. So wurde gezeigt, dass Homosexualität (auch von der Geschichtswissenschaft) lange als eine Minoritäts- und ?Anti?-Kategorie der Heterosexualität essentialisiert und dabei übersehen wurde, dass innerhalb der Gruppe der 'Homosexuellen' große Differenzen nach Geschlecht, Alter und sozialer Zugehörigkeit sowie sexuellen Vorlieben und Verhaltensweisen existierten (Sedgwick 1990). Umgekehrt lassen sich die Spezifika und der Wandel der heterosexuellen Kultur nur nachvollziehen, wenn sie in Beziehung zu jenen Sexualformen gesehen werden, von denen man sie abgrenzte - also jenen Varianten, die jenseits der binären Geschlechter- und Sexualwelt bestanden, wie Hermaphroditen, Androgyne, ?Monster? und gleichgeschlechtlich begehrende Menschen. Im Dickicht der Begriffe Sprachgeschichtlich gesehen existierte bis zur Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert keine 'Sexualität', denn der Begriff war noch nicht geboren. Wie in den meisten Fällen markierte das Auftauchen eines neuen Wortes auch in diesem Fall die Entstehung eines Wissensbestandes oder 'epistemischen Dings' (eines Wissensobjektes). Dieses befeuerte die Forschung und Wissensgenerierung darüber weiter und kolonisierte in der Folge die menschliche Selbst- und Fremdwahrnehmung (Rheinberger 2006: 27ff.). 'Sexualität' erblickte um 1800 das Licht der Welt und bezeichnet seither einen eigenen, abgegrenzten Lebensbereich und die dazu gehörenden Phänomene, die primär von den Humanwissenschaften ausgearbeitet und kategorisiert wurden (Eder 2009: 14; Sigusch 2008: 46ff.). Von der Antike bis in die Frühe Neuzeit waren dagegen Worte in Gebrauch, die etwas anderes meinten, als die ganzheitliche ?moderne? 'Sexualität' konnotiert. Nomen und Verben wie eros (die sexuelle Liebe), Venerem iungere (sich nach Art der Venus verbinden), futuere oder p(a)edicare (vaginal oder anal penetrieren), ars amatoria (Liebeskunst), debitum conjugale (eheliche Pflicht bzw. Schuld), remedium concupiscentiae (Abhilfe des Verlangens) und libido (sexuelle Begierde), 'Wollust', 'Geschlechtstrieb', 'Begattungstrieb', 'Beischlaf', 'gebrauchen', 'beiwohnen' und 'fleischlich erkennen' sowie andere Begriffe bezeichneten nur einen, aus heutiger Sicht, partiellen Aspekt der 'Sexualität'. Zwar handelt dieser Band von der Zeit vor der 'Sexualität', und auch wenn es berechtigte Kritik an der konnotativen und assoziativen Kraft gibt, die mit diesem Begriff einhergeht (Swancutt 2007: 13ff.), wird er hier dennoch verwendet. In den Kultur- und Sozialwissenschaften finden sich für das 'Plastikwort' 'Sexualität' sehr unterschiedliche Definitionen (Swancutt 2007: 14ff.; Bromley/Stockton 2013; Schnell 2002: 79f.; Lautmann 2002: 19ff.), die letztlich auf kontroversen Konzepten und Theorien beruhen (Horley/Clarke 2016; Sigusch 2013: 19ff.). Dieser Band beruht auf einer ?weiten? Definition von 'Sexualität': Anthropologisch betrachtet gehört Sexualität zu den ?Grundbedürfnissen? des Menschen, geht dabei allerdings über die Naturnotwendigkeit der Fortpflanzung hinaus und ist nicht wie bei Tieren instinktiv determiniert. Unter 'Sexualität' werden alle mit dem Geschlechtsleben bzw. der sexuellen Begierde zusammenhängenden Erscheinungen verstanden - wie Begriffe, Ideen, Wissen, Begierde, Orientierung, Fantasien, Erfahrung und Praxis. Die sexuellen Akteure bedienen sich kulturell geprägter Kategorien, Vorstellungen und Wahrnehmungsformen, um die Psychophysis im Zeichen der 'Sexualität' zu erfahren, zu beschreiben und mit Bedeutung und Sinn zu versehen. Dabei konstituiert sich die 'Sexualität' in der Praxis immer auch durch Performanz und Erfahrung. Der hier verwendete Sexualitätsbegriff umfasst also Begehren/Begierde, Diskurse, Praxis, Erleben, Sprechen, Gefühle/Emotionen, Handlungen, Körper und Trieb (Eder 2009: 15f.). Er meint sowohl die diskursive Herstellung all dessen, was eine Zeit mit dem Geschlechtsleben in Zusammenhang brachte, als auch die entsprechende Praxis, die nicht-diskursive Anteile besaß. Die sexuellen Akteure waren/sind in ihrem Begehren, Sprechen und Handeln den soziokulturellen Codes unterstellt, können sich aber - etwa aufgrund andersartiger Erfahrungen und ambivalenter Wissensformen - gegen deren Vorgaben entscheiden. Fast hinfällig ist es angesichts einer solchen Definition, all jene Großkategorien außer Kraft zu setzen, die seit dem 18. und 19. Jahrhundert mit dem 'Sexualitäts'-Begriff verbunden sind und in den letzten Jahrzehnten von der Wissenschafts- und Wissensgeschichte dekonstruiert wurden: also essentialistische Kategorien wie 'Hetero-/Homo-/Bisexualität', die Zuschreibung von Identitäten wie 'Homosexuelle/r', die Naturalisierung der 'Heterosexualität' und 'Heteronormalität', die Polarisierung von Körpergeschlecht (sex) und kulturellem Geschlecht (gender) oder die Attribuierung von universellen bzw. biologischen Wesensarten von Mann, Frau und Anderen (Ingraham 2005; Schultz 2006; Lochrie 2011: 37ff.; Traub 2016: 13ff.). Die Begriffe 'Begierde' und 'Begehren' werden in diesem Band synonym eingesetzt. In kulturwissenschaftlichen Zusammenhängen wird ersteres meist verwendet, um die körperliche Energie oder Triebkraft, den 'Sexualtrieb', in den Vordergrund zu rücken. Mit 'Begehren' wird hingegen der Prozess der kulturellen Signifikation erotischer oder sexueller ?Objekte?, seien es nun Menschen, Bilder oder Dinge, bezeichnet. Beide Termini verweisen auf Fantasien bzw. Fantasmen und die damit einhergehenden Gefühle, Emotionen und Affekte, die aus dem Körper und der Psyche stammen. Dabei geht der Drang vom Körper und seinen 'Durchgängen' zwischen Innen und Außen, von seinen erogenen Zonen aus, von Vagina, Vulva, Klitoris, Penis, Brustwarzen, After, Mund, Nase, Auge, Ohr und Haut (Verhaeghe 2003: 180). Orientierung und Ziel sowie die anvisierten ?Objekte? und deren bildliche, textuelle und dingliche Repräsentationen resultieren aus der kulturellen Zuschreibung (Walker 2017: 9f.). (Sexuelle) 'Begierde' und 'Begehren' äußern sich als Absenz, Fehlen und Mangel, ohne eine Praxis und Qualität sowie eine Richtung und Intensität des Erlebens bei der Beseitigung derselben eingeschrieben zu haben. Mit dem teilweisen Erreichen des begehrten Ziels und der scheinbaren, weil nie vollkommenen oder gänzlichen Realisierung der Phantasmen ist eine Befriedigung verbunden, die das Drängen für eine gewisse Zeit schwinden lässt, um danach wieder anzuschwellen. Nach Jacques Lacan geht das menschliche Begehren von einem Subjekt aus, das sich seit seiner In-die-Welt-Setzung bei der Geburt und der Trennung von der Mutterbrust als unvollständig empfindet und diesen Mangel durch ?Objekte? auffüllen möchte - ohne allerdings jemals den Ur-Zustand wiederherstellen zu können oder eine tatsächliche Verschmelzung mit dem Begehrten zu erreichen. Der oder das ?Andere? bleibt weiter ein ?Objekt? des konstanten Dranges und gibt uns gleichzeitig die Fähigkeit zu sexuellem Begehren und zur Liebe (Widmer 1997: 87ff.). Laut Lacan umfasst das Begehren zwischen Menschen - samt der erotischen und sexuellen Bilder, die sie sich voneinander machen - eine oft unterschätzte soziale Dimension: Mit dem gerne zitierten Satz 'das menschliche Begehren ist das Begehren des Anderen' weist er darauf hin, dass das Subjekt nur begehrt bzw. begehren kann, wenn es den Anderen bzw. das ?Objekt? als begehrend erfährt (?i?ek 2008: 59ff.). So erleben wir im körperlichen Zusammenspiel, wie Niklas Luhmann meint, 'dass man über das eigene Begehren und dessen Erfüllung auch das Begehren des anderen begehrt und damit auch erfährt, daß der andere sich begehrt wünscht' (Luhmann 1982: 33). Wie andere Begehrensformen kann das sexuelle Begehren von einem ?Objekt? zum nächsten ?wandern?. W. J. T. Mitchell hat gezeigt, dass es nicht von der ?Bilderfrage? getrennt werden kann, denn der erotische und sexuelle Drang erzeugt materielle und mentale Bilder und umgekehrt - unser Begehren findet jene Objekte, die das kulturelle Zeichensystem (mittels Sprache und Bildern) zur Verfügung stellt. In Ovids Pygmalion-Mythos erfüllt sich dieses Phantasma archetypisch in beide Richtungen: Aufgrund seiner schlechten Erfahrungen mit Frauen lebte der Künstler Pygmalion nur mehr für seine Bildhauerei. Er schuf eine idealtypische weibliche Elfenbeinstatue, in die er sich verliebte. Er bat Venus, die Göttin der Liebe, um eine Frau, die der Statue gleiche. Als er später die Statue liebkoste, erwärmten sich ihre elfenbeinernen Lippen und sie wurde lebendig. Pygmalion konnte sie zur Frau nehmen (Mitchell 2008: 78ff.). Durch Pygmalions Augen gesehen ist für sexuelle Fantasien und masturbatorische Befriedigung kein realer Anderer ?vonnöten?, sondern nur ein Begehren, das an dessen erotische oder pornografische Versprechungen glaubt. Bei den Begriffen 'Erotik' oder 'erotisch' - beide im späteren 18. Jahrhundert aus dem Französischen entlehnt (Schulz/Basler 1995, Bd. 5: 221ff.) - tritt das geschlechtlich-genitale Moment des Sexualitätsbegriffs in den Hintergrund, ohne dieses gänzlich auszuschließen. Im Mittelpunkt steht vielmehr der imaginierte Weg hin zur Sexualität. Zudem spielen Liebesgefühle und die emotionale An- und Erregung durch den begehrten Körper eine zentrale Rolle. Erotische Attraktion mag sinnlich auf den Körper eines/einer Anderen, manchmal auch den eigenen gerichtet sein, ohne dabei auf eine unmittelbare sexuelle Realisierung abzuzielen. Platonisch-freundschaftliche Liebesbeziehungen - ungeachtet ob gleich- oder gegengeschlechtlich - mögen durch erotisches Begehren angetrieben werden. Sie verwirklichen sich in der Praxis jedoch nicht unbedingt im genitalen Akt, sondern durch erregende und lustvolle Berührungen etwa der, nicht unmittelbar genitalen, ?erogenen Zonen? (Andreadis 2008: 254ff.). Im Versuch, das sexuelle Begehren im Geschlechtsverkehr zu realisieren, zeigt sich auch, dass das Fantasma des begehrten Körpers und der Verschmelzung mit diesem nie von der tatsächlichen körperlichen Kommunikation eingeholt werden kann. Aus der Täuschung und Enttäuschung dieser Realitätserfahrung speisen sich unzählige Mythen und Narrative. Etwa die Geschichte des 'Bettschwindels', bei dem ein Paar gemeinsam eine Nacht verbringt und am nächsten Tag einer der beiden erkennt, dass er bzw. sie mit der falschen Person oder sogar mit einem Betrüger, einer Betrügerin das Bett geteilt hat. Bei diesem Plot geht es nicht nur um die Frage, ob der intime Körperkontakt zu einer Kenntnis oder gar Erkenntnis des Anderen führt, sondern auch darum, was am anderen Körper eigentlich begehrenswert ist, ob er austauschbar ist, ob die Liebe oder der Leib im Vordergrund stehen und ob das sexuelle Handeln auf Wahrheit oder Lüge basiert. Die durch sexuelles Handeln erfolgte Transformation des ?Partners? gehört zu den Grunderfahrungen, die viele Menschen teilen. Die Religionshistorikerin Wendy Doniger formulierte es folgendermaßen: 'Manchmal gehen wir mit einem Tier ins Bett und wachen mit einem Gott auf. Das heißt, wir gehen relativ indifferent ins Bett und wachen durch Sexualmagie verzaubert auf.' (Doniger 2000: 3) Lust, Verlangen, Begehren, Geilheit, Begierde, Erregung, Orgasmus, Verschmelzen, Befriedigung, Erfüllung - diese und andere Bezeichnungen für sexuelle Gefühle bzw. Emotionen ließen sich durch eine unüberschaubare Zahl von umgangssprachlichen, poetischen und literarischen Be- und Umschreibungen erweitern, die das Erleben vor, bei und nach sexuellen Handlungen zu erfassen versuchen. Weniger umfangreich wäre wohl eine Aufzählung all jener Begriffe, die ?negative? sexuelle Emotionen bezeichnen. Die Sexualitätsgeschichte bewegt sich damit auf einem Terrain, das in den letzten zwei Jahrzehnten einen regelrechten Boom erlebt hat: der Geschichte der Gefühle (Frevert 2009; Schnell 2015; Liliequist 2016). Zunächst stand dabei eine wenig fruchtbare Debatte über Universalismus versus Sozialkonstruktivismus im Mittelpunkt. Erstere Richtung behauptet, dass unsere Gefühle durch neurochemische Vorgänge erzeugt werden und damit weitgehend unbeeinträchtigt von kultureller Signifikanz bleiben. Beispielsweise empfinden wir massiven körperlichen Schmerz als solchen, egal mit welchen Worten und Bildern wir ihn ausdrücken. Soziale Konstruktivisten nehmen im Gegensatz dazu an, dass der Gefühlshaushalt unterschiedliche Ausprägungen erfahren kann und die Gefühlskategorien wie auch das emotionale Erleben veränderbar sind. Als Beispiel wird häufig die Geschichte des Schamgefühls genannt, denn offensichtlich veränderte sich dieses mit den ?Brüchen? in der Schamkultur von der griechisch-römischen Antike zum Christentum oder vom 19. zum 20. Jahrhundert ganz wesentlich (Bologne 2001; Harper 2013). Einen Brückenschlag zwischen den beiden Richtungen leisteten in den letzten Jahren die Neurowissenschaften: Sie zeigten, dass zwischen der neuronalen und körperlichen Basis von Gefühlen auf der einen Seite und deren Artikulation auf der anderen eine Interaktion bzw. eine Feedback-Schleife besteht. So wirken etwa das Aussprechen von eigenen Gefühlen/Emotionen und das Miterleben von Gefühlsäußerungen anderer, etwa beim Betrachten eines Films, auf die ?plastische? Gehirnstruktur ein und verändern so auch das weitere emotionale Erleben (Plamper 2012: 252ff.). Was unter 'Gefühl' und 'Emotion' verstanden wird und wie diese Begriffe definiert werden, hängt von der zu Rate gezogenen Wissenschaftsdisziplin ab. Zumeist werden unter Gefühlen (feelings) erlebte Emotionen bzw. das Empfinden von Emotionen verstanden, also bewusst erlebte psychische Zustände bzw. das psychisch-subjektive Erleben (Hartmann 2010: 31ff.; Schnell 2015: 31ff.). Als 'Emotionen' (emotions) gelten meist komplexe Muster körperlicher und mentaler Veränderungen in Reaktion auf eine als bedeutsam wahrgenommene Situation. Sie umfassen neben dem subjektiven Erleben auch kognitive, handlungsbezogene, psychophysiologische und expressive Komponenten (Mees 2006: 105ff.). Wer sich mit Emotionen beschäftigt, hat also mit gefühlten inneren Zuständen bzw. psychischen Erfahrungen, mit körperlichen Veränderungen, mit Verhaltensweisen und Gesten, mit Handlungen und sozialen Praktiken, mit sprachlichen und bildlichen Äußerungen sowie mit Diskursen zu tun. Jede Form der Benennung und Beschreibung von (sexuellen) Gefühlen und Emotionen in Vergangenheit und Gegenwart ist mit einer grundlegenden Erkenntnishürde behaftet. Denn was eine Person fühlt, kann sie zwar entsprechend des diskursiven Repertoires der jeweiligen Zeit - in deren Begriffen, Kategorien und Bildern - artikulieren, ihr eigentliches ?inneres? Fühlen bleibt jedoch nicht kommunizierbar. Psychische Zustände werden deshalb über Ausdrucksformen, Bewertungen, Darstellungen, Konzepte und Normen - also kulturelle Kategorien - vermittelt (Schnell 2015: 19ff.). Dies trifft auch auf das vorliegende Buch zu: Was Menschen in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit ?tatsächlich? bzw. ?wirklich? fühlten, wenn sie sich ?fleischlich? begehrten, wenn sie miteinander den Geschlechtsverkehr praktizierten oder ein Bild erotisch oder sexuell erregend fanden, ist nicht zu erschließen. Diese Schwelle lässt sich auch nicht überwinden, wenn man eine soziale Konstruktion der Gefühle postuliert. Das qualitative Einwirken sozialer und kultureller Rahmungen bzw. ebensolcher Wissens- und Bilderbestände auf die individuellen neuronalen Strukturen lassen sich (zumindest derzeit) ebenso wenig nachvollziehen wie die Auswirkungen von durch Kommunikation veränderten Gehirnstrukturen auf das Erleben und die Erfahrung des Individuums.
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