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E-Book

Ersatzspielfelder

Zum Verhältnis von Fußball und Macht

AutorTimm Beichelt
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl360 Seiten
ISBN9783518757888
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
Die Vergaben der Weltmeisterschaften 2018 und 2022 nach Russland und Katar haben erneut gezeigt, dass ein Fußballplatz nie nur ein grünes Rechteck ist, auf dem 22 Spieler einem Ball hinterherjagen. (Profi-)Fußball ist stets zugleich ein Ersatzspielfeld der Politik: Machthaber unterschiedlicher Couleur inszenieren sich, Normen wie Wettbewerbsdenken werden eingeübt, Nationalteams sind ein Indikator dafür, welche Gruppen als zur Nation gehörig betrachtet werden und welche nicht. Anhand von Beispielen aus Deutschland, Frankreich und Russland untersucht Timm Beichelt das Verhältnis von Fußball und Macht. In seinem Essay geht er dabei zugleich der Frage nach, ob das Spiel auch heute noch eine Plattform für Gleichberechtigung, Toleranz und ein authentisches Leben sein kann.

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<p>Timm Beichelt, geboren 1968, ist Professor für Europa-Studien an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder.</p>

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Leseprobe

131. Einleitung: Fußball als symbolischer Möglichkeitsraum


Das Wort »хозяин« (»Chozjain«) findet sich auf den Seiten der Onlineenzyklopädie Wikipedia, die in immerhin 295 Sprachen existiert, nur auf Russisch.[1] Es entstammt der russischen Wirtschaftskultur und bezeichnet einen Eigentümer oder Verwalter von Produktionsmitteln, der sich durch eine Reihe von Eigenschaften auszeichnet: eine ausgeprägte Urteilskraft, Pragmatismus, Sorge um Untergebene und eine ethische Lebensführung. Der Begriff entstand im agrarisch geprägten Russland zu Zeiten der Leibeigenschaft, erfuhr aber in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts durch Vordenker des Eurasianismus wie Nikolaj S. Trubeckoj und Pjotr N. Savickij eine Umdeutung. Diese entwickelten das Idealbild der Ideokratie, in der »Mitglieder einer führenden Schicht durch eine gemeinsame Weltanschauung, eine gemeinsame Gesinnung miteinander verbunden« sind (Trubeckoj 2005, S. 280). Savickij prägte den Begriff der Chozjainsherrschaft (хозяйнодержавие), in der eine fürsorgliche Machtausübung durch den Chozjain auch eine politische Dimension erhielt (Savickij 1925). Savickij sah in ihr eine Herrschaftsordnung, der eine spirituelle Berufung eigen und die deshalb jenseits kapitalistischer und sozialistischer Muster 14angesiedelt war. Die nach einem organischen Prinzip strukturierten Gemeinschaften scharten sich um die Person eines Machthabers, der die Produktivität einer Gemeinschaft auch jenseits des reinen Gewinnstrebens zu sichern hatte.

Während die Idee der Chozjainsherrschaft zu sowjetischen Zeiten unter Durchsetzungsschwierigkeiten litt, lebte sie ab der Perestrojka in einer neuen Variante auf. Nach dem Terror der Stalin-Jahre, der Stagnation unter Breschnew und der Zeit der Wirren unter Gorbatschow und Jelzin bestand in Russland und seiner Nachbarschaft ein erheblicher Bedarf an Stabilität. Gefunden wurde sie in den postsowjetischen Staaten, abgesehen von denen des Baltikums, in autokratischen Regimes mit vermeintlich starken Führerpersönlichkeiten. Auf der Suchmaschine Google ergibt die kombinierte Suche nach »Chozjain« und »Putin«, »Lukašenko« oder »Kadyrov« jeweils über 400 ‌000 Treffer, wenn man die Begriffe in kyrillischer Schrift eingibt.

Konkret repräsentieren die Präsidenten Russlands, Weißrusslands sowie Tschetscheniens nur bedingt die Dimension der Fürsorge; eher stehen sie wohl für rücksichtslose Machtausübung. Aber noch heute wird in Russland und seiner nahen Umgebung das Idealbild eines durchsetzungsfähigen Mannes gepflegt, der mit repressiven Methoden das Primat der Gemeinschaft gegen die freie Gesellschaft durchsetzt, dabei politische und wirtschaftliche Ressourcen bündelt und so die Machtansprüche verschiedener Elitengruppen gegeneinander austariert. Das im Westen verbreitete Bild der korrupten und repressiven Machtapparate in Osteuropa ist zwar nicht falsch. Es ist jedoch zu ergänzen um eine Vorstellung von Herrschaft, die auf Tugenden wie individueller Tatkraft und Gemein15schaftsorientierung beruht. Diese wiederum korrespondieren mit einer idealisierten Welt, wie sie der russisch-eurasische Konservatismus entworfen hat und bis heute entwirft.

Daher überrascht es nicht, dass sich Putin, Lukašenko und Kadyrov zu Zwecken der Imagepflege häufig als Herrscher inszenieren, die sich für Sport interessieren und ihn aktiv betreiben. Putin tritt als Judoka und Eishockeyspieler an, Lukašenko spielt ebenfalls Eishockey, Kadyrov läuft im Fußballtrikot auf. Ein guter Teil der westlichen Berichterstattung macht sich darüber lustig, dass russische Medien ernsthaft über die sportlichen Hobbys ihrer politischen Führer berichten. Vor dem Hintergrund des Spannungsfelds, das im russischen Kulturraum zwischen dem idealisierten und dem realen Chozjain existiert, erscheint die Angelegenheit indes in einem differenzierteren Licht. Im Feld des Sports lässt sich an die ehrenhaften Bestandteile der Chozjainsherrschaft appellieren, die auch im Bewusstsein osteuropäischer Journalisten in einem Kontrast zur Rücksichtslosigkeit und Bereicherung stehen, die die Politik im postsowjetischen Raum so häufig prägt.

Warum aber ist es der Sport und oft genug der Fußball, in dessen Nähe sich autoritäre Herrschergestalten begeben? Geht es beim Schlüpfen ins Sporttrikot darum, sich beim Publikum durch vermeintliche (oder echte) Sportlichkeit anzubiedern? Ist die Beteiligung an »Freundschaftsspielen« mit Prominenten ein Ritual, bei dem Gleichgesinnten und Günstlingen auf subtile Weise eine Gelegenheit zur Subordination gegeben wird? Soll mit sportlichen Großveranstaltungen die innere und äußere Macht gesichert werden?

16Diese Motive von sportnahen Politikern werden auf den kommenden Seiten diskutiert, wobei keineswegs nur der postsowjetische Herrschaftsraum zu berücksichtigen ist. Nicht nur in Russland und Umgebung, sondern weit darüber hinaus hat in den letzten beiden Jahrzehnten ein Politikertypus an Bedeutung gewonnen, bei dem sich eine latent autoritäre Weltsicht, ethnisch-nativistische Anwandlungen und ein prinzipienloser Pragmatismus miteinander verbinden. Jenseits der Betrachtung autoritärer Herrschaftsräume stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Fußball und Macht gerade dort, wo Fußballpolitik und die Partikularinteressen fußballpolitischer Akteure mit demokratischen Normen in Konflikt stehen.

Dabei ist kaum zu übersehen, dass der organisierte Sport und wiederum insbesondere der Fußball ein geeignetes Feld für politische Praktiken bieten, die sich jenseits politisch-institutioneller Bahnen entfalten. Zwischen der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedeutung des Fußballs und den indirekten und schwachen Zugriffsrechten des Staates besteht sogar eine auffällige Diskrepanz.

Unpolitisch ist der Fußball dennoch beileibe nicht. Manchmal wird ihm ein emanzipatorisches Potenzial zugeschrieben. Im Sinne einer Graswurzelbewegung seien mit dem Fußball verbundene Praktiken geeignet, gesellschaftliche Diskriminierung und die Ökonomisierung der Lebenswelt zurückzudrängen (vgl. Kuhn 2011). Einige Gegebenheiten aus der Geschichte des Fußballs dienen gar als Belege für gesellschaftliche Auflehnung gegen autoritäre Machthaber. Ein wiederkehrendes Beispiel ist der leise Widerstand einiger — aber bei Weitem nicht aller — Protagonisten des argentinischen Fußballs gegen das 17Militärregime in den späten siebziger Jahren (Alabarces 2010). Dem Sport wird eine wichtige Rolle bei der symbolischen Gleichstellung der Geschlechter zugeschrieben (Markovits/Rensmann 2010, Kap. 4), und er kann in geteilten Gesellschaften konfliktmindernd wirken (Sugden/Haasner 2010).

Trotz dieser wichtigen Beispiele sehen viele Beobachter den Fußball indes eher nicht als einen Bereich, der auf politischer Ebene Werten wie Gleichberechtigung, Toleranz oder generell einem authentischen Leben zum Durchbruch verhilft. Dafür ist der professionelle Fußball zu sehr von Kommerz geprägt, gibt es zu viele Beispiele für politische Kumpanei mit autoritären Machthabern. Trotz aufwändiger Kampagnen gelten Stadien bis heute als Orte von Homophobie und vielfach auch von Gewalt. Mit der Ausrichtung auf Profit und aufgrund vieler informeller und häufig intransparenter Machtstrukturen, die nur schwer kontrollierbar sind, hat der organisierte Profisport ein Geschäftsmodell geschaffen, das mit den Mustern autokratischer Herrschaft kompatibel ist.

Wenn sich die Kreise des professionellen Sports und der politischen Machtausübung begegnen, ergibt sich also ein wenig klares Bild. Auf der einen Seite finden wir den Sport als zunächst politikferne kulturelle Praxis, auf der anderen die Instrumentalisierung durch politische Akteure; hier produktive gemeinschaftliche Kräfte mit identitätsbildender Funktion, dort Ausgrenzung und Exklusion. Einerseits wird die Integrationskraft des Sports für das Gemeinwesen beschworen, andererseits der Sport für sein Potenzial verdammt, gesellschaftliche und politische Konflikte zum Ausbruch kommen zu lassen. Wie ist dem Wirrwarr an empirischen Beobachtungen und 18normativen Aussagen beizukommen? Das ist die diesem Essay zugrunde liegende Frage. Sein Ziel besteht darin, die widersprüchlichen Phänomene der zeitgenössischen Fußballpolitik in einen Zusammenhang zu setzen.

Fußball wird dabei in mehrfacher Weise als Ersatzspielfeld — wie es im Titel...

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