Selbstbestimmung wird in der aktuellen Diskussion der Lebensqualitätsforschung als Kerndimension von Lebensqualität eine herausragende Bedeutung zugesprochen. Selbstbestimmung bedeutet dabei, die Möglichkeit „einen Lebensplan zu entwickeln, dabei individuelle und selbstgewählte Lebenswege zu gehen und Entscheidungen im Alltag wie auch im Lebenslauf zu treffen, die den eigenen Vorstellungen entsprechen: Wie man wohnen möchte, welchen Beruf man erlernen und ausüben möchte, welche Beziehungen man eingehen will und was man in seiner Freizeit unternimmt sind Teile dieses Lebensplans“ (Wacker u.a. 2005: S. 17). Der von Beck beschriebene Prozess gesellschaftlicher Individualisierung bildet den Hintergrund für die zunehmende Bedeutung des Selbstbestimmungsbegriffs in der aktuellen behinderungspolitischen Diskussion und in der Umgestaltung des Rehabilitationssystems. Selbstbestimmung wird dabei als Entscheidungsautonomie verstanden, die sich auf „subjektive Lebensziele und auf die Entscheidungsschritte, die zu diesen Zielen führen“, bezieht und setzt im Unterschied zur Handlungsautonomie keine Fähigkeit voraus, „diese Ziele in konkrete Handlungen zu überführen“(Wacker u.a. 2005: S. 18).
Im Zentrum meiner Arbeit stehen die Selbstbestimmungsmöglichkeiten behinderter Menschen bei den im Rahmen des Rehabilitationssystems erbrachten Teilhabeleistungen. Die die Sicherung des allgemeinen Lebensunterunterhalts betreffende Einkommens- und Vermögenssituation behinderter Menschen und ihre Auswirkungen auf deren Selbstbestimmungsmöglichkeiten bleiben dabei weitgehend außen vor. Diese dürfte sich manchmal unmittelbarer und weitreichender auf die oben beschriebene Möglichkeiten auswirken, das Leben selbst bestimmt zu gestalten, als die im Mittelpunkt meiner Arbeit stehenden Teilhabeleistungen. Häufig sind Menschen mit Behinderung aufgrund einer Einschränkung der Erwerbsfähigkeit oder schlechter Arbeitsmarktchancen in erster Linie auf Leistungen der Sozialhilfe[8] zur Sicherung ihres Lebensunterhalts angewiesen. Äußerst knapp bemessene Sozialhilfeleistungen, steigende Zuzahlungen für Medikamente, die verschärfte Anrechnung von Arbeitseinkommen im Rahmen der Tätigkeit in einer Werkstatt für behinderte Menschen, der Zwang zur Rücklagenbildung aufgrund des Wegfalls einmaliger Beihilfen im Sozialhilferecht und weitere sozialrechtliche Verschlechterungen lassen mit zunehmender Tendenz zum Beispiel Urlaubsreisen, Restaurant-, Kino- oder Theaterbesuche auch dann nicht zu, wenn durch das Rehabilitationssystem entsprechende Fahrdienste oder eine Begleitung sicher gestellt werden könnten.
Da sich das Persönliche Budget ausschließlich auf Teilhabeleistungen im Rahmen des Rehabilitationssystems bezieht, klammere ich die gerade genannten Aspekte weitgehend aus. Ich beschränke mich daher auf die Fragestellung, ob und inwieweit das Persönliche Budget im Vergleich zum Sachleistungsbezug Entscheidungs- und Gestaltungsspielräume bei den im Rahmen des Rehabilitationssystems erbrachten Teilhabeleistungen erweitert.
Bevor ich auf diese Entscheidungs- und Gestaltungsspielräume im Einzelnen zu sprechen kommen, stelle ich im folgenden Abschnitt 3.1 dar, wie sich die Struktur der Beziehung zwischen Leistungsberechtigtem, Leistungsträger und Leistungserbringer beim Sachleistungsbezug fundamental von der beim Persönlichen Budget unterscheidet.
In den dann folgenden Abschnitten 3.2., 3.3. und 3.4 setzte ich mich mit der Frage auseinander, ob und auf welche Weise das Persönliche Budget die Entscheidungs- und Gestaltungsspielräume von Menschen mit Behinderung im Unterschied zum Sachleistungsbezug konkret zu erweitern vermag. Zugleich aber frage ich immer auch danach, ob das Persönliche Budget möglicherweise an anderen Stellen Entscheidungs- und Gestaltungsspielräume behinderter Menschen wieder einschränkt und damit neue Abhängigkeiten produziert.
Im ersten der nun folgenden drei Abschnitte nehme ich die Entscheidungs- und Gestaltungsspielräume des Leistungsberechtigten gegenüber den Leistungserbringern in den Blick. Die Erwartung, dass das Persönliche Budget die Selbstbestimmungsmöglichkeiten behinderter Menschen erweitert, richtet sich dabei fast ausschließlich auf das durch das Persönliche Budget neu strukturierte Verhältnis zu den Leistungserbringern. Die Erwartung, dass die neu gewonnene Kundenposition des Leistungsberechtigten dabei fast automatisch zu erweiterten Entscheidungs- und Gestaltungsspielräumen gegenüber den Leistungserbringern führt, relativiert sich, wenn man Überlegungen zur Handlungslogik des Marktes mit einbezieht.
In Abschnitt 3.3. geht es um das ebenfalls neu strukturierte Verhältnis des Leistungsberechtigten zu den Leistungsträgern. Mit dem Persönlichen Budget werden gegenüber den Leistungsträgern im Allgemeinen keine Erwartungen erweiterter Entscheidungs- und Gestaltungsspielräume verbunden. Umgekehrt lässt sich allerdings zeigen, dass die Auflösung des klassischen Leistungsdreiecks mehr oder weniger zwangsläufig eine wesentlich direktere soziale Kontrolle des Leistungsberechtigten durch die Leistungsträger nach sich ziehen muss.
In Abschnitt 3.4 beschreibe ich zunächst die hohen Anforderungen, die der Budgetnehmer beim Persönlichen Budget bewältigen muss. Er wird potenzielle Entscheidungs- und Gestaltungsspielräume beim Persönlichen Budget nur dann für sich nutzen können, wenn er sich im „Dschungel“ des sozialen Sicherungssystems einigermaßen zurechtfindet. Vor allem Menschen mit einer geistigen Behinderung dürften dabei auf zuverlässige und unabhängige „Lotsen“ angewiesen sein (Klie/Siebert 2006: S. 4).
Im nächsten Abschnitt 3.1.1 arbeite ich zunächst die Stellung des behinderten Menschen beim Sachleistungsbezug innerhalb des klassischen Leistungsdreiecks heraus, um dann im folgenden Abschnitt 3.1.2 seine veränderte Stellung durch die Auflösung des klassischen Leistungsdreiecks beim Persönlichen Budget neu zu bestimmen.
Der sozialrechtliche Sachleistungsanspruch eines Leistungsberechtigten gegenüber einem Leistungsträger wird in der Regel nicht unmittelbar durch diesen selbst eingelöst. Nach einer langen Tradition in Deutschland werden sozialrechtliche Sachleistungsansprüche gemäß dem Subsidiaritätsprinzip überwiegend durch die Träger der freien Wohlfahrtspflege erbracht, auch wenn der Leistungsträger selbst dabei für die Ausführung der Leistungen letztlich verantwortlich bleibt. [9] In begrenztem Umfang lösen Leistungsträger sozialrechtliche Leistungsansprüche jedoch auch unmittelbar ein, indem sie eigene Einrichtungen und Dienste betreiben.[10] Der Leistungsträger als öffentlicher Kostenträger beauftragt in der Regel aber meist eine Einrichtung bzw. einen Dienst der freien Wohlfahrtspflege mit der Leistungserbringung und übernimmt dabei die entstehenden Kosten. Dabei werden „soziale Leistungen im Binnenverhältnis von Leistungsanbietern und –trägern ausgehandel[t] und dann als Versorgungsstruktur für Menschen, deren Unterstützungsbedarf anerkannt wurde“, bereitgestellt (Wacker u.a. 2005: S. 26f. u. Bauer 2001: S. 3). Dieses Dreiecksverhältnis zwischen Leistungsberechtigtem, Leistungsträger und Leistungserbringer wird meist „klassisches Leistungsdreieck“ genannt.
Dieses für das bundesrepublikanische Wohlfahrtssystems typische Arrangement basiert auf einer engen Kooperation zwischen Staat bzw. Leistungsträgern einerseits und Organisationen des Nonprofit-Sektors andererseits. Der Staat sorgt dabei mit Hilfe des „Steuerungsprinzip der Hierarchie“ über Rahmensetzung und Steuerung der Finanzströme für ein flächendeckendes und standardisiertes Angebot an sozialen Einrichtungen und Diensten und erzeugt damit ein hohes Maß an staatsspezifischen Bezugswerten wie Sicherheit und Gleichheit. Diese universalisierende und standardisierende Tätigkeit des Staates läuft aber zugleich tendenziell Gefahr, die Freiheitsrechte der Bürger einzuschränken und individuelle Wünsche und Bedürfnisse zu vernachlässigen (Evers/Olk 1996: S. 24). Um diese Nachteile direkter staatlicher Wohlfahrtsproduktion zu vermeiden, werden mit der konkreten Leistungsausführung im bundesrepublikanischen Wohlfahrtssystem überwiegend Organisationen des Nonprofit-Sektors beauftragt. Zum einen werden dabei die tendenziell freiheitseinschränkenden Nachteile direkten staatlichen Handelns vermieden, zum anderen aber auch die Nachteile rein marktorientierten Handelns mit dessen systematischer Verfehlung des Ziels der Gleichheit der Ergebnisse oder auch nur der Teilhabe an Minimalstandards (Evers/Olk 1996: S. 24).
Im Falle des ambulant Betreuten Wohnens im Rahmen der Eingliederungshilfe trifft der zuständige überörtliche Sozialhilfeträger als Leistungsträger mit Diensten der freien Wohlfahrtspflege als Leitungserbringern „öffentlich-rechtliche Vereinbarungen über die zu erbringenden Leistungen, ihre Vergütung und die Prüfung von Wirtschaftlichkeit und Qualität, die eingebettet sind in Empfehlungen und Rahmenvereinbarungen auf Bundes- und Landesebene“ (Conty 2005: S. 32).[11] Im Rahmen einer Leistungsvereinbarung müssen die wesentlichen...