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Erziehung, Gemeinschaft und Gesellschaft

Ein Vergleich der erziehungstheoretischen Konzepte von Paul Natorp und Kurt Hahn

AutorHartmut Birsner
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl175 Seiten
ISBN9783656319924
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis39,99 EUR
Diplomarbeit aus dem Jahr 2008 im Fachbereich Pädagogik - Geschichte der Päd., Note: 1,0, Eberhard-Karls-Universität Tübingen (Institut für Erziehungswissenschaft), Sprache: Deutsch, Abstract: Die Arbeit stellt zwei pädagogische Konzepte vor, die in der politischen Wendezeit vom Deutschen Kaiserreich zur Weimarer Demokratie zu verorten sind. Zentral ist die Frage nach den sozialen Bedingungen und Aufgaben von Erziehung gerade im Hinblick auf eine der wichtigsten Herausforderungen der Zeit, nämlich den Aufbau einer demokratischen Gesellschaft. Dabei erweisen sich die pädagogischen Antworten von Kurt Hahn und Paul Natorp in entscheidenden Punkten geradezu als komplementär.

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Leseprobe

II. Paul Natorp: Blick über Leben und Werk


 

1. Zur Quellenlage und zur Relevanz NatorpsBiographie


 

Die detailreichsten, mir zugänglichen Quellen zur Biographie Natorps sind eine Abhandlung von Friedrich Trost in „Erziehung im Wandel. Paul Natorp – Ein Lebensabriss“ (Trost 1955: 15-30) und eine Darstellung desselben Autors in „Lebensbilder aus Kurhessen“ (Trost 1958: 233-249). Beiden Darstellungen ist der Makel gemein, dass sie dazu tendieren, verklärend zu stilisieren. Doch der hagiographische Ansatz Trosts verschleiert von der Person Paul Natorp mehr, als dass erzu erkennen gibt. Auch macht er viele Aussagen für eine weitere, wissenschaftliche Verwendungnur eingeschränkt brauchbar.Profund aufgearbeiteteInformationen zu Natorps Lebensgeschichte sind in der veröffentlichten Literatur kaum vertreten. Die einschlägige Monographie von Norbert Jegelka Paul Natorp – Philosophie, Pädagogik, Politik(1992) ist profund gearbeitet und detailreich, doch ihr Augenmerk liegt klar auf der Werkgeschichte. Biographisches kommt, abgesehen von den üblichen Eckdaten, nur in Nebensätzen zur Sprache. Damit folgt Jegelka einem Leitsatz, densich Natorp in Anlehnung an Kants Vorwort zur Kritik der reinen Vernunftselbst zueigen gemacht hat: „De nobis ipsis silemus“[6], – will heißen: es geht nicht um den Autor, sondern um die Sache. Ein Standpunkt, der, wenn wir nicht in einenPsychologismus oder anarchischen Relativismus,wie ihnbeispielsweise Paul Feyerabendvertreten hat, verfallen wollen, durchaus vernünftig ist. EineThesekönntekeine allgemeinere Gültigkeit beanspruchen, wenn sie abhängig wäre von ihrer Genese. Gerade im Kontext von Wissenschaft und Philosophie gilt esdaher,sich der Differenz zwischen Genesis und Geltungeiner Aussage bewusst zu bleiben. Alsoist es nur konsequent, wenn Natorp von der Darstellung seiner Person absehen will:„Es kann hier nicht die Absicht sein, als neuen Brauch einzuführen, daß man von sich spricht, statt von der Sache“.Somit bleiben konkrete Hinweise auf Natorps Lebensgeschichte auch in der von eigener Hand verfassten „Selbstdarstellung“ überaus rar (vgl. Natorp 1921: 151ff).

 

Trotzdem soll im Folgenden nicht gänzlich von der Biographieabgesehen werden.Dies aus folgendem Grunde: Auch wenn aus den Zeit- und Lebensumständen eines Menschendessen Denkennicht einfach abgeleitet werden darf, so ist deren Kenntnis doch hilfreich, ein umfassendesund besser fundiertes Verständnis desselbenzu gewinnen.Auch bildet der zeitgeschichtliche Problem- und Erfahrungshorizont, vor und an welchem Einsichten gewonnen und Theorien formuliert werden, eine wichtige Grundlage, wenn es darum geht, diese in einen größeren geistesgeschichtlichen Zusammenhangeinzuordnen und von diesem her zu hinterfragen.Wenn im Folgenden also von den Zeit- und LebensumständenPaul Natorps berichtet wird, dann mitprimärem Interesse an denjenigen Ereignissen und Entwicklungen, die in engem Zusammenhang mit seinem pädagogischen Schaffen stehen. Da der Blick auf die Biographie also der Sache dient, bleibt die berechtigte Hoffnung,damitauch Paul Natorps Zuspruchgewinnen zu können; dann nämlich,wenn „so von sich sprechen zur Sache sprechenheißt“ (Natorp 1921: 151).

 

2. Elternhaus – Schulzeit – Studienjahre (1854-1880)


 

Paul Gerhard Natorp wurde am 24. Januar 1854 in einer evangelischen Pastorenfamilie geboren, die seit 1594 sechs Pfarrergenerationen aufweist (vgl. Trost 1958: 233). Er war das drittälteste Kind von insgesamt 11 Geschwistern. Der Großvater lehrte ihn,noch bevor er in die Schule kam, das Lesen. Sein Vater, ein „dogmatisch strenger Pfarrer“, unterrichtete ihn früh morgens von halb fünf bis fünf Uhr im Klavierspiel (vgl. ebd.). Mit fünf betritt er die Elementarschule, mit acht das Düsseldorfer Gymnasium. Sein Interesse lag zunächst bei der Mathematik, dann auch bei den altgriechischen Schriftstellern. 1871 nahm er siebzehnjährig an der Universität zu Berlin das Studium der Geschichte und der klassischen Philologie auf. Weitere Studienorte waren Bonn und Straßburg, wo er 1875 mit einer philologischen Arbeit promovierte und bald darauf sein Staatsexamen absolvierte (Trost 1958: 237). Noch war ihm der Weg zur akademischen Philosophie nicht vorgezeichnet, denn die seinerzeit vorherrschende philosophische Strömung des Materialismus provozierte eine ablehnende Haltung in ihm. Rückblickend schreibt er:

 

„Mit schütternder Gewalt aber ergriff mich dann (wie ebenfalls viele damals) etwas ganz anderes, in seiner Art doch auch Philosophisches, vielleicht die deutscheste und kosmischste Philosophie, ich meine die Musik Bachs, Beethovens und der Ihren, vor allem des damals siegreich durchdringenden Richard Wagner, dessen neue ‚Kunst’ ja mit nicht geringen philosophischen Ansprüchen auftrat und mich für Jahre völlig in Bann schlug, so daß für wenig anderes, am wenigsten für abstrakte Philosophie, in mir Raum blieb. Ohnehin hatte es die Philosophie der Katheder nur zu gut verstanden, mich, wie beinahe jeden, in dem noch ein Funke von Philosophie ums Leben rang, ganz von sich zu verscheuchen“ (Natorp 1921: 152).

 

So blieb sein philosophischer Drang zunächst ungestillt. Gegen Ende seiner Studienzeit befand er sich „innerlich wie äußerlich in einer Verwirrung, die an Verzweiflung grenzte“ (ebd. 153).Auch die Philologie erfüllte ihn nun nicht mehr:

 

„Die elende Kleinigkeitskrämerei der klassischen Philologie ärgerte mich immer mehr, je mehr ich überzeugt bin, daß noch viel, viel Großes zu tun ist in der Welt, wozu so viel Scharfsinn und Interesse geistig bedeutender Menschen viel besser angewandt wäre … ich will lieber Bedeutendes wollen auf die Gefahr hin, ihm nicht gewachsen zu sein, als Unbedeutendes wollen und Unbedeutendes leisten“ (zit. n. Trost 1958: 236).

 

Gegen Ende seiner Studienzeit macht ihn ein Freund auf eine neue Strömung der Philosophie aufmerksam, „die es sich zu studieren lohne“ (Natorp 1921: 153). Gemeint war die Philosophie Kants, neu aufgegriffen durch Albert Lange und vor allem durch Hermann Cohen, dem Begründer der Marburger Schule des Neukantianismus. Die Entdeckung der Marburger Schule führteNatorp zur Philosophiezurück. Hier fand er, was er bisher vermisst hatte: kritischen Geist, Wissenschaftlichkeit undeinen philosophischen Ansatz mit Zugang zum Menschen, zur Gesellschaft und den Nöten der Zeit.Doch bevor Natorp nach Marburg übersiedelte, um seine akademische Laufbahn fortzusetzen, absolvierte er noch ein Probejahr am reformierten Gymnasium in Straßburg mit vorausgehenden und nachfolgenden Hauslehrertätigkeiten in Dortmund und Worms (vgl. Trost 1958: 237).

 

3. Der Weg zurSozialpädagogik (1880-1914)


 

1880 bot sich dem 26-Jährigen die Möglichkeit in Marburg eine Stelle an der Universitätsbibliothek zu übernehmen. Dort angekommen suchte er sogleich den Kontakt zu Hermann Cohen, bei welchem er sich 1881 über „Descartes Erkenntnistheorie“ habilitierte. 1885 wurde er zunächst außerordentlicher, 1893 dann ordentlicher Professor im Fach Philosophie, gekoppelt an einen Lehrauftrag für Pädagogik.Ab hier tritt die Person Paul Natorp mehr und mehr hinter Werk und Sache. Erwähnt sei zu seinem persönlichen Umfeld noch, dass er 1887 seine Cousine, Helen Natorp, heiratete, mit welcher er fünf Kinder zur Welt bringen sollte. Marburg ist er sein weiteres Leben über treu geblieben.

 

Ab den frühen 90er-Jahren rückt neben der Philosophie des Neukantianismus die Sozialpädagogik ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit. Die ersteWegmarke dazu bildet dieReligion innerhalb der Grenzen der Humanität – Ein Kapitel zur Grundlegung der Sozialpädagogikvon 1894. Mit der Sozialpädagogik – Theorie der Willenserziehung auf der Grundlage der Gemeinschaft erscheint 1899 sein pädagogisches Hauptwerk. Natorp war sich der politischen Verantwortung der Wissenschaften stets bewusst und von daher war sein Engagement nie bloß der Theorie verpflichtet, sondern zielte immer auch auf eine Veränderung der gesellschaftlichen Realität. So provozierte die reaktionäre Schulgesetzgebung des Kaiserreichs, das seinen Bestand zu festigen suchte, über Jahre immer wieder seineKritik.Natorp eröffnete, ganz im Sinne Bourdieus, das Gegenfeuer und opponierte in zahlreichen Aufsätzen, Zeitungsartikeln und Vorträgen gegen den Entwurf des preußischen Schulunterhaltungsgesetzes von 1905, einer Neuauflage des im Jahre 1881 von Graf Zedlitz-Trütschler, dem preußischen Kultusminister, eingebrachten, aber damals noch gescheiterten,„neuen Volksschulgesetzentwurfes“ (vgl. Jegelka 1992: 32).Zentral war Natorps Forderung nach einer Entkonfessionalisierung der Schule und der Befreiung der Schüler vom Bekenntniszwang. Natorp kämpfte allerdings nicht für die Abschaffung des Religionsunterrichts. Es ging ihm um „gemeinsame Unterweisung in Religion, unter Fernhaltung jedes dogmatischen Anspruchs, jedes Bestrebens, ein Bekenntnis irgendwelcher Art zu erzielen, dagegen bezweckend eingehende Kenntnis und, soweit möglich, inneres Verständnis des Religiösen“ (zit. n. Trost 1955: 34).Des Weiteren wollte er Schule und Lehrplan frei wissen von manipulatorischen, auf die Befestigung der eigenen Herrschaft zielenden Eingriffen der amtierenden Staatsmacht.

 

Mit der Forderung nach organisatorischer und inhaltlicher Autonomie des Schulwesens verbunden war bei Natorp dieForderung nach einer allgemeinen Volksschule, welche „die...

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