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E-Book

Es war alles ganz anders

Erinnerungen

AutorVicki Baum
VerlagVerlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl592 Seiten
ISBN9783462319354
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Vom Berlin der 1920er-Jahre bis nach Hollywood: Vicki Baums Lebensgeschichte. Sie sei »nur eine einfache Geschichtenerzählerin« gewesen, schreibt Vicki Baum in ihren Memoiren. Wer nur wenige Seiten dieses Buches liest, begreift sofort, was für ein charmantes Understatement das ist. Baum war eine großartige Erzählerin - und ihr Leben derart angefüllt mit Außergewöhnlichem, dass es geradezu schwindelig macht. »Es war alles ganz anders« beschwört die pulsierenden Metropolen Wien und Berlin in einer explosiven Zeit des Umbruchs herauf. Und es führt vor, wie eine starke hochmoderne Frau ihren Weg geht bis nach Hollywood in einer von Männern dominierten Welt. Mit einem Vorwort von Elke Heidenreich

Vicki Baum, geboren 1888 als Tochter einer jüdisch-bürgerlichen Familie in Wien, gestorben 1960 in Hollywood. Sie war ausgebildete Musikerin und arbeitete ab 1926 als Redakteurin in Berlin. 1932 wanderte sie nach Hollywood aus, wo ihr Roman »Menschen im Hotel« verfilmt wurde. In Deutschland wurden ihre Bücher von den Nazis als »Asphaltliteratur« verfemt und verbrannt. Ihre Romane sind in zahlreiche Sprachen übersetzt und teilweise dramatisiert und verfilmt worden.

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Leseprobe
Inhaltsverzeichnis

1


Kurz nach meinem siebzigsten Geburtstag fuhr ich noch einmal von meinem Heim in Hollywood nach New York. Nirgendwo unterwegs, in keinem der zahllosen, kleinen Antiquitätengeschäfte an den Autostraßen, nirgendwo auf diesen langen dreitausend Meilen durch den weiten Kontinent fand ich auch nur eine einzige Antiquität, die älter gewesen wäre als ich. Da war er wieder, zusammengetragen und für den Verkauf zur Schau gestellt, der ganze verworrene, krause, fransenbesetzte und mit Quasten geschmückte Ramsch, womit die Zimmer meiner Kindheit vollgestopft gewesen waren. Die unhandlichen Küchenutensilien, die ich damals – als Vorbereitung für ein zukünftiges Hausfrauendasein – auf Hochglanz zu halten hatte; die Petroleumlampen mit dem imitierten Bronzefuß, bei deren schlechtem Licht ich oftmals Hausaufgaben gemacht habe; der rührende Kitsch aus geschliffenem Glas, Kerzenleuchter, Zierdeckchen und abscheuliche Bierseidel. In einer gottverlassenen Geisterstadt des Westens begegnete ich einer getreuen Replik der monströsen geblümten Waschschüssel mit Krug aus dem elterlichen Schlafzimmer sowie, passend im Dekor, zwei ebenso gewaltigen Nachttöpfen – für mich die ersten Symbole alles Unappetitlichen und Abstoßenden im Eheleben meiner – und aller – Eltern.

Zeitstücke nennt man diese Dinge in Amerika.

Dies Wiedersehen hinterließ mich sehr nachdenklich und brachte mich dazu, einmal bei meiner eigenen Person Inventur zu machen. Das also ist aus dir geworden: ein Zeitstück, nichts weiter. Weder hinlänglich alt oder vornehm genug, um als echte Antiquität zu gelten, noch jung genug, um in die raue, mechanisierte, schnelllebige Gegenwart zu passen. Wie es die witzige Fürstin Pauline Metternich einmal so treffend ausgedrückt hat, als man ihr zum Geburtstag gratulierte: »Meine Lieben, siebzig ist kein Alter für eine Kathedrale. Aber für eine Frau – oh, mon Dieu …«

Schön, sagte ich mir, wenn ich schon ein Zeitstück bin, dann will ich zunächst ein wenig von der Zeit erzählen, in der ich aufwuchs: vom Wien der Jahrhundertwende.

Eine graue Stadt, wundervoll grau, wie Paris, wie jede dieser sehr alten europäischen Städte, die als römische Kolonialgarnisonen angefangen haben. Gedämpfte Farben überall. Die Donau – nicht blau, wie es in Liedern heißt, sondern von trägem, schmutzigem Gelb. Mit samten-grüner Patina überzogene Kuppeln und Zwiebeltürme und alle anderen Kirchen überragend, der romanisch-gotische Stephansdom in der Mitte der Stadt: eine der ältesten und eindrucksvollsten europäischen Kirchen, um die in konzentrischen Ringen die Stadt gewachsen war, wie die Stämme riesenhafter Mammutbäume sich bilden, Ring für Ring, Jahrhundert für Jahrhundert. Als das Kirchendach mit seinem prachtvollen Doppeladler-Mosaik nach dem letzten Krieg zerbombt dastand, war es das Erste, was die Wiener wiederherstellten – mit amerikanischem Geld, wie ich vermute. Ihre geliebte Kirche und – natürlich – ihr Opernhaus. Wie alle Armen sind sie große Künstler im Überleben, meine Wiener. Was sie am Leben hält, ist weniger ein starkes charakterliches Rückgrat als eine bezaubernde Selbstironie.

Der Verkehrslärm meiner frühen Kindheit: das Klappern von Pferdehufen auf dem granitenen Kopfsteinpflaster; der flotte Trab zweispänniger aristokratischer Equipagen; die munteren Fiaker des wohlhabenden Bürgertums, der schleppende Gang müder Klepper von einspännigen Droschken. Das lustige kleine Hornsignal des hoch auf dem Kutscherbock der schwarz-gelben Postkutsche thronenden Postillions. An Sommerabenden aus unzähligen offenen Fenstern Geklimper auf verstimmten Klavieren – ein scheußliches Stück, das »Gebet einer Jungfrau« hieß, doch hier und da auch klassische Töne, ein Haydn-Quartett, eine Beethoven-Sonate, ein Lied von Hugo Wolf. Der durchdringende, nachdrückliche Warnruf der Feuerwehrtrompete: e-a! Jedes Kind in Wien kannte dieses Intervall und baute darauf seinen Sinn für Harmonie und sein musikalisches Gedächtnis auf. Heute noch, wenn ich in einem etwas chaotischen Stück moderner Musik die Orientierung verliere, finde ich mich vermittels dieser eindringlichen Feuerwehrquarte e-a! e-a! e-a! zurecht.

In den Höfen wurden ewig Teppiche geklopft – der Dienstbotenjazz des alten Wiens, und dazu kamen das vielsprachige Geschrei der Straßenverkäufer, der schrille Singsang der Marktfrauen, das mehrstimmige Rufen der Dienstmädchen aus den Luftschächten der Küchen und, zu jeder Stunde, die Kirchenglocken.

Häufig konnte man eine Karosse mit goldenen Rädern sehen, eine schlanke Gestalt in blauer Uniform darinnen, und eine weiß behandschuhte, unablässig grüßende Hand: der Kaiser! Unser Kaiser, Seine Apostolische Majestät, Franz Joseph I. Wir konnten uns als Kinder nicht vorstellen, dass außer ihm irgendwelche anderen Kaiser existieren könnten. Wir liebten ihn zärtlich – ohne die geringste freudsche Nuance –, den Vater des Landes. Die Landesmutter war bedauerlicherweise abwesend, blieb unsichtbar und war überdies wenig später tot.

Ich erinnere mich, dass wir gerade auf dem Land in der Sommerfrische waren. »Von einem Anarchisten erdolcht«, hieß es in dem druckfeuchten Extrablatt, das mein Onkel von einer Kreistagssitzung mitbrachte. Als die Schreckensbotschaft unser Dorf erreicht hatte, standen die Bewohner bestürzt vor ihren Häusern, und wir weinten alle herzzerreißend in loyalem Schmerz. Das war die erste Extraausgabe in einer unschuldigen Dornröschenwelt. Wer hätte damals gedacht, dass einmal ungezählte Extrablätter mit ihren Schrecken in unser Leben einbrechen könnten?

In Panikstimmung kehrten wir nach Wien zurück. Die Flaggen standen auf halbmast, in den herbstlichen Straßen wehte überall schwarzer Flor, die Menschen trugen Trauer. Der Laternenanzünder, der sonst am Abend im weißen Chirurgenmantel von Straßenlaterne zu Straßenlaterne ging, um das Gas anzuzünden, machte nun die Runde, um die Lampen herunterzunehmen und die Glühstrümpfe abzuschrauben. Als es dunkel wurde, zündete man das frei ausströmende Gas an, und riesige Flammen loderten hoch, flackernde Fackeln im kalten Wind. Die Leute standen barhäuptig auf den Straßen – dichte schwarze Menschenmengen –, und die gedämpften Trommelschläge des chopinschen Trauermarsches hallten durch die Luft. Ich genoss das traurige Schauspiel ungeheuer, und ich bin sicher, dass das Straßenvolk es insgesamt genoss.

Es ist seltsam, sich heute daran zu erinnern, welche Bedeutung der Kaiser für uns hatte, wie nahe er uns stand. Wir teilten sein Leid, seine Kümmernisse, von denen er mehr als genug hatte und noch mehr bekommen sollte. Es war eine Art familiären Zusammengehörigkeitsgefühls; wir respektierten den alten Mann, und jeder kannte seine große Einfalt, seine streng nach einer Seite ausgerichtete Erziehung und seine Eigenwilligkeit, und ohne Hemmungen redete man darüber. Es ist merkwürdig, dass ein Mann so aufrichtig und gleichzeitig solch eine tragische Gestalt sein kann. Es ist merkwürdig, wie viel Unheil die Aufrichtigkeit eines so netten und ernsthaften Mannes, wenn er an hoher Stelle steht, über die Welt zu bringen vermag. Während meines Lebens gab es Franz Joseph, Hindenburg, Eisenhower; wer wird der Nächste sein?

Man kann sich heute nur schwer vorstellen, wie sehr ein Volk sich nach dem Bild seines Souveräns formt. Zu meinem persönlichen Leidwesen hielt unser alter Monarch auf eiserne Strenge und steife Etikette, vielleicht aus Protest gegen eine Einwohnerschaft schlampiger, enthusiastischer Sybariten. Und ich musste deshalb, unter leichten Baumwolldecken zitternd, in ungeheizten Zimmern schlafen, auf der härtesten, dünnsten Matratze, die zur Verfügung stand. »Wenn das warm genug für den Kaiser ist, dann ist es auch warm genug für dich«, erklärte mein Vater. Mit dem Morgengrauen aufstehen, eiskaltes Wasser über meinen steifen, unterernährten Körper schütten, dann einen Becher voll blassen Kaffees und ein trockenes Brötchen zum Frühstück – genau wie der Kaiser. Und so den ganzen Tag hindurch. Ein Klosterleben.

In Wien nannte man die Toilette den Ort, »wohin der Kaiser zu Fuß geht«. Und als eine wohlmeinende Freundin mich in das Geheimnis einweihte, auf welche Weise ein Mann und eine Frau zu Kindern kommen, lehnte ich es einfach ab, ihr zu glauben. »Der Kaiser würde so etwas bestimmt niemals tun«, sagte ich, und damit war die Angelegenheit erledigt.

Das Wien, in dem ich aufwuchs, war eine bezaubernde Stadt. Vom Wienerwald umgeben, in dem es üppig blühte, lebte man eng verbunden mit der Natur. Die herrlichen Parks der kaiserlichen und Adels-Paläste waren unsere Spielplätze, ihre Springbrunnen und Teiche, Rosskastanienbäume und Fliederbüsche, die sanft geschwungenen Rasenflächen, streng angelegten Beete und gestutzten Hecken unsere intimen Freunde. Tagsüber war Wien eine lebendige Stadt, rhythmisch beschwingt, nicht in der tobenden Lautstärke von heute. Nachts wurden die Straßen still und dunkel, und alles Leben, alle Fröhlichkeit zogen sich in die Häuser zurück. Es war nicht im Mindesten das, was die Leute sich allgemein unter Alt-Wien vorstellen. Bars und Nachtklubs gab es damals noch nicht, und unter einem Touristen verstand man nicht einen Ausländer, der mit einer Reisegesellschaft unterwegs ist, sondern einen zünftigen Eingeborenen in Lederhosen, der sein ganzes Glück in möglichst schwierigen bergsteigerischen Leistungen sah.

Nicht, als ob diese ruhigen Zeiten nicht auch ihre Gefahren gehabt hätten, oh, es gab eine Menge! Petroleumlampen explodierten, desgleichen...

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