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E-Book

Bis es wehtut

Wie mich meine Sucht nach Aufmerksamkeit fast zerstörte

AutorYavi Hameister
Verlagmvg Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783961210909
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Yavi Hameisters Buch ist die ehrliche Aufzeichnung ihres schmerzhaften Lebensweges, der aus Selbstverletzung, Essstörung und Sportsucht bestand. Getrieben von dem Bedürfnis nach Aufmerksamkeit und Selbstdarstellung, war sie nicht nur bereit, ihre Gesundheit aufs Spiel zu setzen, sondern auch andere Menschen zu belügen und zu manipulieren, um Bewunderung für ihren Körper und ihr Aussehen zu erhalten. Ich wollte immer große Geschichten erzählen. Großes erleben. Größeres darstellen. Für den ganz großen Applaus. Und den Schmerz, nach dem ich so süchtig bin. Koste es, was es wolle - Geld, Gesundheit oder ein paar Lügen, die so schnell erzählt waren. Doch ich wusste: Sollte ich jemals dieses Buch schreiben, würde ich erstmals die Wahrheit sagen müssen. Und die Wahrheit ist: Ich bin eine Lügnerin, die den Selbstbetrug so gut beherrscht wie Klimmzüge und Kalorienzählen. Es ist ganz einfach, sein Leben so zu malen, dass es die idealen Farben und Formen annimmt. Es ist nur verdammt schwer, die Fehler in den Bildern wieder zu korrigieren, wenn die Farbe erst einmal getrocknet ist.

Yavi Hameister (*1986) ist studierte Germanistin und arbeitete viele Jahre als freie Journalistin und Redakteurin, bis sie mit ihrem Mann nach Schottland ging und dort Mutter und Bloggerin wurde. Mittlerweile lebt sie wieder in Deutschland, schreibt in ihrem Blog mama-moves.de über ihre Lieblingsthemen Sport, Ernährung und Kinder und zeigt, dass all diese Elemente harmonisch und gesund im Alltag kombiniert werden können. Außerdem betreut sie als Personal Trainerin und Ernährungsberaterin vor allem Schwangere und Mütter. Ihre Message: Treibe Sport, weil du deinen Körper liebst, nicht, weil du ihn hasst.

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Leseprobe

KAPITEL 1


DAS HÄSSLICHE BILD


An der Wand im Flur hängt dieses hässliche Bild. Darauf ist eine große Halle im Barockstil zu sehen, in ihr herrscht totales Chaos. Unzählige Gestalten tummeln sich neben-, auf- und untereinander, mit Fratzen, Glatzen, teils behaarten Körpern, nackten, unförmigen Brüsten, dicken Bäuchen. Halb Menschen, halb Monster. Totenköpfe, Schweinsköpfe. Sie feiern. Sie fressen. Sie saufen. Sie tanzen. Sie morden. Sie schreien. Sie lachen. Die Szenerie ist absolut grotesk und furchteinflößend und voller Schmerz. Man kann einfach nicht wegschauen, wie bei einem grausamen Unfall. Hässlich ist hierfür ein Euphemismus.
Dieses Bild hing in jeder Wohnung, in der wir gelebt haben, und es waren ziemlich viele in meiner Kindheit und Jugend. Als ich noch ganz klein war, machte mir dieses Bild Angst, später fand ich es einfach nur widerlich, sodass ich es nicht mehr anschauen konnte und mich unendlich dafür schämte. Ganz besonders wenn jemand zu Besuch kam und sicher dachte, meine Familie sei komplett bescheuert. Damals dachte ich: »Normale Menschen besitzen solche Bilder nicht.«
Mein Leben lang hatte ich die grauenvolle Szenerie bis ins kleinste Detail bildhaft vor Augen – und in gewisser Weise versinnbildlicht sie meine Familie. Versteht mich nicht falsch. Es ist nicht so, dass meine Familie ein Haufen hässlicher Zentauren ist, die ihre Manieren und Gliedmaßen nicht im Griff haben und ihre Zeit mit anderen hässlichen Gestalten beim Fressen und Saufen verplempern. Doch sie provozierten, sie fielen auf, waren irgendwie anders als die Eltern und Verwandten anderer Kinder. Sie verursachten Chaos und machten immer eine große Show. Sie tranken, oftmals auch gerne weit über den Durst; sie spürten Schmerz, sie verursachten Schmerz.
Wenn in diesem Buch von Familie die Rede ist, meine ich Mama, Papa und meine kleine Schwester Lilia. Auch die neue Ehefrau meines Vaters, unser einstiges Kindermädchen Anna, zählt dazu, doch zu ihr später mehr. Dank ihr habe ich später noch zwei weitere (Halb-)Geschwister bekommen, die für meine Geschichte jedoch keine so wesentliche Rolle spielen wie diese drei beziehungsweise vier Hauptpersonen.
Meine Eltern waren komplett verschieden, in einem aber gleich: Beide waren abgedrehte, intellektuelle, querdenkende, polnische Immigranten, mal erfolgreich, mal am Boden, klug und philosophisch, ungreifbar, unantastbar, narzisstisch und egoistisch. Selbst Opfer extrem ehrgeiziger und arbeitswütiger Eltern aus dem polnischen Sozialismus, die mit Kritik nur so um sich warfen und ihnen das Gefühl vermittelten, ungewünscht oder nicht gut genug zu sein. Was das aus meinen Eltern gemacht hatte, bekamen meine Schwester und ich zu spüren, weil sie dieses Erbe auf uns übertrugen: Mama wollte uns verändern, Papa in allem verbessern.
Beide waren selten zu Hause und beschäftigten sich mit Dingen, die nichts mit uns zu tun hatten, hauptsächlich mit ihrer Arbeit. Papa war der Businesstyp und arbeitete mindestens zwölf Stunden täglich selbstständig als Zahntechniker und nach Feierabend als Börsianer. Mama war eher die Alternative und als Dramaturgin am Theater, als Buchautorin und als irgendwer für irgendwas mit Kunst tätig.
Unsere Eltern haben jung geheiratet, sie waren beide gerade einmal Anfang zwanzig. Ich glaube, sie waren zu wild, zu naiv, vielleicht auch ein wenig zu romantisch und liebesbedürftig, um ihr Bündnis rational zu betrachten und eventuell zu hinterfragen. Papa wollte ursprünglich eine herdaffine Hausfrau und hingebungsvolle Mutter. Mama wollte Kultur und Unabhängigkeit und ganz bestimmt keinen Mann, der sich zu Kommerz und Kapitalismus bekannte. Dabei fand er Kunst eigentlich auch ganz gut, er hatte in jungen Jahren sogar selbst gemalt. Er mochte sie nur nicht in dem gleichen Maß wie unsere kunstbesessene Mutter. Eine Mutter, die den Herd eigentlich nur für ihren ersten Kaffee aus der alten Cafetiere anschmiss, und zwar dann, wenn wir Kinder schon längst in der Schule oder an den Wochenenden mittags mit Freunden auf dem Spiel- oder Sportplatz waren. Das fand Papa nicht so gut, was er wohl erst nach ihrer ziemlich spontanen Hochzeit herausfand. Sie stritten also nicht nur, weil sie so unterschiedliche Interessen hatten und vielleicht aus Wut über die gescheiterte Partnerwahl, sondern vermutlich auch weil sie nun durch ihre Kinder ein Leben lang aneinandergebunden waren und versuchen mussten, ihren Nachwuchs zu einigermaßen gesunden Erwachsenen zu erziehen.
Die Ehe hielt nicht lange, genau genommen drei Jahre und zwei Kinder lang. Ein Jahr nach der Hochzeit kam erst ich zur Welt, ein weiteres Jahr später meine Schwester. Es verging nur noch ein weiteres und sie trennten sich. Sie folgten damit einer merkwürdigen »Tradition« in meiner Familie, in der Scheidungen eher die Regel als die Ausnahme sind. Sie betonten später, sie hätten aus Liebe geheiratet und Kinder in die Welt gesetzt, doch als sie sich trennten, war diese vermeintliche Liebe schlagartig tot und die Stimmung ungefähr so wie auf dem hässlichen Bild. Ich sehe meine kleine Schwester und mich noch mittendrin in diesem Chaos. Die Trennung hat uns verwirrt und geprägt. Besonders hart wurde es, als Papa aus- und ziemlich schnell ein anderer Mann bei uns einzog. Der Neue sah aus wie Jesus, war deutlich älter als meine Mutter und auch ein Kunstmensch.
Im Herbst 1991, da war ich fünf, bekam der neue Partner meiner Mutter einen Theaterjob über 600 Kilometer von unserem damaligen Zuhause entfernt, und meine Mutter beschloss, dass wir mitgehen würden. Wir zogen in einen großen Altbau mit Flügeltüren und bekamen tolle Spielsachen, doch unseren Papa nur am Wochenende zu sehen. Dass das überhaupt möglich war, hatten wir nur ihm zu verdanken. Jede Woche fuhr er mit seinem Volvo Kombi aus dem Rheinland zu uns nach Mecklenburg-Vorpommern, holte uns freitags im Kindergarten ab, manchmal sogar schon vor dem Mittagsschlaf. Wir liebten das, weil alle anderen Kinder dann in diesem dunklen, beängstigenden Zimmer schlafen mussten – und wir durften an Papas Hand weggehen und uns über zwei ganze Tage mit ihm freuen. Bis er sonntags wieder zurück nach Hause musste und uns vorher an unsere Mutter und ihren Freund übergab.
Der Ort der »Übergabe« war eine Tankstelle, klein und etwas verkommen, ein unvergesslicher Ort des Grauens, denn wir mussten gegen unseren Willen aus Papas Auto aussteigen und in Mamas Wagen einsteigen. Wir schrien und weinten und klopften gegen ihre Autoscheiben, durch die Papa kaum noch zu sehen war, weil zu viele Tränen flossen und die Scheiben beschlugen und weil Papa schnell wegfuhr, um den Abschiedsschmerz nicht unnötig in die Länge zu ziehen. Einmal sah ich ihn auch weinen. Wir hassten diese Sonntage, wir hassten unsere Mutter, die uns von Papa weggeholt hatte, und wir hassten Papa, weil er es zugelassen hatte. Wir hassten es so lange, bis Mama und ihr Freund sich nach zwei Jahren trennten und sie mit uns wieder zurück zu Papa zog.
Er hatte für unsere Rückkehr ein neues Zuhause organisiert, in einer hübschen Siedlung in Mülheim an der Ruhr. Es war eine große Wohnung mit riesigem Garten, einem Kamin, einer Katze vom Vorbesitzer und einem ausgebauten Keller, den Mama dauerhaft beziehen durfte. Ich weiß nicht genau, ob mein Vater ihr damit unter die Arme greifen wollte oder auf eine Versöhnung mit ihr hoffte oder sich bloß zum Wohle von uns Kindern mit ihr unter einem Dach arrangierte – ich habe ihn nie ausdrücklich danach gefragt. Aber was ich weiß, ist, dass Papa und Mama von diesem Augenblick an eine ganz große Show von einem intakten Familienhaushalt performten.
Dieses Haus, das für meine Schwester und mich zunächst ein Haus der Hoffnung auf eine endgültige Wiedervereinigung unserer Eltern war, wurde zum Haus der Lüge. Es schien, als ob niemand wissen dürfte, dass meine Eltern getrennt und zerstritten waren. Oft traten sie gemeinsam auf, saßen mit Besuch gemeinsam lachend am Tisch, und erst später, wenn alle weg waren, gifteten sie sich an und trennten sich räumlich innerhalb des Hauses. Meine Mutter ging dann mit einer Flasche Wein in ihren Wohnkeller und mein Vater setzte sich mit einer Flasche Bier an seinen Computer oder legte sich mit einem Buch auf die Couch, wo er meist nach nur wenigen Seiten einschlief.
Lilia und ich bewegten uns zwischen unseren zurückgezogenen Eltern und den leeren Räumen und es gab eigentlich keinen, in dem wir mal alle zusammen waren. Gegessen wurde immer getrennt und der Küchentisch diente meist als Ablage für Briefe oder Gläser. Häufig gingen wir den kalten Hausflur hinunter und klopften an die schwere Kellertür, um Mama zu besuchen. Manchmal sagte sie gleich an der Tür »Jetzt nicht« und wir gingen enttäuscht wieder hoch, manchmal ließ sie uns hinein. Ihr Raum war dunkel, da es nur ein schmales Fenster gab und die düsteren Bilder und Teppiche dem wenigen Tageslicht die letzte Projektionsfläche nahmen. Überall lagen Bücher, standen Weinflaschen, halb gefüllte Gläser. Zigarettenrauch lag in der Luft.
Doch Mamas kurze, dunklen Locken waren immer hübsch frisiert, ihr Gesicht akkurat geschminkt. Sie sah aus wie eine vornehme Dame, wenn sie an ihrer Zigarette zog oder an einem Glas nippte. Wir beobachteten sie, wie sie gedankenversunken an ihrem Schreibtisch saß und wir währenddessen mit unseren Puppen auf ihrem Bett spielten oder ihr von der Schule erzählten oder sie baten, uns die Haare zu flechten. Sie hörte uns zu, frisierte uns die Haare – doch viel zu schnell sagte sie meist »So, Schluss« und widmete sich wieder ihrer Arbeit, ihrem Make-up oder dem Wein.
Das alles war total normal und zu diesem Zeitpunkt auch irgendwie okay, solange sie mich nicht küsste....
Blick ins Buch

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