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Ethik der Konflikte

Über den angemessenen Umgang mit ethischem Dissens und moralischen Dilemmata

AutorStephan Sellmaier
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl162 Seiten
ISBN9783170266636
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis24,99 EUR
Mit der steigenden Komplexität unserer Lebenswelt und den damit verbundenen Problemen wachsen die Anforderungen an moralisch vertretbare Lösungen. Im ersten der drei Teile des Buches wird im Rahmen einer Begriffsanalyse die philosophische Möglichkeit von moralischen Dilemmata und ethischem Dissens untersucht. Der zweite Teil widmet sich der Diskussion aktueller bio- und medizinethischer Beispiele für moralische Dilemmata und ethischen Dissens und untersucht deren Ursachen. Der dritte Teil nutzt die gewonnenen Einsichten, um eine normative Theorie der Konfliktbewältigung für die untersuchten Konflikttypen vorzustellen. Diese Theorie ist dazu geeignet, moralisch angemessene Entscheidungen in scheinbar ausweglosen Entscheidungssituationen zu finden.

Prof. Dr. Stephan Sellmaier lehrt Philosophie an der LMU München und ist Akademischer Geschäftsführer des Münchner Kompetenzzentrums Ethik.

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Leseprobe

2 Moralische Probleme


Nachdem ich im ersten Teil mit der begrifflichen Charakterisierung von ethischem Dissens und moralischen Dilemmata und den gegen sie vorgebrachten metaethischen Argumentationen beschäftigt war, möchte ich in dem nun folgenden zweiten Teil Beispiele für derartige Konflikte diskutieren. Dazu muss ich aber zuerst den Bereich der moralischen Probleme beschreiben, dem die von mir unterschiedenen Konfliktarten zugehören. Daraufhin verteidige ich die These, dass der Bereich der moralischen Probleme kein abgeschlossener Bereich sein kann und man deshalb jederzeit mit strukturell neuartigen moralischen Entscheidungsproblemen konfrontiert werden kann. Eine angemessene ethische Theorie muss sich deshalb auch mit der Dynamik unseres ethischen Alltags auseinandersetzen.

Die einfachste und sicherlich erfolgversprechendste Möglichkeit, Beispiele für moralische Konflikte anzugeben, beginnt mit der richtigen Moraltheorie. Ist man in dem Besitz dieser, dann untersucht man nur noch die Möglichkeit moralischer Konflikte in der Theorie und diskutiert die so entwickelten Beispiele. Ist einem dieses Vorgehen verwehrt, da man nicht die richtige ethische Theorie kennt, bleibt einem – neben metaethischen Überlegungen – nur die Möglichkeit allgemeine, theorieneutrale Beispiele zu diskutieren. Ich werde deshalb zunächst ganz allgemeine Überlegungen zur Rolle von Beispielen bei der ethischen Theoriebildung ansprechen und verschiedene Arten, wie hypothetische, imaginäre, literarische und tatsächliche Beispiele unterscheiden.

Nach diesen recht allgemeinen Betrachtungen wende ich mich der konkreten Diskussion von ethischem Dissens zu. Nur moralisch angemessene und akzeptable ethische Theorien können in einen Dissens münden. Da mir kein überzeugendes Kriterium für die Angemessenheit einer ethischen Theorie bekannt ist, versuche ich mich dieser Problematik indirekt zu nähern. Alle ethischen Theorien die miteinander in einen ethischen Dissens münden können – so ist meine These –, müssen einen wechselseitig gemeinsamen Kern haben. Jeder Dissens setzt Gemeinsamkeiten voraus. Anstatt detaillierte Beispiele für den ethischen Dissens anzugeben, habe ich mich auf die Angabe und die Diskussion verschiedener Bereiche – die Bereichsethiken, die vergleichende Anthropologie und die Diskussion von Gegenbeispielen – konzentriert, die typischerweise ethischen Dissens beinhalten.

Die Probleme bei der Angabe von Beispielen für moralische Dilemmata sind theorieimmanent. Ähnlich der Henne-Ei Problematik, in der die Frage aufgeworfen wird, ob zuerst die Henne oder das dazugehörige Ei existieren, stellt sich bei der Diskussion moralischer Dilemmata die Frage, ob für die Formulierung von Beispielen nicht schon immer eine ethische Theorie vorausgesetzt werden muss. Ohne die Annahme einer Theorie lassen sich, das ist die These, gar keine Beispiele angeben. Um diesem berechtigten Vorwurf zu entgehen unterscheide ich zwischen verschiedenen theoriebildenden Funktionen von Beispielen. Ausschließlich Beispiele, die auf die spezifisch wertenden Eigenschaften einer Theorie verweisen, unterliegen der Henne-Ei Problematik. Beispiele für moralisches Verhalten können aber auch allgemeine methodische Eigenschaften normativer Theorien aufdecken. In dieser Funktion, sind die spezifisch wertenden Eigenschaften von untergeordneter und nebensächlicher Bedeutung.

In den darauf folgenden Abschnitten werde ich detaillierte Beispiele für genuine moralische Dilemmata präsentieren. Diese zum Teil ganz neuartigen Beispiele werde ich durch sechs, sie jeweils bedingende verschiedene Ursachen typisieren. Die Kontingenz der Welt, die Vagheit normativer Forderungen, die Gewichtung und Unvergleichbarkeit von Werten, die Uneindeutigkeit von wichtigen Begriffsgrenzen und die Möglichkeit nichtintendierter Nebenfolgen, die durch unsere Ahnungslosigkeit in bestimmten Entscheidungskontexten bedingt sind, ergeben ein reichhaltiges und vielfältiges Bild moralischer Dilemmata.

2.1 Moralische Probleme


Äpfel oder Birnen? Eine Abmachung einhalten oder nicht? Bei der Bundestagswahl wählen oder zu Hause bleiben? Wir werden beständig mit Entscheidungsproblemen konfrontiert. Wodurch unterscheiden sich also vernünftige von unvernünftigen, moralische von unmoralischen Entscheidungen?

Um diese Frage angemessen beantworten zu können, ist es wichtig, die Umstände, in denen Entscheidungen getroffen werden, zu berücksichtigen. Abhängig davon, welche Arten von Umständen in Betracht gezogen werden, lassen sich in der Rationalitätstheorie drei verschiedene theoretische Ansätze unterscheiden. Wenn die Umstände so beschaffen sind, dass bei der Entscheidung der Person keine Interaktionen mit anderen vernunftbegabten Wesen berücksichtigt werden müssen, fällt die Analyse der Entscheidungen in das Gebiet der Entscheidungstheorie. Spielen dagegen Interaktionen mit anderen für meine Entscheidungen eine Rolle, werden sie von der Spieltheoriebetrachtet. Sie stellt das Instrumentarium zur Analyse von interpersonalen Konflikten und von Kooperationen bereit. Das Ergebnis einer Entscheidung hängt in solchen Fällen von den Entscheidungen mehrerer Entscheidungsträger ab, sodass ein Einzelner das Ergebnis nicht unabhängig von der Wahl anderer bestimmen kann. Alle an diesem Entscheidungsproblem Beteiligten sind sich dieser Interdependenz bewusst und wissen auch, dass alle anderen Beteiligten sich dessen bewusst sind. In der Logik kollektiver Entscheidungen, dem dritten theoretischen Ansatz, wird das Zustandekommen rationaler Entscheidungen von Gruppen untersucht, in denen sich nicht alle Beteiligten der genannten Interdependenzen bewusst sind.

Ich möchte die Unterscheidung zwischen der Entscheidungs- und der Spieltheorie nutzen, um den Bereich moralischer Entscheidungsprobleme genauer zu spezifizieren. Unter einem moralischen Problem verstehe ich ganz allgemein eine Entscheidungssituation, in der moralische Überlegungen eine Rolle spielen sollten. Die von mir bislang nur auf der Ebene der Metaethik diskutierten moralischen Konflikte – ethischer Dissens und moralische Dilemmata – sind moralische Entscheidungsprobleme, die mit einem ethischen Patt enden. Ich nehme an dieser Stelle meinen Ausgang zunächst nicht bei derartigen genuinen Konflikten, sondern bei dem sehr viel weiteren Begriff eines moralischen Entscheidungsproblems, und gehe davon aus, dass die Beschreibung derartiger Entscheidungsprobleme keine ethische Theorie voraussetzt und so gesehen theorieneutral geschehen kann. Theoretische Aspekte spielen erst bei der Bewertung beziehungsweise der gerechtfertigten Entscheidung für eine der möglichen Handlungsoptionen eine entscheidende Rolle. Dieses Vorgehen erscheint mir aus zwei Gründen plausibel: Erstens benutzen wir bei der Beschreibung eines normativen Entscheidungsproblems kein spezifisch theoretisches Vokabular, sondern verwenden ausschließlich unsere Alltagssprache. Erst für die Bewertung der unterschiedlichen Handlungsoptionen benötigen wir eine ethische Theorie und dementsprechend theoretisches Vokabular. Zudem, das ist der zweite Grund, ließen sich ethische Theorien nicht vergleichen, sofern sie nicht über denselben Gegenstandsbereich sprächen. Wir vergleichen aber in vielen normativen Entscheidungssituationen die Handlungsanweisungen verschiedener ethischer Theorien und halten dieses Vorgehen für angemessen. Mit dem Verhältnis zwischen einer ethischen Theorie und Beispielen für genuine moralische Konflikte – also bereits bewerteten Entscheidungsproblemen – setze ich mich gesondert bei meiner Diskussion konkreter Beispiele auseinander.42

Ausgangspunkt meiner normativen Untersuchungen sind also Entscheidungssituationen, in denen moralische Überlegungen jeglicher Art eine Rolle spielen. Ob tatsächlich jede Entscheidungssituation auch immer eine moralische Dimension hat, lasse ich dahingestellt. Welche Handlungsoptionen, relevanten Weltzustände und Handlungskonsequenzen – das sind die wesentlichen Bestandteile einer Entscheidungssituation – in einer bestimmten Situation von theoretischer Bedeutung sind, ist jedoch in einer gewissen Hinsicht theorieabhängig. In der Entscheidungstheorie werden beispielsweise alle Handlungen, die zu denselben Konsequenzen führen, als identisch angesehen. Diese Vorgehensweise kann nicht auf moralische Entscheidungsprobleme übertragen werden, da nicht jede angemessene ethische Theorie ähnliche rein konsequentialistische Identitätsannahmen macht.

Es ist also möglich, dass bei der Modellierung eines Entscheidungsproblems verdeckte ethische Überzeugungen zu einer theoretisch eingefärbten Darstellung des Problems führen. Aus diesem Grund muss ich den Begriff der ‚maximal ethischen Beschreibung‘ einer Entscheidungssituation einführen. ‚Maximal‘ ist eine Beschreibung genau dann, sofern keine theoriespezifischen Identitätsmerkmale bezüglich unterscheidbarer Handlungsoptionen, Weltzuständen und Handlungskonsequenzen verwendet werden. Nur maximal ethische Beschreibungen sind für die allgemeine Diskussion normativer Entscheidungsprobleme geeignet. Dabei ist eine maximal ethische Beschreibung von dem aus der Handlungstheorie bekannten ‚Ziehharmonika-Effekt‘ zu unterscheiden.43 Der Ziehharmonika-Effekt bezeichnet die Möglichkeit, ein und dieselbe Handlung auf verschiedene Weisen zu beschreiben. Für eine maximale ethische Beschreibung ist es aber nicht wichtig, ein und dieselbe Handlung auf verschiedene Weisen beschreiben zu können, sondern moralisch unterscheidbare Handlungen unterschiedlich beschreiben zu können. Dazu kommt uns eine gerade in moralischen Kontexten erstaunliche Differenzierungsmöglichkeit unserer Sprache zugute. Viele Handlungsprädikate beziehen sich in...

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