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E-Book

Europa

Eine Strategie

AutorWerner Weidenfeld
VerlagKösel
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl128 Seiten
ISBN9783641143282
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
'Europa - braucht es das überhaupt?' 'Warum wird uns alles aus Brüssel vorgegeben?' 'Als wir noch die D-Mark hatten, war doch eh alles besser.' So oder ähnlich hört man es, wenn Menschen sich über Europa unterhalten.

Der Kontinent findet keine Ruhe. Er driftet von Krise zu Krise. Zweifel an der Handlungsfähigkeit und Legitimation der Europäischen Union dominieren das allgemeine Bild. Die große Mehrheit der Europäer bekundet, dass man das alles nicht versteht. Die Orientierungslosigkeit ist zum eigentlichen Kern des Problems geworden. Die Baustelle Europa benötigt also nichts dringender als eine geistige Ordnung. Werner Weidenfeld gibt eine klare Antwort auf die Fragen und liefert mit dem Buch die leicht verständliche und strategische Antwort.



Werner Weidenfeld, geboren 1947, war 1975-1995 Professor für Politikwissenschaft an der Universität Mainz, 1986-1988 Professeur associé an der Sorbonne, Paris. Seit 1987 war er als Koordinator der Bundesregierung für die deutsch-amerikanische Zusammenarbeit bis 1999 tätig.

Von 1995-2013 war er Inhaber des Lehrstuhls für Politische Systeme und Europäische Einigung an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Weiterhin ist er Direktor des Centrums für angewandte Politikforschung (C-A-P) in München. Weidenfeld ist Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaften.

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Leseprobe

IDENTITÄT

Wer über den Kontinent intensiver nachdenkt, dem stellt sich die elementare Frage: »Europa – aber wo liegt es?«

Europa entzieht sich einfachen Definitionsversuchen. Zu kompliziert und zu widersprüchlich sind die historischen Entwicklungslinien; zu vielschichtig sind die Ergebnisse, zu vielfältig die politischen und kulturellen Faktoren, als dass man dies alles auf einfache, plakative Formeln verkürzen könnte. Hoffnungshorizonte, Untergangsvisionen, beschwörende Appelle: Die Europäer haben zu fast allen Zeiten leichten Zugang zum Pathos großer Formulierungen gefunden. Europa pflegt viele weihevolle Formeln. Die große Kunst – Dante und Dürer, Shakespeare und Schiller, Chopin und Calderón als Symbole der Einheit, dazu noch die Dome, Klöster und Denkmäler – als ob sich daraus ein Hang zum europäischen Gesamtkunstwerk ableiten ließe. Europa als Ideenspender, Europa als Schatzhaus der Ideale – harmonisierendes Pathos packt Redner und Zuhörer, Autoren und Leser. Die Einheit in der Vielfalt – diese pauschale Erklärung musste immer wieder über Einwände und Widersprüche hinweghelfen. Die Fragen sind geblieben. Von der Stunde der ersten Bezeichnung bis zum heutigen Tage sind Begriff und Bild von Europa keine selbstverständlich vorgegebenen Größen.

Die Forderung nach begreifbarer Identität ist aber keine Banalität. Jedes politische System bedarf zur Gewährleistung seiner Handlungsfähigkeit eines Rahmens, auf den sich die Begründung für Prioritäten und Positionen bezieht. Es bedarf der Filter zum Ordnen aller eingehenden Informationen.

Halten wir fest, wie Europa die diversen Schichten der Identität abgelagert hat6:

Europa war immer zugleich ein geografischer Begriff und eine normative Herausforderung. Die Bedeutung von Europa wurde vor mehr als 2500 Jahren im antiken Griechenland geprägt. Das Wort stammt aus der alten griechischen Mythologie: Europa war die schöne Braut des mächtigen Gottes Zeus. Wenn griechische Denker von Europa sprachen, dann dachten sie an ihre Zivilisation, ihr von »barbarischen«, nicht kultivierten Völkern eingeschlossenes Land. Griechische Kultur wurde als das Herzstück dessen betrachtet, was die Idee von Europa repräsentierte. In dieser Zivilisation voll philosophischen Geistes begründeten die Griechen eine Definition öffentlicher Angelegenheiten als Verantwortung, die vollständig auf der Verantwortung des Bürgers beruhte. Jeder freie Bürger sollte freiwillig zur öffentlichen Ordnung der Polis beitragen. Für mehr als 2500 Jahre war dies der Dreh- und Angelpunkt demokratischen Denkens.

Daran anschließend gilt es mehrere miteinander verknüpfte Gründe vorzustellen, um zu erläutern, warum Geschichte die Ausformung einer europäischen Identität entscheidend bestimmt:

Europa war von Anfang an nicht nur ein geografisches Gebilde, sondern eine Kombination aus territorialer Expansion und kulturellen Werten, aus Auffassungen und normativen Elementen. Mit jeder neuen Entdeckung, Kolonisierung und Eroberung erweiterten sich Europas Grenzen über die kleine griechische Halbinsel mit ihrer fortgeschrittenen Kultur hinaus nach Norden, Süden und Westen des Kontinents.

Europäer haben immer die politischen Grenzen des Kontinents hinterfragt. Europa ist durch natürliche Grenzen im Norden, im Westen und im Süden begrenzt, nicht aber im Osten. Auch heute noch, angesichts der Erweiterung der Europäischen Union, ist der Kontinent mit dem elementaren Problem seiner unbestimmten Grenze konfrontiert.

Im Altertum wurde der Begriff »Europa« mit dem Territorium des mächtigen Römischen Reiches assoziiert, das beinahe ganz Europa mit einer effektiven Bürokratie und der Idee einer Rechtsordnung versah: Der Staat beruhte auf Recht und Gesetz. Unser heutiges Erbe in Europa wird bestimmt von einer Rechtsstaatlichkeit, die dieser langen kulturellen Geschichte entstammt. Von zentraler Bedeutung war zudem die Konvertierung des römischen Kaisers Konstantin zum Christentum um das Jahr 330 n. Chr. Es wurde erwartet, dass das Bild und die territoriale Ausdehnung Europas von der Expansion des (westlichen) Christentums abhängig wurden. Europa konnte überall dort gefunden werden, wo Gottesdienste in lateinischer Sprache gehalten wurden.

Europa wurde viele Jahrhunderte lang durch seine religiösen Fundamente getragen. Heute sind ungefähr 200 Millionen von knapp 500 Millionen Einwohnern der Europäischen Union römisch-katholisch, weniger als 100 Millionen sind protestantisch, 12 Millionen sind moslemisch und eine Million Hindu. Die religiöse Fundierung brachte auch religiöse Konflikte mit sich. Territoriale Grenzen veränderten sich infolge religiöser Machtpolitik. Als Konsequenz daraus trat Migration auf. Dies geschah nicht nur, weil die Grenzen sich oft verschoben haben, sondern auch, weil Menschen wegen religiöser Verfolgung ihre Heimat verlassen mussten. Trotz dieser Migrationsbewegungen verblieben Minderheiten in vielen Ländern und wurden als Quelle von Spannungen betrachtet. Wenn man eine Karte zeichnen würde, die alle diese verschiedenen Grenzen durch die Geschichte hindurch umfasst, so würde man ein sehr dichtes und enges Raster voller Grenzlinien erhalten. Nur drei moderne Nationen erlebten in ihrer jeweiligen Geschichte eine Art Überlappung von religiösen und territorialen Grenzziehungen. Dies waren England und die Kerngebiete Frankreichs und Spaniens. In allen anderen Regionen Europas haben sich die Grenzen mehr oder weniger häufig verändert.

Vor diesem Hintergrund von Migration und Grenzverschiebungen haben Minderheitskonflikte die politische Landkarte Europas bestimmt. So leben heute in Osteuropa beispielsweise mehr als 25 Prozent der Bevölkerung als nationale Minderheiten in ihren Gesellschaften. Alle diese Länder entwickelten sich vom 17. bis zum 19. Jahrhundert schrittweise zu modernen Nationalstaaten. Damit wurde der Nationalstaat zur normalen und regulären politischen Ordnung. Die Bildung von Nationen – idealerweise betrachtet als Gesellschaften mit einem gemeinsamen politischen Willen und gemeinsamen Perspektiven – garantierte jedoch nicht die friedliche Koexistenz der Nationalstaaten. Im Gegenteil, die Kriegserfahrung wurde ein höchst emotionaler Teil des kollektiven Gedächtnisses, die bis heute zutiefst verwurzelt geblieben ist. Demzufolge ist Nationalismus ein ausgeprägtes Element des europäischen Selbstverständnisses.

Europa hat eine mehr als 2000 Jahre alte, von Kriegen geprägte Geschichte. Gleichzeitig gab es jedoch auch europaweite Epochen der Kunst, Dichtung, Architektur, des Theaters, der Musik und anderer gemeinsamer intellektueller Erfahrungen mit Philosophie und politischen Ideen. Die gemeinsame Idee der Aufklärung ging daraus hervor. Diese wurde seit dem Ende des 18. Jahrhunderts das Schlüsselerlebnis für Europa. Der beherzte Gebrauch des eigenen Intellekts ist die zentrale Lehre der Aufklärung. Der Verstand wird als Grundlage des Menschseins betrachtet. Religiöser Glaube wird als individuelle Beziehung zu Gott gesehen und definiert nicht länger die Ordnung des politischen Lebens.

Die Kräfte der Aufklärung trennten Kirche und Staat. Der säkulare Staat wurde zum Standard der politischen Ordnung in Europa. In diesem Konzept muss der ideale Staat gegenüber jeglicher Religion neutral sein. Alle Menschen haben das gleiche Recht auf Würde, unabhängig von der individuellen Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion oder Ethnie.

Keine dieser Entwicklungen ist vollständig aus unserem europäischen Selbstverständnis verschwunden: die Kombination aus territorialer Expansion und kulturellen Werten, die Frage der Grenzen, das Erbe der Religion in einer säkularen Welt, Migration und Minderheitenkonflikte sowie Europas Geschichte als eine Geschichte von Kriegen auch zwischen säkularen Nationalstaaten. All diese divergierenden, facettenreichen Faktoren sind wesentliche Teile unseres kollektiven Verständnisses von Europa. Sie definieren die Gegenwart und das Selbstverständnis von Europas Zukunft und der europäischen Identität.

Nach dem Zweiten Weltkrieg gelang es den Europäern, ihre scheinbar schicksalshaften kriegerischen Auseinandersetzungen zu überwinden. Sie änderten ihr gesamtes System der politischen Zusammenarbeit und der politischen Kultur. Der neue Schlüsselbegriff dieses neuen Systems der Koordination politischen und kulturellen Lebens war »Integration«.

Diesen historischen Erfahrungshorizont müssen wir nun auf die gegenwärtige Lage Europas projizieren:

In keinem politischen System existiert eine politische Ratio gleichsam als Ding an sich, ohne Bezugnahme auf einen elementaren Konsens, auf gemeinsame historische Erfahrungen und Interessen. Man mag es politische Kultur, mag es kollektives Selbstverständnis, man mag es Identität nennen. Europa kann auf diese Ressource gemeinsamer Selbstwahrnehmung aber nur sehr begrenzt zurückgreifen. Natürlich existieren auch hier gemeinsame Erfahrungen, die Ablagerungen einer konfliktreichen Geschichte und die Erlebnisse gemeinsamer Erfolge.

Aber diese Schicht europaweiter Gemeinsamkeit bleibt vergleichsweise dünn. Sie reicht, um einen gemeinsamen Markt zu begründen. Aber sie offenbart ihre Schwäche bei jedem Schritt, der darüber hinausgeht. Die Europäer erzählen sich nicht eine gemeinsame Geschichte. Selbst die traumatische Erfahrung der Rückkehr des Krieges auf dem Balkan wurde nicht gemeinsam verarbeitet, sondern in getrennten nationalen Erlebniskulturen. In Großbritannien anders als in Deutschland, in Frankreich anders als in Italien. Das gilt auch für andere große Themen – von der Wirtschafts- und Währungsunion bis zur Verfassungsfrage. Ohne einen solchen Kontext der...

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