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In Europa

Eine Reise durch das 20. Jahrhundert

AutorGeert Mak
VerlagSiedler
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl944 Seiten
ISBN9783641202255
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Europa erfahren - Geert Mak auf den Spuren des zwanzigsten Jahrhunderts
Für dieses Buch ist Geert Mak ein Jahr lang kreuz und quer durch Europa gereist. Zunächst besucht er Paris, wo das 20. Jahrhundert mit der großen Weltausstellung seinen optimistischen Anfang nahm. Zuletzt befinden wir uns in den Ruinen Sarajevos, die das Ende des blutigen Jahrhunderts markieren. In jedem Monat seiner Reise nimmt sich Mak einen weiteren Abschnitt des 20. Jahrhunderts vor und sucht die Orte auf, an denen die Geschichte in besonderer Weise Spuren hinterlassen hat. Ein bewegendes, kluges Buch, das uns zu Augenzeugen des 20. Jahrhunderts macht.
Geert Mak, der große Erzähler unter den Historikern unserer Zeit, legt mit diesem Buch sein bisheriges Hauptwerk vor. Seine Geschichte des 20. Jahrhunderts ist als ein Reisebericht angelegt und als eine Bestandsaufnahme Europas am Ende eines katastrophenreichen Jahrhunderts zu lesen. Wie kein Zweiter versteht es Mak, der Geschichte Europas im 20. Jahrhundert ein Gesicht zu geben, sie in zahllosen Details sichtbar, fühlbar, sinnlich wahrnehmbar zu machen.
Auf seiner Reise sprach er mit Schriftstellern und Politikern, mit Dissidenten und hochrangigen Offizieren, mit einem Bauern aus den Pyrenäen und mit dem Enkel des letzten deutschen Kaisers sowie mit zahlreichen anderen Europäern, die ihm ihre Erfahrungen und Erinnerungen anvertraut haben. Dieses kluge und bewegende Buch macht uns zu Augenzeugen des letzten Jahrhunderts und lässt uns Europa in seiner heutigen Form besser begreifen.


Geert Mak, geboren 1946, ist einer der bekanntesten Publizisten der Niederlande und gehört nach drei großen Bestsellern zu den wichtigsten Sachbuchautoren des Landes. Zu seinen bekanntesten Veröffentlichungen zählen »Amsterdam« (1997), »Das Jahrhundert meines Vaters« (2003) und »In Europa« (2005). Zuletzt erschienen »Amerika! Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten« (2013) sowie »Die vielen Leben des Jan Six« (2016). Für sein Werk erhielt Geert Mak 2008 den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. Seine Bücher sind internationale Bestseller und wurden in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt.

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Leseprobe

Prolog


Niemand im Dorf hatte jemals das Meer gesehen – außer dem Bürgermeister und Jószef Puszka, der im Krieg gewesen war. Die Häuser lagen um einen schmalen Bach herum, eine Hand voll weiße Bauernhöfe, grüne Gärten, bunte Apfelbäume, zwei kleine Kirchen, alte Weiden und Eichen, Holzzäune, Hühner, Hunde, Kinder, Ungarn, Schwaben, Zigeuner.

Die Störche waren bereits fortgezogen. Ihre Nester ruhten still und verlassen auf den Schornsteinen. Der Sommer glühte langsam aus, der Bürgermeister mähte schwitzend die Gemeindewiese. Kein Maschinengeräusch war zu hören, nur Stimmen, ein Hund, ein Hahn, Gänse, die die Straße überquerten, ein hölzerner Pferdewagen, der knarrend vorüberfuhr, die Sense des Bürgermeisters. Am späten Nachmittag wurden die Öfen angezündet; ein dünner blauer Rauchschleier zog über die Dächer. Hin und wieder quiekte ein Schwein.

 

Es waren die letzten Monate des Jahrtausends, und ich reiste im Auftrag meiner Zeitung, des NRC/Handelsblad, ein Jahr lang kreuz und quer durch Europa und schrieb Tag für Tag einen kurzen Artikel, der unten rechts auf der Titelseite veröffentlicht wurde. Es war eine Art abschließende Inspektion: Wie sieht der Kontinent am Ende des 20. Jahrhunderts aus? Zugleich war es auch eine Reise durch die Zeit: Ich folgte, soweit das möglich war, dem Lauf der Geschichte, auf der Suche nach den Spuren, die sie hinterlassen hatte. Und tatsächlich fand ich ihre stummen Zeugen, zu Dutzenden: eine zugewachsene Mulde an der Somme, einen von Maschinenpistolenkugeln zerfetzten Türpfosten in der Oranienburger Straße in Berlin, einen schneebedeckten Wald bei Vilnius, ein Zeitungsarchiv in München, einen Hügel hinter Barcelona, eine kleine, weiß-rote Sandale in Auschwitz. Doch diese Reise hatte auch etwas mit mir zu tun. Ich wollte raus, Grenzen überschreiten, erfahren, was dieser nebulöse Begriff »Europa« bedeutet. Europa, das wurde mir im Laufe dieses Jahres klar, ist ein Kontinent, auf dem man mühelos in der Zeit hin und her reisen kann. Die verschiedenen Phasen des 20. Jahrhunderts sind alle noch irgendwo existent. Auf den Fähren in Istanbul herrscht das Jahr 1948, in Lissabon 1956. Am Gare de Lyon in Paris fühlt man sich wie im Jahr 2020; in Budapest haben junge Männer die Gesichter unserer Väter.

In dem südungarischen Dorf Vásárosbéc ist die Zeit bei 1925 stehen geblieben. Dort leben ungefähr zweihundert Menschen, und mindestens ein Viertel von ihnen sind Zigeuner. Die Familien bekommen Sozialhilfe – etwa sechzig Euro pro Monat –, und die Frauen gehen mit Körben und irgendwelchen Waren von Tür zu Tür. Ihre Häuser zerfallen nach und nach, die Türen sind nurmehr Tücher, manchmal fehlt gar der Türrahmen, weil er wohl in einem kalten Winter verheizt worden ist. Noch ärmer sind die rumänischen Zigeuner, die manchmal mit hölzernen Wohnwagen ins Dorf kommen. Und ärmer als arm sind die umherziehenden albanischen Zigeuner. Sie sind außerdem die Parias aller anderen Armen, die größten Schlemihle Europas.

 

Ich wohnte bei Freunden. Sie hatten nach dem Tod des alten József Puszka, der früher der Dorffrisör gewesen war, dessen Haus bezogen. Auf dem Dachboden fanden sie ein winziges Notizbuch, das mit Bleistiftgekritzel aus dem Frühjahr 1945 gefüllt war, in dem Ortsnamen wie Aalborg, Lübeck, Stuttgart und Berlin vorkamen. Jemand entzifferte ein paar Zeilen:

Im Gefangenenlager Hagenau. O mein Gott, ich habe niemanden auf dieser Welt. Vielleicht gibt es, wenn ich wiederkomme, nicht einmal mehr ein Mädchen für mich im Dorf. Ich bin wie ein kleiner Vogel, der in der Ferne ruft. Niemand schaut nach der lieben Mutter und dem kleinen Vögelein. O mein Gott, hilf mir bitte, nach Hause zu kommen, zu Vater und Mutter. So weit entfernt von meinem Land, so weit entfernt von jedem Weg.

Mitten im Dorf, neben einem schlammigen Weg, stieß ich auf einen verwitterten Betonklotz, der mit einer Art Ritterfigur und zwei Jahreszahlen versehen war: 1914 und 1918. Darunter sechsunddreißig Namen, sechsunddreißig junge Männer, so viele wie in die Dorfkneipe passen.

1999 war das Jahr des Euro gewesen, Mobiltelefone hatten allgemeine Verbreitung gefunden, das Internet war zum Allgemeingut geworden, in Novi Sad hatten die Alliierten Brücken bombardiert, die Effektenbörsen in Amsterdam und London feierten; der September war der wärmste seit Menschengedenken gewesen, und man fürchtete sich vor dem Millennium-Bug, der am 31. Dezember alle Computer ins Chaos stürzen würde.

In Vásárosbéc war 1999 das Jahr, in dem der Müllmann seine Runde zum letzten Mal mit Pferd und Wagen machte. Zufällig war ich Zeuge dieses historischen Augenblicks. Er hatte sich einen Lastwagen gekauft. Im selben Jahr hatten vier arbeitslose Zigeuner damit begonnen, ein weiteres Stück Sandweg zu planieren; vielleicht würde es ja asphaltiert werden. Und der Glöckner wurde entlassen: Er hatte die Pension der Mutter des Bürgermeisters unterschlagen. Auch das geschah 1999.

 

In der Dorfkneipe traf ich sie alle: den Bürgermeister, die wilde Maria, den Zahnlosen (den man auch »den Spion« nannte), den betrunkenen Nichtsnutz, die Zigeuner, die Frau des Postboten, die bei ihrer Kuh wohnte. Ich machte Bekanntschaft mit dem Veteranen, einem großen, freundlichen Mann im Tamanzug, der seine Alpträume mit Alkohol und berauschenden Pilzen vertrieb. Er spreche Französisch, behaupteten alle, doch das einzige Wort, das ich ihn sagen hörte, war »Marseille«.

Später am Abend sangen der neue Glöckner und der Müllmann alte Lieder, und die anderen schlugen dazu auf den Tischen den Takt:

Wir arbeiteten im Wald, früh
im ersten Morgenlicht,
als der Tag noch voller Nebel und Tau war,
arbeiteten wir bereits zwischen den Stämmen,
hoch oben am Hang, mühsam mit Pferden den Hang hinauf …

und:

Wir arbeiteten an der Strecke von Budapest nach Pécs,
an der großen, neuen Eisenbahnstrecke,
am großen Tunnel bei Pécs …

In diesem Jahr des Herumreisens durch Europa hatte ich den Eindruck, alte Farbschichten abzuschaben. Stärker als je zuvor wurde mir bewusst, dass Generation um Generation eine Kruste der Distanz und der Entfremdung zwischen Ost- und Westeuropäern gewachsen war.

Haben wir Europäer eine gemeinsame Geschichte? Zweifellos, und jeder Student kann die Stichwörter und Daten aufsagen: Römisches Reich, Renaissance, Reformation, Aufklärung, 1914, 1945, 1989. Doch die individuellen historischen Erfahrungen der Europäer sind sehr verschieden: In Danzig traf ich einen älteren Taxifahrer, der in seinem Leben viermal eine neue Sprache hatte lernen müssen; ich schloss Bekanntschaft mit einem deutschen Ehepaar, das ausgebombt und anschließend lange Zeit durch Osteuropa gehetzt war; ich besuchte eine baskische Familie, die Heiligabend in einen heftigen Streit über den Spanischen Bürgerkrieg geraten war und danach nie wieder ein Wort darüber verlor; gleichzeitig stieß ich bei den Niederländern, Dänen und Schweden auf eine friedliche Sattheit: An ihnen waren die Stürme meistens vorübergegangen. Man setze Russen, Deutsche, Briten, Tschechen und Spanier an einen Tisch und lasse sie die Geschichte ihrer Familien erzählen. Lauter verschiedene Welten. Und doch sind sie alle Europa.

Die Geschichte des 20. Jahrhunderts war schließlich kein Theaterstück, dessen Vorstellung sie besuchten, es war ein größerer oder kleinerer Teil ihres – und unseres – eigenen Lebens. »Wir sind ein Teil dieses Jahrhunderts. Und dieses ist ein Teil von uns«, schrieb Eric Hobsbawm zu Beginn seiner großen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Für ihn selbst zum Beispiel war der 30. Januar 1933 nicht nur – und er betont, dass wir dies nie vergessen dürfen – der Tag, an dem Hitler zum Reichskanzler ernannt wurde, sondern auch ein Winternachmittag in Berlin, an dem ein fünfzehnjähriger Junge mit seiner Schwester von der Schule nach Hause ging und irgendwo unterwegs die Schlagzeile einer Zeitung sah: »Ich kann sie noch immer, wie im Traum, vor mir sehen.«

Für meine hochbetagte Tante Maart in Schiedam, die damals sieben Jahre zählte, war zum Beispiel der 3. August 1914, der Tag, an dem der Erste Weltkrieg ausbrach, ein warmer Montagnachmittag, auf den sich plötzlich ein starkes Gefühl der Beklemmung legte. Arbeiter standen in Gruppen vor den Häusern und diskutierten, Frauen wischten sich die Augen mit einem Zipfel ihrer Schürze, ein Mann rief einem Freund zu: »Mensch, Krieg!«

Für Winrich Behr, der später in diesem Buch zu Wort kommen wird, war der Fall von Stalingrad das Telegramm, das er als deutscher Verbindungsoffizier erhielt: »31. 1. 07.45 Uhr Russe vor der Tür. Wir bereiten Zerstörung vor. AOK 6, Ia. 31. 1. 07.45 Uhr. Wir zerstören. AOK 6.«

Für Ira Klejner aus Sankt Petersburg bedeutete der 6. März 1953, der Tag, an dem Stalins Tod bekannt gegeben wurde, eine Küche in einer kommunalen Wohnung, ein zwölfjähriges Mädchen, die Angst, nicht weinen zu können, und die Erleichterung darüber, dass doch noch eine Träne von der Wange fiel, genau in den Dotter des Spiegeleis auf ihrem Teller.

Für mich, den neunjährigen Jungen, der ich damals war, roch der November 1956 nach Paprikaaufläufen, jenen merkwürdigen Gerüchen, die die ungarischen Flüchtlinge in unser gediegenes Leeuwarder Grachtenhaus mitbrachten – stille, schüchterne Menschen, die mit Donald Duck-Heften Niederländisch lernten.

 

Nun ist auch das 20. Jahrhundert Geschichte geworden, unsere persönliche Geschichte und die der...

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