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Europa neu erfinden

Vom Überstaat zur Bürgerdemokratie

AutorRoman Herzog
VerlagSiedler
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl160 Seiten
ISBN9783641137786
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Für ein Europa der Bürger
Roman Herzog ist bekannt für seine klaren Worte. Ob als Präsident des Bundesverfassungsgerichtes oder Bundespräsident, stets benennt er deutlich die drängenden Probleme unserer Zeit und warnt eindringlich vor kommenden Krisen. In seinem neuen Buch setzt sich Roman Herzog nun mit den Risiken und Chancen des europäischen Einigungsprojekts auseinander - und erklärt, warum wir Europa neu denken müssen, um es zu bewahren.

Das Thema Europa begleitet Roman Herzog durch sein gesamtes politisches Leben. In den Jahren nach dem Ausscheiden aus dem Amt des Bundespräsidenten ist es zu einem Herzensthema für ihn geworden. Obwohl Herzog die Bedeutung der europäischen Einigung für die Wahrung von Frieden und Wohlstand betont, warnt er doch auch vor einer Union, die sich zu einem Überstaat entwickelt und dadurch die Mitgliedstaaten und deren Parlamente entmachtet.
Europa wird nur dann stark und lebensfähig sein, ist Herzog überzeugt, wenn es sich neu erfindet. Nur so wird es gelingen, die EU aus der derzeitigen Krise zu führen und zu einer demokratischen und freien Union zu formen, die von den Menschen in allen Mitgliedsländern akzeptiert wird. Herzogs Buch ist ein nötiger Weckruf für die Politik und eine Orientierung für die Bürger Europas.

Roman Herzog, Jahrgang 1934, war Jurist und Politiker. Von 1966 bis 1969 war er Professor an der FU Berlin, danach an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer; von 1978 bis 1980 war er Kultusminister und von 1980 bis 1983 Innenminister in Baden-Württemberg. 1983 wurde er Vizepräsident und 1987 Präsident des Bundesverfassungsgerichts, von 1994 bis 1999 bekleidete er das Amt des Bundespräsidenten. Herzog veröffentlichte zahlreiche staatsrechtliche, politische und historische Bücher, u. a. 'Vision Europa. Antworten auf globale Herausforderungen' (1996) und 'Wider den Kampf der Kulturen. Eine Friedensstrategie für das 21. Jahrhundert' (2000), zuletzt erschienen seine Erinnerungen 'Jahre der Politik' (2009). Roman Herzog starb im Januar 2017 im Alter von 82 Jahren.

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Leseprobe

Die Mitgliedstaaten der EU sind ohne Ausnahme Demokratien und müssen es nach den Gemeinschaftsverträgen auch sein. Schon deshalb ist auch für die EU selbst die demokratische Struktur eine Selbstverständlichkeit.

Die Frage ist allerdings, was darunter konkret zu verstehen ist. Die Verfassungen der Mitgliedstaaten, die sich samt und sonders als Demokratien bezeichnen, unterscheiden sich nämlich gerade in der Detailausstattung »ihrer« Demokratie zum Teil erheblich, und es stellt sich durchaus die Frage, ob und auf welche Weise sich unter diesen Umständen eine Art gemeinschaftlichen Demokratieverständnisses gewinnen lässt, an das zumindest die Führungsorgane der EU gebunden wären.

Die fehlende Nation

Im Zentrum dieser Thematik steht ein Leitsatz, den alle demokratischen Staaten in den Kernbestand ihrer Verfassung aufgenommen haben. Im Grundgesetz lautet er: »Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.« Andere Verfassungen mögen – nicht zuletzt aus historischen Gründen – etwas andere Formulierungen verwenden. Aber die Sache ist immer dieselbe: Oberster Inhaber der Staatsgewalt ist das Staatsvolk, das »der Souverän« in seinem Staatsgebiet ist.

Dieser Satz klingt, wie man argwöhnen mag, verdächtig nach der sogenannten Drei-Elemente-Lehre von Georg Jellinek, mit der zumindest die deutsche Staatstheorie bis vor zwei Generationen über die Runden zu kommen versuchte. Ein Staat, so hieß es da kurz und bündig, setzt drei Elemente voraus: ein Staatsvolk, das in einem umgrenzten Staatsgebiet lebt und einer konkreten Staatsgewalt unterworfen ist. Dieser Definitionsversuch endet, sobald man ihn wörtlich nimmt, freilich in einem gewaltigen Zirkelschluss, einer petitio principii. Denn er gibt keinerlei Auskunft darüber, wodurch sich ein Staatsvolk von anderen Völkern, ein Staatsgebiet von anderen Territorien und eine Staatsgewalt von anderen Herrschaftsformen, etwa kommunaler Art, unterscheidet.

Man kann das damit erklären, dass die Drei-Elemente-Lehre – aus der Zeit ihres Entstehens zumindest verständlich – von Vorstellungen der absoluten Monarchie ausging, für die der Monarch, wenigstens zunächst, alles allein »besaß«: Volk, Gebiet und Regierungsgewalt. Was uns heute als Zirkel erscheint, war damals augenscheinlich ein Teil aus einem sehr viel größeren Bild, das zwar drei Elemente sekundärer Natur zeigte, nicht aber das Hauptelement »Monarch«, auf dieses Hauptelement jedoch zurückgreifen musste, wenn man die drei Elemente inhaltlich näher bestimmen wollte.

Oder noch schärfer ausgedrückt: Die Drei-Elemente-Lehre blieb von Anfang an die Antwort auf die Frage schuldig, was man sich denn nun unter einem »Volk« vorstellen solle: eine Masse von »Untertanen«, als die man sie in Zeiten des Absolutismus wie selbstverständlich betrachtete, oder eine Masse von »Bürgern«, die man sich auch als frei, selbstständig, aktiv, selbstverantwortlich vorstellen musste. In den modernen Demokratien ist, zumindest der Theorie nach, nur der zweite Weg begehbar.

Demokratische Staaten bestehen also, wiederum der Theorie nach, nicht aus Untertanen, sondern aus entscheidungs- und handlungsbereiten Bürgern – und deren Zusammenschlüsse bezeichnet man als Nationen. Einen Staat ohne Nation mag es einst gegeben haben und unter Umständen auch heute noch irgendwo geben, ein demokratischer Staat ohne Nation dagegen ist schon begrifflich eine Unmöglichkeit.

Die EU aber verfügt bis zum heutigen Tage über keine Nation. Dies vollständig zu begründen würde hier viele Druckseiten beanspruchen und den Rahmen dieser Schrift sprengen. Darum belassen wir es bei der Feststellung, dass sich in zahllosen Einzeluntersuchungen zu diesem Problem nicht ein einziges Element gefunden hat, dessen Vorliegen als unwiderlegliches Argument für die Zugehörigkeit der Bürger eines Landes zu einer Nation gelten könnte. Schon bei den Sprachen wäre das nur möglich, wenn man die fast in allen europäischen Staaten gesprochenen Minderheitssprachen unter den Tisch fallen ließe. Geschichtliche Erfahrungen mögen stets mehreren Völkern gemeinsam sein, haben allerdings den fast unüberwindlichen Nachteil, dass sie von den beteiligten Völkern gegeneinander gemacht wurden und daher bis in die Gegenwart hinein höchst unterschiedlich interpretiert werden. Eine gemeinsame Kultur gibt es fast in allen Staaten Europas, aber es handelt sich dabei doch meist nur um Teile der »Gebildeten-Kultur«, während die sogenannten Volkskulturen, wenn sie schon nicht trennen, so doch jedes Volk oder jeden Volksteil in seiner Eigenständigkeit bestärken. Mit allen diesen Teilaspekten ist also, sobald man nüchtern an die Dinge herangeht, »europapolitisch« wenig anzufangen.

Es gibt eine ungemein simple, zugleich aber kaum zu widerlegende »Messmethode«, die das alles fast schlaglichtartig beleuchtet: die Bereitschaft der europäischen Völker, sich ungeliebten Mehrheits- oder Kompromissentscheidungen in solchen Fragen unterzuordnen, in denen sie selbst oder wenigstens ihre Regierungen »eine Kröte schlucken« müssen. Es sagt sich ja sehr leicht dahin, dass in der Demokratie die Mehrheit entscheidet und dass Kompromissbereitschaft die höchste demokratische Tugend ist. Aber warum soll – um nur die Mehrheitsfrage herauszugreifen – die unterlegene Minderheit sich eigentlich der Mehrheit beugen? Der Glaube an die größere Weisheit der Mehrheit kann es ja nicht sein. Zu oft hat sich herausgestellt, wie töricht, ja verbrecherisch auch demokratische Mehrheiten sein können. Also bleibt nur die Hoffnung auf ein irgendwie bestehendes Zusammengehörigkeitsgefühl, das zudem stärker sein müsste als der jeweils reale Dissens. Auf der Ebene der europäischen Staaten ist das bislang das Nationalgefühl, im gesamteuropäischen Kontext aber lässt die Entstehung einer vergleichbaren Zentripetalkraft noch immer auf sich warten. Europa hat keine eigene Öffentlichkeit, es hat keine eigene Zivilgesellschaft und erst recht kein eigenes Nationalbewusstsein. Man braucht die rhetorischen Exzesse aus den Folgen der Euro-Krise, in denen es »mit dem Löffel groß und schwer« wieder einmal über Deutschland »hergegangen« ist, hier gar nicht zu bemühen. Ich glaube schon nicht, dass es unter den 28 Mitgliedstaaten der EU auch nur einen einzigen gibt, dessen Bürger sich in wichtigen Fragen – beispielsweise – durch eine aus deutschen, französischen, spanischen und polnischen Stimmen gebildete Mehrheit überstimmen ließen. Und die Zahl der weiteren Beispiele, die zu diesem Thema beigetragen werden könnten, ist groß und wird, wenn nicht alles trügt, noch weiter wachsen. Vor allem wird das Thema weitere Diskussionen um die europäische Verfassunggebung beeinflussen, wie im Folgenden ausgeführt wird.

So viel ist jedenfalls jetzt schon klar: kein Staat ohne Nation. Die EU hat keine Nation. Also ist sie kein Staat im hergebrachten Sinn.

Mit begriffstheoretischen Überlegungen allein, wie wir sie bisher angestellt haben, ist dem viel beklagten Demokratie-Defizit der EU allerdings nicht beizukommen und mit der Behandlung, die dem Thema in unseren Medien zuteil wird, verhält es sich nicht anders. Wenn diese das Thema behandeln, denken sie meist nur daran, dass die Europäische Kommission trotz ihrer wachsenden Macht weder vom europäischen Volk noch vom Europäischen Parlament gewählt wird und dass ferner das immerhin volksgewählte Parlament trotz aller Verbesserungen aus jüngster Vergangenheit noch bei Weitem nicht jene Rechte besitzt, deren sich die Parlamente der Mitgliedstaaten schon seit Generationen erfreuen. Aber das ist nur ein schmaler Ausschnitt aus der Problematik, um die es hier geht.

Wichtiger als die Verankerung im Parlamentarismus wäre es, dass die EU und ihre leitenden Organe über ausreichende Akzeptanz in der Unionsbürgerschaft verfügten, das heißt über die freiwillige und nachhaltige Zustimmung ihrer Bürger, nicht nur zur europäischen Einigung als solcher, die kaum jemand wirklich infrage stellt, sondern auch zu den wesentlichen Entscheidungen und vor allem zu den Prinzipien, aus denen heraus solche Entscheidungen entstehen und in die sie sich auch kontrollierbar einpassen lassen müssen. Aber davon ist man noch meilenweit entfernt.

Im Kern handelt es sich hier um einen Teilaspekt des Problems, das in dieser Schrift als Vertrauensverlust oder Vertrauenskrise bezeichnet wird. Aber dieser Teilaspekt ist konkreter als das Gesamtproblem und soll hier daher auch konkreter besprochen werden. Des Pudels Kern ist nämlich das Verfahren, in dem Entscheidungen der EU zustande kommen. Der einfache Bürger erlebt die Brüsseler Politik nicht in Parlamentsdebatten und Parlamentsberichterstattung, sondern in Kommissions- und Ausschussverhandlungen, die fast regelmäßig ohne wirkliche Begleitung durch fachkundige Medien stattfinden – und die Entscheidungsträger selbst führen darüber meist nicht einmal eine öffentliche Diskussion. Man klagt zwar darüber, dass es noch keine »europäische Öffentlichkeit« gebe, was wohl ein Ersatz für die fehlende europäische Nation sein soll, aber es versucht niemand wirklich ernsthaft, eine solche Öffentlichkeit herzustellen, ja man lässt sogar den Eindruck zu, als wüsste man, wenn es sie denn gäbe, mit ihr auch gar nicht viel anzufangen.

Ein nahezu klassisches Beispiel dafür boten die öffentlichen Stellungnahmen der EU-Protagonisten zum ursprünglichen Verfassungsentwurf der EU. Solange man die Zustimmung aller Mitgliedstaaten – und das heißt ja auch ihrer...

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