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Europa in sieben Tagen

Moralische Vermessungen

AutorClemens Sedmak
VerlagVerlag Anton Pustet
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl136 Seiten
ISBN9783702580162
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Sieben besondere Tage aus den vergangenen 50 Jahren lädt der Philosoph Clemens Sedmak zum imaginären Geburtstagsfest der Europäischen Union: etwa den 15. Februar 2003, an dem die Massen gegen den Irakkrieg demonstrierten; den 29. April 2002, an dem gegen das Recht auf Sterben entschieden wurde; oder den 27. September 2005, an dem Hunderte afrikanischer Flüchtlinge an Europas Grenzen stießen und starben. Aus diesen symbolträchtigen, guten wie bösen Tagen schält der Autor - ein brillanter Courseur und Kenner der europäischen Geistesgeschichte - deren moralisches Potenzial heraus. Denn: In Krisen zeigt sich seine Existenz oder sein Fehlen. Und am Umgang mit Krisen entscheidet sich, ob Europa eine lebenswerte Zukunft für die nach uns Geborenen bereithält oder ob diese in Fragen der Moral nur zwischen Übeln wählen können: »Ein moralisches Dilemma besteht, wenn wir nicht handeln können, ohne uns schämen zu müssen.«

Clemens Sedmak, Univ.-Prof. DDDr., Professor für Sozialethik am King's College London (F. D. Maurice Chair) und an der Universität Salzburg (F. M. Schmölz OP Lehrstuhl), ist Leiter des Zentrums für Ethik und Armutsforschung der Universität Salzburg sowie Präsident des ifz Salzburg. www.ifz-salzburg.at

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Leseprobe

Zum Geburtstag


Dieser Essay hat mit der Erstellung einer moralischen Landkarte zu tun, mit der Herausarbeitung von Bezugsgrößen, die eine moralische Orientierung ermöglichen. Denn die Frage „Worum geht es eigentlich?“ kann nicht getrennt werden von den Fragen „Wo stehen wir?“, „Woher kommen wir?“, „Wo wollen wir hin?“. Dabei zeichnet eine solche Vermessung stets eine Momentaufnahme, das „Schiff Europa“ bewegt sich immer weiter, auch wenn jede Momentaufnahme ebenso Dauerhaftes und länger Gültiges darstellt. Ich möchte vorschlagen, die moralische Vermessung Europas vom Bild einer Geburtstagsfeier her anzugehen. Eine Geburtstagsfeier ist keine zufällige Ansammlung von Menschen und auch nicht ein Ereignis, das der schieren Dynamik der Situation mit ihren Zufälligkeiten überlassen werden könnte. Ein Fest kann gelingen oder misslingen, ähnlich wie das europäische Projekt, das Gegenstand – und auch Bezugsgröße – der Feier ist.

Geburtstage und Gäste


Jürgen Habermas hat in einem berühmten Bild die Situation der Philosophie der Neuzeit mit einer Gerichtsverhandlung verglichen, die zum Zwecke der Verhandlung der Frage „Was ist gültige Erkenntnis?“ einberufen wurde. Ähnlich fruchtbar könnte es sein, die Frage nach der Identität Europas in den Rahmen einer Geburtstagsfeier zu stellen. Welche Gäste dürfen nicht fehlen? Welche Gäste sind Bezugsgrößen, die den Standort Europas bestimmen? Eine Geburtstagsfeier bringt eine Reihe von Gästen zusammen. Diese sind mit der Geschichte Europas verbunden, in manchen Fällen ist ihre Anwesenheit Ergebnis von Einladungen, die man nicht nicht aussprechen kann. Selbst wenn, um ein Beispiel nennen, eine Geburtstagsfeier ohne die Erinnerung an die Behandlung von Flüchtlingen in Europa dem Geist von Behaglichkeit und Selbstgefälligkeit zuträglicher sein könnte und der Blick das Drama der Migration überbordenden Partygeist dämpfen dürfte, ist die Berücksichtigung dieses für Europas Identität prägenden Geschehens unabdingbar. Eine Geburtstagsfeier sagt sehr viel über die Identität von jemandem aus, durchaus auch im diskursanalytisch interessanten Modus der Heuchelei oder der strategisch gewählten Lobrede.

Eine Geburtstagsfeier drückt Identität aus, hat also den Charakter des Ausdruckshandelns; eine Geburtstagsfeier stiftet Identität, weil Menschen zusammenkommen, die ihre Bindung an das Geburtstagskind zum Ausdruck bringen; eine Geburtstagsfeier festigt und verteidigt Identität, weil die Art der Feier über das, was jemand darstellen will, etwas aussagt. Ein Geburtstag ist ein Fest, das Identität vergewissert. Im Unterschied zum Szenario einer argumentationsgestützten Gerichtsverhandlung geht es bei einer Geburtstagsfeier um die Kraft der Zeugenschaft, mehr um das „Zeigen“ und weniger um das „Sagen“, mehr um das „Wie“ als um das „Was“, um Feier und nicht Diskurs, um Identität und weniger um Argument.

Die Geburtstagsgäste erinnern sich auch an den eigentlichen Anfang, den Geburtstag des „Celebrandum“, des zu Feiernden. Die Geburtsstunde Europas mag man in den Römischen Verträgen sehen, aber das nimmt der Geburtstagsfeier einen gewissen Zauber, den Zauber der vagen Idee, des erwartungsvollen und unklaren Begriffs, der tastenden Sehnsucht, der kühnen Initiative, die am Anfang gestanden haben muss. Ähnlich verhält es sich doch bei der Geburt eines Kindes. Wir mögen der Geburt durch nüchternen Kaiserschnitt gedenken, aber was hier gefeiert wird, ist eine geheimnisvolle Beziehung zwischen Menschen, die zueinander und zum Neuen, das aus dieser Anerkennung und Zuerkennung rührt, „Ja“ gesagt haben. Der Beginn neuen Lebens liegt vor dem Beginn der Schwangerschaft, der Beginn des Projekts Europa liegt vor der Unterzeichnung von Verträgen, ja vor der Vorstellung von Kontraktualisierung. Es liegt durchaus im Charme einer Geburtstagsfeier, an das Mysterium des Lebens zu rühren, das nicht restlos berechnet und vollständig kontrolliert werden kann. Es ist Aufgabe derjenigen, die das Projekt Europa feiern, an die nichtkontraktualistischen Anfänge, an die Kategorien „Traum“, „Hoffnung“, „Sehnsucht“, „Vision“ zu erinnern, die die Kraft gaben, den Weg hin zu den Verträgen in Angriff zu nehmen, Schritt für Schritt, getragen von einer wegweisenden und richtunggebenden Vision.

Der Schumanplan wurde am 9. Mai 1950 vorgestellt. Er ging auf eine Idee von Jean Monnet zurück, die französisch-deutsche Stahl- und Kohleproduktion unter eine gemeinsame Organisation zu stellen und sie für eine Beteiligung weiterer Staaten zu öffnen. Dieser Vorschlag war die Frucht eines Nachdenkens über die Zukunft Europas, näherhin über die Bewältigung der Gegebenheiten von Krieg und Nachkriegszeit, noch genauer über die Rolle, die Deutschland in Europa spielen sollte. Bereits 1924 hatte eine Gruppe rund um den französischen Nationalökonomen Charles Gide ein Komitee für eine Europäische Zollunion gegründet. Einerseits sollte damit eine Epoche transnationalen, europäischen Denkens eingeläutet werden, andererseits ging es um die Verbesserung der wirtschaftlichen Leistungen, was vor allem durch die zwei Jahre später erfolgte Gründung einer Internationalen Rohstahlgemeinschaft seinen Ausdruck fand. Weltwirtschaftskrise und Zweiter Weltkrieg verwandelten diesen Weg in eine Sackgasse - die allerdings nach Letzterem wieder geöffnet wurde. 1947 wurde die Bewegung für eine Europäische Einheit ins Leben gerufen, entscheidend mitgetragen durch Churchills Überzeugungen und Engagement. Im Mai 1949 wurde in Strassburg der Europarat gegründet, der im November des darauf folgenden Jahres die Europäische Konvention für Menschenrechte verabschiedete. Zuvor hatten mit Jahresbeginn 1948 die Beneluxstaaten eine Zollunion realisiert, die allerdings erst nach erfolgter Antwort auf die brennende Frage nach der Rolle Deutschlands in Europa und den französisch-deutschen Beziehungen zu einem Motor für einen europäischen Transformationsprozess werden konnte. Der Schumanplan stellt eine solche Antwort in Aussicht. Deutschland wurde als gleichwertiges Mitglied der Staatengemeinschaft behandelt und Teil eines internationalen Verbandes, der die Zukunft Europas prägen sollte. Im April 1951 wurde in Paris von sechs Staaten die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl gegründet. Großbritannien, gestützt durch angloamerikanische Zusammenarbeit und das Netz des Commonwealth, übte gegenüber dieser Dynamik eines europäischen Projekts noble Zurückhaltung, was eine französische Prägung der europäischen Institutionen zur Folge hatte. Dass Paris zum intellektuellen Zentrum der Nachkriegsjahre wurde, verstärkte zudem den französischen Einfluss. Dazu kam die für viele schmerzhafte Entkolonialisierung, die ein verstärktes Interesse am europäischen Raum mit sich brachte. Subtile Dynamiken von Exklusion und Inklusion, Allianzenbildung und Bündnisformung zeichneten sich ab, nachdem die europäische Transformation die Einteilung von „Siegerstaaten“ und „Kriegsverlierern“ de facto aufgehoben hatte. Gleichzeitig wurde jedoch die Zäsur zwischen Westeuropa und Osteuropa verstärkt und ein ungleichzeitiges und zweigleisiges Europa geschaffen.

Die Vorgeschichte zur Geburt1 ist ein vielschichtiges Konzil, das mit Stimmen von Hoffnung und Aufbruch, Ernüchterung und Fokussierung, Gestaltungswillen und Sorge, Misstrauen und Vorsicht, Kontrollabsicht und Regenerierungssehnsucht den Lärm des Krieges und die Wunde des Schweigens übertönen wollte. Hier stellen sich die Fragen: Was gab die Kraft für dieses schwierige Unterfangen? Woraus schöpften diejenigen, die das Projekt Europa verfolgten, ihr Durchhaltevermögen? Auf welche moralischen Ressourcen wurde hier zurückgegriffen? Es soll nicht verhehlt werden, dass neben wirtschaftlichen Überlegungen auch ein Hintergrund christlich-demokratischer Politik, verkörpert durch Alcide De Gasperi, Konrad Adenauer und Robert Schuman eine Rolle gespielt haben dürfte. Es ging um die Identität Deutschlands, um das Selbstbewusstsein eines von zwei Weltkriegen gedemütigten und gespaltenen Europa, um die Frage nach den nationalen wie transnationalen Zielen, die die Wahl von Mitteln anleiten sollten.

Es soll auch nicht verschwiegen werden, dass der mit den Römischen Verträgen angesetzte Beginn einer europäischen Transformation keine leichte Geburt war. Nach der Gründung der Europäischen Gemeinschaft von Kohle und Stahl war die Dynamik eines europäischen Kooperationsprojektes erlahmt. Es blieb den Beneluxstaaten vorbehalten, hier einen – wirtschaftlich motivierten – Neuanfang zu setzen. Der Hinweis, dass kleine Staaten zu diesem Zeitpunkt den bremsenden Ballast von Stolz und Sorge um Souveränitätseinbußen nicht im selben Maße zu tragen hatten wie die größeren Gebilde, mag vielleicht den Charakter einer Lektion haben. Die Konferenz von Messina 1955 brachte jedenfalls die sechs EGKS-Staaten und einen...

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